2: Drohende Angst und rascher Aufbruch

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„Sollen wir hin?", fragte Ian in die Runde und horchte aufmerksam nach draußen.

Raphael hatte den Pickup am Straßenrand abgestellt, nachdem wir einige Schüsse an dem Wald gehört hatten. Jetzt blieb es still. Keine Blaulichter auf den Straßen, die den Asphalt färbten und auch keine weiteren Sirenen oder Durchsagen. Nichts. Denn die Jäger wollten unerkannt jagen, waren sicher schon unterwegs sein und hatten scheinbar Sichtkontakt mit einem Werwolf gehabt. Warum hätten sie auch sonst schießen sollen? Ich erschauderte und krallte mich in das rissige Polster des Autositzes.

„Nein, wir können uns nicht in Gefahr bringen", wand Raphael ein. „Wir bleiben hier."

„Und wenn es Mutter und Vater sind?", gab Ian zu bedenken. „Falls die Jäger uns auf die Schliche gekommen sind? Unser Geheimnis kennen? Dann müssen wir ihnen helfen."

„Nein!", wurde Raphael deutlicher und kratzte sich am Hinterkopf. „Mutter und Vater würden nicht wollen, dass wir uns auch in Gefahr bringen. Also bleibt es dabei. Wir warten."

„Auf was?", mischte ich mich nun ein und sie schauten mich beide verblüfft an. „Sollten die Menschen herausgefunden haben, was wir sind, wartet ein Jägertrupp sicher schon vor unserer Haustür. Also auf was warten wir? Wir können nicht nach Hause und nicht in den Wald. Wohin dann?"

Darauf hatten auch meine Brüder keine passende Antwort. Stille breitete sich aus, lag schwer auf uns allen und drohte uns zu erdrücken. Wir mussten vom Schlimmsten ausgehen, das mussten wir immer. Unser Leben bestand seit Jahren aus Flucht und Verstecken. Doch hier sollten wir endlich halbwegs sicher sein. Hier in der Abgeschiedenheit sollten wir Kinder eine Zukunft haben und unentdeckt unter den Menschen leben können. Wie hatten sie uns gefunden? Oder hatten sie uns gar nicht gefunden.

„Wir warten", wiederholte sich Raphael und legte seinen Arm um mich. Er schaute auf sein Handy, das hier im Nirgendwo wie immer keinen Empfang hatte. Eine Tatsache, die einerseits wichtig für uns war, andererseits in einem Moment wie diesen leider auch hinderlich. „Wen auch immer sie jagen, es wird sicher bald vorbei sein. Danach sehen wir weiter", versicherte er uns und senkte den Blick.

Weitere Schüsse hallten aus dem Norden. Fernab von unserem Zuhause, aber selbst nach drei Stunden weigerte sich Raphael noch immer, uns nach Hause zu fahren. Er als Ältester und Stärkster hatte bei uns zwar das Sagen, sobald unsere Eltern nicht anwesend waren, aber er nahm seine Aufgabe zu ernst. Ian und ich spürten seine Anspannung. Es ging ihm ganz ähnlich wie uns. Auch er fürchtete um unsere Eltern, aber er musste stark bleiben. Nur für uns blieb er stark und eisern in seiner Entscheidung.

Als es zu dämmern begann und seit einer Stunde keine Schüsse mehr gefallen waren, ließ er den Motor endlich wieder an. Er fuhr langsam die Straße entlang, die zu unserem Haus führte. Ich atmete hörbar aus und sackte zusammen. War es vorbei? Konnten wir nach Hause?

Mein Bruder parkte weitab vom Haus, stellte den Pickup zwischen einigen breitgewachsenen Büschen ab. Sicher war sicher und wir durften kein Risiko eingehen. Meine Füße berührten den Boden recht zaghaft, dennoch knackten die dünnen Äste unter dem Laubteppich laut genug, dass ich den linken Fuß zurückzog. Raphael und Ian liefen bereits zum Kiesweg, der nach einigen Metern zum Haus führte. Ich folgte geduckt, die Arme um meinen Körper geschlungen und mit noch immer rasenden Herzen.

Plötzlich ein Rascheln schräg hinter mir. Ich quiekte auf und sprang voran, bekam Ians Lederjacke zu packen und riss ihn beinahe um. Der Älteste von uns schob sich blitzschnell zwischen uns und das Geräusch. Das Rascheln wurde lauter und nun spürten wir, wie der Boden bei jedem Schritt des Wesens, das da auf uns zukam, bebte. Es musste etwas Großes sein, schoss es mir durch den Kopf und gleichzeitig tauchte dieses Etwas aus dem Gestrüpp aus.

between FangsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt