Kontrollverlust

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Ich sah zu Niklas, doch sein, für mich undeutbarer, Blick war an die Tür geheftet.
Percy öffnete langsam die Abteiltür und die Atmosphäre in unserem Abteil schlug von einer heiteren Stimmung zu bedrückten Schweigen um.

Der Blondschopf hielt seinen Blick gesenkt, doch selbst jetzt erkannte ich die tiefen Ringe unter seinen Augen. Er sah ziemlich krank aus.
Nach einigen Momenten des Schweigens hob er seinen Blick und schaute mir direkt in die Augen. "Anny" Ich schluckte schwer.

Auf der einen Seite, weil ich diesen Spitznamen noch nie gehört hatte und auf der anderen Seite, aufgrund seiner Stimme. Sie war dünn, kratzig, als hätte er sie schon lange nicht mehr benutzt, und klang schwach.
Er trat einen Schritt auf mich zu und streckte seine Hand nach meiner aus.

Ich wusste nicht was ich tun sollte. Er hatte uns über Wochen ignoriert und links liegen lassen, aber auf der anderen Seite brach es mir das Herz, ihn so zu sehen. Ich wollte wissen, was passiert war, das ihn so aus der Bahn geworfen hatte.

Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, schoss Niklas neben mir von seinem Sitz hoch und stellte sich vor mich. Seine Nasenflügel bebten.
"Wag es nicht, sie anzufassen", knurrte er bedrohlich leise.
"Niklas was-", setzte ich an, doch er unterbrach mich und ohne sich umzudrehen sagte er kalt: "Nein, Joe, ich lasse nicht zu, dass er dich erst verletzt und jetzt den liebevollen und kümmernden besten Freund spielt."

Er trat einen Schritt auf den Blonden zu, welcher allerdings seinen Blick immer noch auf mir liegen hatte.
Seine Augen waren genauso glanzlos, wie in der Winkelgasse, dennoch sah ich ein leichtes Funkeln in ihnen, welches ich mir allerdings auch nur eingebildet haben könnte.

"Was willst du hier noch", flüsterte Niklas. In seiner Stimme schwang eine Wut mit, die ich bei ihm noch nie gehört, geschweige denn gesehen hatte.
Nun wandte Percy den Blick von mir ab und schaute dem Brünetten direkt ins Gesicht.
"Was ist dein Problem?", fragte er leise. Der falsche Satz, wie Percy bald erfahren sollte.

"MEIN PROBLEM? IST DAS DEIN SCHEIß ERNST? DU-"
"ES REICHT NIKLAS" schrie ich und Schnitt ihm das Wort ab.
Er wandte seinen Blick von Percy ab und drehte sich langsam zu mir. Niklas sah mich verwirrt und verletzt an und fuhr dann mit flüsternder Stimme fort: "Ich will nicht, dass er dich noch einmal verletzt..."

"Ich wollte nie jemanden verletzen, dass war nicht so geplant. Und schon gar nicht euch." Percy blickte wieder zu mir. "Schon gar nicht dich...", rechtfertigte er sich fast unhörbar.
Jetzt reichte es Niklas anscheinend, er holte mit der rechten Hand aus und schlug dem Blondschopf mit all seiner Wut, seiner Enttäuschung und seiner Trauer ins Gesicht.

Percy wurde von der Wucht gegen die Tür geschleudert. Ich hörte mich selber ein "NEIN!" schreien und sprang im letzten Moment zwischen den halb am Boden liegenden, blutenden Percy und Niklas, welcher gerade erneut ausholen wollte.
Er hielt seine Hand weiterhin oben und schrie: "ACH NEIN? DAS WAR NICHT GEPLANT? WAS WAR DENN GEPLANT, VERDAMMT NOCHMAL?"

Tränen traten in meine Augen. Es war für mich in diesem Moment einfach herzzerreißend. Mein einer bester Freund liegt gerade blutend und sowieso schon geschwächt am Boden, weil mein anderer bester Freund sich nicht mehr unter Kontrolle halten konnte.
"Verdammt Niklas, es reicht!" schrie ich, während mir Tränen die Wangen hinunterrannen.

"Du willst nicht, dass er mich verletzt? Was tust du denn gerade?" Zum Ende hin brach meine Stimme und ein ungewolltes Schluchzen entwich mir.
Anscheinend war Niklas nach meinen Worten endlich aus seiner Art Wuttrance erwacht, denn plötzlich riss er seine Augen weit auf und schaute zwischen meinem Gesicht, dem am Boden liegenden Percy und seiner eigenen, noch geballten Faust hin und her.

"Nein. Bitte nicht. Nicht schon wieder", hörte ich ihn noch flüstern, bevor er erst einen Schritt zurücktaumelte und dann mit zwei Schritten wieder neben mich trat und vor Percy auf die Knie sank. Ich erkannte Tränen in Niklas' Augen schimmern.
"Percy, ich..." seine Stimme brach.

Percy reagierte nicht auf seine Worte, er stützte sich an der Tür mit schmerzverzogenem Gesicht nach oben und hielt seinen Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
Aus dieser Situation heraus konnte ich nun das Ausmaß des Schlages erkennen.
Percys Nase blutete und er wird wahrscheinlich ein blaues Auge davon tragen.

Ich trat einen Schritt vor und streckte meine Hand nach ihm aus. Er jedoch schüttelte nur mit dem Kopf und meinte leise: "Nein, er hat Recht, mit allem. Ich hab das verdient."
Percy schaute mich noch einmal aus seinen getrübten Augen an, bevor er nach der Abteiltür griff und in den Gang verschwand.

Ich stand noch immer mit Tränen in den Augen da und auch Niklas hockte noch, in sich zusammengesunken, am Boden.
Seine Schultern ließ er hängen und ich hörte, dass er leise gegen die Tränen ankämpfte. Aus meiner Starre gelöst, hockte ich mich neben ihn und legte eine Hand auf seinen Rücken.

"Niklas." Er zuckte zusammen, als ich seinen Namen flüsterte. Aus geröteten Augen antwortete er nur: "Es tut mir Leid, alles so leid. Ich wollte das doch nicht! Ich habe einfach die Kontrolle über mich verloren. Ich-ich..."
Doch er stockte und konnte nun seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Inzwischen saßen wir mehr oder weniger auf dem Boden und ich zog ihn in eine Umarmung. Er legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab und schluchzte schmerzerfüllt in meinen Pullover.

In diesem Moment wünschte ich mir, nicht zum ersten Mal, einfach die Zeit zurück spulen zu können, wenigstens nur zehn Minuten, dann wäre das alles vielleicht nicht so ausgeartet.
Percy war auf uns zugekommen und wollte sich entschuldigen und Niklas? Was hat ihn denn so zum ausrasten gebracht und was bei Merlins Bart meinte er mit: "Nicht schon wieder..."

Meine Gedanken behielt ich jedoch für mich. Ich konnte es Niklas nicht zumuten, jetzt noch so etwas von mir zu hören. Ja, er hatte übereilt und falsch gehandelt aber er bereute es offensichtlicher weise. Ich wollte einfach keinen von den beiden Jungs, die mir so am Herzen lagen, am Boden zerstört sehen, wie es beide im Moment waren. Nicht nach allem, was ich den beiden zu verdanken hatte.


Wir saßen eine ganze Weile schweigend dort auf dem Boden. Als die Sonne schon fast den Horizont berührte, hob Niklas seinen Kopf von meiner Schulter. Unserer beider Tränen waren schon vor einiger Zeit getrocknet und ohne es mitzukriegen, saßen wir anscheinend mehrere Stunden einfach in Gedanken aneinander gelehnt da.

Als es Zeit wurde, zogen wir uns beide schweigend um. Dieser Tag hatte doch so gut begonnen, dachte ich bitter.
Kurze Zeit später kam das gigantische Schloss auch schon in Sicht und bald darauf waren wir an der frischen Nachtluft.

Ich schaute Niklas von der Seite an und auch er warf mir in dem Moment einen Seitenblick zu. Das Erschreckendste an dem allen war allerdings, das erkannte ich in diesem Moment, dass in unserer Freundschaft, in unserem Leben, gerade etwas zerbrochen ist, was niemand von uns dreien rückgängig machen kann, doch für all die anderen war es so, als wäre nichts geschehen, als hätte sich nichts verändert.

You're not alone! (Remus Lupin)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt