Kapitel 7

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-Rylin-

Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf das Boot und wärmten Rylins Haut, die durch die regenfeute Kleindung ganz kalt geworden war. Für sie erschien es der richtige Zeitpunkt zu sein, um sich aus dem halbschlafähnlichem Zustand  zu lösen. Schließlich konnte sie nicht einschlafen, weil das Boot andauernd wankte und der Wind in ihr Gesicht peitschte.

Sie richtete sich auf und ihre Augen richteten sich sofort auf den Jungen am anderen Ende des Bootes. Das war ganz ungewollt gewesen. Natürlich lag dort Jack, der augenscheinlich überhaupt keine Schwierigkeiten mit dem Einschlafen gehabt hatte, trotz der erschwerten Bedingungen. Aber ebenso ungewollt erschien ihr plötzlich ein ganz anderes Bild. Denn der Junge war auf einmal ein ganz anderer, genauso wie der Ort.
Nun lag Gale auf ihrer Wiese. Seine wilden, dunkelbraunen Haare waren zerzauster als sonst. Die kastanienbraunen Augen öffneten sich und sein typisches Gale-Lächeln trat in Erscheinung. Genauso ungewollt schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.

"Was lächelst du mich so an?",fragte Jack schelmisch. Schlagartig war der Tagtraum vorbei und ihr Lächeln verflog so schnell wie es gekommen war. "Ach, ich hab' mir bloß vorgestellt, wie schön es wäre, wenn du nicht hier wärst",rettete sich Rylin schnell. "Ja, natürlich, das hätte jetzt auch gesagt",antwortete er und suchte nach Blickkontakt. Den gewährte Rylin ihm aber nicht und schaute stattdessen auf die scheinbare unendliche Weite des Meeres.

Jack ist nicht Gale, redete sie sich ein. Er war nicht der Typ, der ihr Herz gebrochen hat. Er war nicht der Typ, den sie nie wieder sehen wollte. Er ist aber auch ein Typ von dieser Sorte Jungs. Und diese Sorte von Jungs sollte man aus seinen Gedanken streichen. Diese Sorte von Jungs sorgt nur dafür, dass man nie wieder lieben will.

Also, sie sollte an etwas anderes denken. Aber es gab nichts an das sie hätte denken können. Es gab nichts in ihren Leben, das ihm einen Sinn gab. Wenn sie sich es recht überlegte, wäre sie jetzt doch lieber wieder im Feuer. Ihre Gedanken würden sich einfach in Luft auflösen, genauso wie ihr Körper. Alles würde sich auflösen, was sie auf dieser ungerechten, lieblosen Welt hält.

Sie dachte an das Taschenmesser in ihrer Tasche. Sollte sie es einfach hinter sich bringen?

Nein, sie würde Jack nicht zeigen, wie schwach sie war. Wenn sie das Leben bisher ausgehalten hat, kann sie es auch noch aushalten bis sie alleine war.

"Tja, sieht wohl so aus, als müssten wir es noch eine Weile auf diesem Boot aushalten",meinte Jack und steckte sein Handy weg. Als er von Rylin, die immernoch stur auf das Meer blickte, keine Antwort erhielt, fügte er noch hinzu: "Weißt du, wenn wir uns weiter anschweigen, wird das sich hier ewig ziehen."
Sie antwortete erneut nicht.

"Wie wär's, wenn ich dir eine Geschichte erzähle, und dann kannst du - natürlich nur, wenn du willst - auch eine erzählen, okay?"
Er räusperte sich.
"Also, es war einmal ein Junge, der alles daran gesetzt hatte, ein Pirat zu werden. Jedes Halloween und Fasching hat er sich so immer verkleidet, nur hatte er die Verkleidung jedes Jahr ein wenig mehr perfektioniert. Vor allem hatte er immer die Sachen von seinem großem Bruder geborgt und nie zurückgegeben, was dieser überhaupt nicht gut fand. Er wollte einfach einmal mit den alten Piratenschiffen spielen, die sein Vater innerhalb seines Jobs manchmal aus dem Meer fischte. Manche seiner Mitschüler hielten ihn für seltsam, weil er sich selbst als Teenager noch verkleidete. Doch er selbst bereute keinen Tag mehr, als den, an dem er den anderen nachgegeben hatte und seinen Traum aufgegeben hatte."

Jack machte eine Pause und schaute das Tatoo auf seinem Unterarm - es war ein schwarzes Steuerrad - gedankenverloren an. Scheinbar hat er mehr erzählt, als er eigentlich geplant hatte preiszugeben und wollte jetzt kein Wort mehr herausbringen. Oder er überlegte, ob er noch mehr erzählen sollte. Aber statt sich für eine der beiden Optionen zu entscheiden, murmelte er einfach noch einen Satz: "Ab und zu wünschte er es sich immer noch, aber redete es sich selber aus, weil er es inzwischen auch für zu kindisch hielt und hat es deswegen noch nie jemandem so erzählt."

Stille.

Und Rylin fing an zu lachen. Nicht wegen einer bestimmten Sache, sondern weil die ganze Situation so komisch war: Ein inzwischen erwachsenes Rich Kid hatte den kindlichen Traum ein Pirat zu werden, obwohl es die Piraten aus den Filmen schon lange nicht mehr gab und sie bestimmt nicht zurückkommen würden, und präsentierte ihn ihr als tiefstes Geheimnis. Außerdem versuchte er etwas wie eine emotionale Bindung zu ihr, Rylin, einer Soziopathin, die seit Gale keine positiven Gefühle mehr verspürt hatte und noch nie wirklich gut mit Menschen konnte, aufzubauen.

"Du denkst wohl, du bist Jack Sparrow, nur weil ihr euch denselben Vornamen teilt",sagte Rylin und lachte dann weiter. Für einen kurzen Moment starrte Jack sie verdutzt an, doch dann musste er auch schmunzeln. Wahrscheinlich lag das nicht an dem Witz, sondern daran dass er Rylins echtes Lachen gehört hat. Er hat es noch nie zuvor gehört. "Wann habe ich denn gesagt, dass ich der Junge mit dem Traum bin?" Rylin beantwortete die Frage mit einem Augenrollen. "Weißt du, wenn du dich schon über mich lustig machst, kannst du auch eine Geschichte erzählen, über die ich mich lustig machen kann." Er hatte recht. Das wäre wohl nur gerecht. Als würde das die Situation weniger komisch machen.

"Okay",stimmte sie zu und atmete tief durch.  Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, bis... sie aufhörte sich etwas ausdenken zu wollen und einfach wirklich aus ihrer Erinnerung erzählte.

"Stell dir vor, dein Leben läuft perfekt. Du bist zwar noch recht jung, aber du weißt, dass du die Liebe deines Lebens schon gefunden hast. Nichts bereitet dir Sorgen, weder deine Familie, noch die Schule, noch deine Beziehung. Natürlich denkst du, besser gesagt, du hoffst, dass es so weiter geht. Aber das Leben ist nicht fair. Früher oder später nimmt es dir alles, von dem du gedacht  hast, dass niemand es dir je wegnehmen könnte."

Die dramatische Pause sorgte für den Nachdruck ihrer Aussage. Sie weigerte sich weiter zu erzählen, weil sie gerade die fröhliche Stimmung zerstört hatte, sowie sie alles immer zerstörte. Eine Träne lief über ihre Wange. Schnell drehte sie sich weg und wischte sie weg. Sie wollte doch ihre Stärke zeigen und nicht ihre Schwächen offenbaren. Als könnte die Stille sie aus dieser Situation befreien, schaute sie wieder stumm aufs Meer.
Plötzlich wurden ihre kalten Hände von einer warmen, fast schon heißen berührt. Ihr Blick fiel zurück auf Jack. "Ich möchte die Geschichte zu Ende hören",sagte er einfühlsam.

Stärke zeigen, redete sie sich ein. Also schluckte sie den Schmerz herunter und brachte sie gepresst hervor:"Ein Autounfall. Nichts Verheerendes, bloß eine leichte Gehirnerschütterung. Doch was bei der Untersuchung gefunden wurde. Eine geplatzte Hirnaterie. Dein Leben könnte jeden Tag vorbei sein. Und auf einmal reicht dir dein ehemalig perfektes Leben nicht mehr. Du willst mehr, mehr erleben, dein kurzes Leben lebenswerter machen. Du machst gefährliche Tätigkeiten, nimmst die verschiedensten Sachen, nur um alles erlebt zu haben. Du schmeißt die Schule hin, hälst sie bloß für Zeitverschwendung und gibst deine Zukunft auf. Du trennst dich von deinem geliebtem Menschen, weil du mehr als seine Liebe willst und nicht willst, dass er irgendwann, wenn du nicht mehr da bist, auf sich allein gestellt ist. Allgemein lebst du jeden Tag, als wäre es dein letzter."

"Ich wusste nicht, dass du krank bist",antworte Jack darauf nur mit glasigen Augen. "Ich habe auch nicht gesagt, dass es meine Geschichte ist",meinte sie kühl.
Es war auch nicht ihre Geschichte. Es war Gales.

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