Kapitel 22

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-Aves-

Aves hatte heute drei Freunde verloren: Ashton, Abigail und auch Camberlynne war für sie jetzt komplett gestorben. Sie waren zwar schon lange keine Freunde mehr gewesen, aber sie konnten immer noch miteinander auskommen - das schien nun unmöglich für Aves. Sollte Luke doch verbluten, dann wüsste sie, wie sich dieser Schmerz des Verlustes anfühlte. Wen hatte Camberlynne denn jemals verloren? Charlie würde das schon irgendwie überlebt haben und Luke würde es doch bestimmt auch schaffen. Doch Ashton, Abigail und... ihre Mutter waren tot. Sie würden nie wieder kommen. Camberlynne hätte darauf mal wenigstens ein bisschen Rücksicht nehmen können.

Die Gruppe hatte sich inzwischen unter Deck versammelt. Luke war immer noch bewusstlos, aber sein Gesundheitszustand wurde wieder stabilisiert. Keine Lebensgefahr mehr, wie Aves es vohergesehen hatte. War es moralisch richtig, dass sie sich nicht darüber freute?

"Also Leute, damit sich das nicht wiederholt, was da oben passiert ist, sollten wir lieber alle hier unten bleiben. Wenn wir die Luke zumachen, sind wir fürs Erste vor Drohenangriffen sicher." Matthew, der scheinbar jetzt die Führung übernommen hatte, schaffte es wirklich die anderen zu beruhigen.

Alle außer Aves. Sie war sich sicher, dass hier niemand irgendwo sicher war. Jedoch hielt sie es für unklug, die anderen in Panik zu versetzen. Sollten sie sich doch hier verstecken im Glauben, dass sie diese dünnen Holzwände beschützen würden.

Aber Aves wollte das nicht mehr. Sie wollte nicht wie ein Tier eingesperrt sein und hoffungslos auf ihre Schlachtung warten. Derjenige, der Ashton und Abigail auf dem Gewissen hatte, würde bestimmt nicht eher Halt machen bis er sie alle umgebracht hatte. Es würde niemand kommen, der sie retten würde. Wahrscheinlich sind die anderen, die auf dem Kreuzfahrtschiff waren, also auch Jack und Rylin, ebenfalls schon tot. Und wie sie Jack kannte, hatte er niemandem genau gesagt, welche Strecke sie fuhren. Es würde bestenfalls Wochen dauern bis man sie fand. Also besser gesagt, bis man ihre Leichen fand.

Deswegen müssten sie sich selbst retten.
"Sorry Matthew, aber ich werde mich nicht daran halten. Ihr könnt ruhig hier bleiben, doch ich kann hier nicht tatenlos herumsitzen." Nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, verließ sie auch schon die anderen und begab sich nach oben.
"Bleib nicht zu lange, es wird bald dunkel", hörte sie Matthew noch rufen, bevor sie die Luke von oben schloss.

Eigentlich dachte sie, die anderen würden sie jetzt allein lassen. Oder wenigstens, dass diese Person sie allein lassen würde. Aber natürlich nicht. Warum überraschte sie das eigentlich noch?

"Ich brauch' dein Mitleid nicht",meinte sie mürrisch zu Camberlynne, die ihr einfach gefolgt war. Aves starrte auf ihr Spiegelbild im Wasser. Ihre Haare waren etwas zerzaust, ihr Make-up etwas verwischt und ihr Kleid etwas kaputt, aber im Großen und Ganzen sah sie immer noch das gleiche Mädchen wie vor ein paar Tagen im Spiegel. Und trotzdem fühlte sie sich überhaupt nicht mehr wie das naive Kind, das sie vor ein paar Tagen noch gewesen war. Als wäre sie plötzlich von einem auf den anderen Tag erwachsen geworden.

Camberlynne erschien neben ihr im Spiegelbild.
"Was ist nur aus uns geworden, Aves?",stellte sie die Frage, die sich Aves auch gerade gestellt hatte. "Eine Mörderin und jemand, der zurecht deswegen sauer ist." Aves blickte zu ihr auf. Sie hatte nicht erwartet, so etwas von Camberlynne zu hören. Als sie etwas erwidern wollte, fuhr Camberlynne schon fort: "Wo sind die sorglosen Mädchen geblieben, die an Liebe auf den ersten Blick glaubten und die immer davon überzeugt waren, dass jeder Gutes in sich trägt?"

Ja, wo waren sie hin? Moment mal, das ist doch gerade bestimmt nur so eine Tatik von Camberlynne, damit sie ihr vergab. Sie war immer noch eine Mörderin, die Möderin ihrer Freunde.

"Tot",antwortete Aves, während sie ins Leere starrte. "Genauso tot wie Ashton und Abigail. Genauso tot wie unsere Freundschaft."
"Aber warum, Aves? Warum?",hakte Camberlynne nach.
"Du willst wissen warum?" Aves lachte höhnisch. "Du hast mich nie verstanden. Nicht einmal jetzt tust du es."
"Ich war für dich da gewesen",sagte Camberlynne und schaute direkt in ihre Augen. "Ich wäre immer für dich da gewesen. Warum war dir das nicht genug?"

Aves wich der Frage aus. "Was willst du mit diesem Gespräch eigentlich erreichen? Dass ich nicht mehr sauer auf dich bin? Dass ich dir vergebe? Dass alles wieder so wie früher wird?"
"Das erwarte ich nicht von dir. Wir müssen nur..."
"Gut, dass du das nicht erwartest",fiel Aves ihr ins Wort. "So etwas könntest du auch nicht bei mir erreichen. Und ein Wir gibt es auch nicht mehr. Denn du wirst jetzt nämlich wieder zu den anderen gehen und mich die Angelegenheiten regeln lassen. Alleine."

Camberlynne schnappte tief Luft. "Aves, merkst du denn gar nicht, dass es das ist, was der Spielemacher erreichen möchte?"
"Der Spielemacher?"
"Du weißt, wen ich meine. Der, der das alles hier leitet."

Und auf einmal hatte Camberlynne Aves' Aufmerksamkeit. Diesmal ließ sie sie ausreden und hörte ihr wirklich zu, als sie weiterredete: "Ich bin nicht dein Feind, Aves. Der Spielemacher ist es. Nur wenn wir zusammenhalten haben wir die Chance, ihn zu überlisten und hier lebend und ohne weitere Verluste hier rauszukommen. Also was sagst du?" Camberlynne steckte ihr die Hand entgegen. "Wie in alten Zeiten?"
"Na gut." Aves schüttelte ihre Hand. "Aber ich hoffe, dass du schon einen guten Plan hast."

"Ich arbeite dran",entgegnete Camberlynne. "Doch jetzt sollten wir erstmal zurück zu den anderen gehen. Je mehr wir sind, desto besser können wir uns verteidigen." Dieser Gedanke gefiel Aves. Sie alle sechs gegen einen. Dieser Kampf war nicht unmöglich. Dank Camberlynne wusste sie das nun.

Unten war es schon Schlafenszeit. Die beiden legten sich in leere Betten und schliefen auch bald ein. Aves konnte endlich mal wieder tief schlafen. Was auch gut war, wenn man bedachte, was am Tag darauf geschah.

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