-Charlie-
Einige Stunden waren vergangen. In der Zeit hatten die beiden noch recht viele Wörter mit vier Buchstaben ausprobiert und einige vierstellige Zahlenkombinationen, natürlich erfolglos und danach waren sie noch spazieren gegangen. Sie redeten über alles mögliche. Obwohl Charlie eigentlich auf Gale hätte sauer sein sollen, schließlich war es seine Schuld, dass er so lange keine Ahnung hatte, was mit seiner Mutter war, redeten, scherzten sie miteinander und zogen einander auf. Man konnte einfach nicht wütend auf Gale sein. Außerdem konnte er ja nichts dafür. Charlie kam es vor, als würden sie sich schon ewig kennen. Denn sie hatten dieselben Wurzeln. Wenn er gewusst hätte, dass er so einen coolen Bruder hatte und er mit ihm aufgewachsen wäre, wäre seine Kindheit wahrscheinlich schöner gewesen. Vermutlich galt das auch für Gales Kindheit.
Nach einer langen Sprechpause, meinte Gale: "Normalerweise würde ich um diese Zeit jagen gehen." Nachdem er aber den Ausdruck in Charlies Gesicht gesehen hatte, fügte er hinzu: "Ich wollte dich eigentlich mitnehmen, aber scheinbar willst du nicht. Du kannst ja, wenn du willst, in der Zwischenzeit schon Beeren pflücken. Am besten die hier, auf keinen Fall solche." Er deutete auf die entsprechenden Beeren. "Bis später!"
"Bis später!",verabschiedete sich auch Charlie. Gale war bereits nach wenigen Sekunden zwischen den Bäumen verschwunden, deswegen machte sich Charlie gleich an die Arbeit. Gut, dass Gale ihn nicht mitnahm, er hasste es nämlich, Tiere sterben zu sehen. Also pflückte er die Beere, auf die Gale gerade gezeigt hatte. Weitere folgten, die Charlie auch sorgfältig mit der ersten Beere verglich. Nach ungefähr zehn wurde ihm das aber zu dumm und er verließ sich mehr auf seinen Instinkt. Das machte Luke doch auch immer, wenn er eine Entscheidung treffen musste. Er tat immer das, was ihm sein Herz sagte, darum beneidete er ihn manchmal.
Nach einer Weile wurde Charlie vom Pflücken ziemlich hungrig. Eigentlich wollte er mit dem Essen auf Gale warten, aber er schien schon eine Ewigkeit weg zu sein und sein Hungergefühl wurde immer stärker. Eine Beere mehr oder weniger würde doch nicht auffallen...
"Die würde ich nicht essen." Charlie ließ seiner Hand, die die Beere hielt, wieder sinken. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer gerade mit ihm sprach. Wie könnte er diese Stimme vergessen.
"Na sieh mal an, wer wieder da ist",meinte Charlie, ließ sich aber nicht von seiner Arbeit ablenken. "Du bist nicht echt und ich nicht verrückt, also verschwinde",fügte er leichthin hinzu.
"Charlie, schau mich an",flehte sein Vater. Das was Charlie gerade gesagt hat, schien ihn ganz schön getroffen zu haben, denn er klang ziemlich anders als sonst. Nicht fordernd, sondern schwach, emotional und wahrscheinlich betrunken. Deswegen wandte sich Charlie auch um. Er sah auch so mitgenommen aus wie er sprach. Seine Augen wirkten leer, seine Haut blass und seine Kleidung als wäre sie Wochen nicht gewechselt worden. So schlimm sah er noch nie aus.
"Ich wollte nicht, dass du das mit deiner Mutter so erfahren musstest",erwiderte er auf Charlies Schweigen. "Als wir dich gekriegt haben, hatte ich keine Ahnung, dass sie schon ein Kind mit einem anderen hatte. Erst als ich sie verloren hatte, fand ich heraus, was passiert war. Sie ist einfach zu ihrem Ex zurückgekehrt. Statt ihrer großen Liebe, war ich für sie nur eine Abwechselung. Ich konnte dir es nicht erzählen. Du solltest lieber mich hassen als deine Mutter."
Eine Träne lief über seine Wange. Hatte er seinen Vater schon jemals weinen gesehen? "Ich dachte, du findest, dass Gefühle bloß eine Schwäche sind",brachte Charlie nur hervor. Inzwischen blendete er fast aus, dass es nur eine Einbildung war. Es fühlte sich alles so echt an.
"Früher dachte ich das auch. Ich hab' mein Herz verschlossen, nachdem deine Mutter es gebrochen hatte. Aber das war falsch. Ich bereue nichts, was ich gefühlt habe. Schließlich führte es zu deiner Geburt. Du kannst dich glücklich schätzen, dass deine wahre Liebe dich nie verlassen wird, egal, wie hart die Zeiten werden."
Die Mundwinkel seines Vaters zogen sich automatisch bei diesem Satz nach oben.
Wen meinte sein Vater, beziehungsweise er selbst...?"Lass dir von niemandem vorschreiben, wenn du lieben sollst, Charlie. Beachte nicht die Meinung anderer Leute, inklusive meiner Meinung. Du musst glücklich sein, das ist alles, das zählt."
Und plötzlich öffneten sich Charlies Augen. Er wusste, von wem sein Vater sprach. Derjenige, über den er die ganze Zeit geredez hatte. Das, was er sich nicht selber einstehen wollte. Er liebte diese Person zwar, und das schon ganz schön lange, aber verbot es sich selber, weil er dachte, dass es falsch sei. Das war es jedoch nicht. Ganz im Gegenteil.
Charlie hatte nur einen Moment nach unten geschaut, aber als er wieder aufblickte, erschien ihm ein völlig anderes Bild seines Vaters. Er stand auf einem abgebrochenen Baum, um seinen Hals befand sich ein Strick. "Jetzt brauchst du mich nicht mehr. Auf Wiedersehen, Charlie",verabschiedete er sich. Dann sprang er runter vom Stamm. Zeitgleich spannte sich das Seil.
Schnell drehte sich Charlie weg. Diesen Anblick hätte er nicht ertragen. Was auch immer das für eine schreckliche Metapher seines Unterbewusstsein sein sollte, er glaubte, sie zu verstehen. Also rannte er los. Die Beeren ließ er einfach links liegen.
Wenig später war er angekommen. Er stand direkt vor dem Schloss des Gebäudes. Fast sicher war er sich, dass seine persönliche Antwort im Zusammenhang mit dem Code lag. Was könnte er denn verlieren, wenn er es einfach ausprobierte?
Deswegen tippte er die Buchstaben des vierbuchstabigen Names ein. Nach dem L musste er kurz suchen, doch die anderen Buchstaben, also U-K-E fand er auf Anhieb.
Und tatsächlich: Mit der Betätigung der Entertaste gab die schwere Metalltür ratternde Geräusche von sich. Die Tür öffnete sich langsam. Charlie trat hinein und scannte mit seinem analysierenden Blick erstmal alles ab. Der einzige Raum des Gebäudes wirkte viel kleiner von innen im Vergleich zu außen. Viele Monitore sprangen im ins Auge, sowie Fernbedinungen und ein paar Drohnen. Auf den Bildschirmen waren wohl Aufzeichungen von Überwachungskameras zu erkennen. Ein menschenleeres Innenleben eines Schiffes, das wie ein Piratenschiff wirkte, das Deck dieses Schiffes, eine leeres Rettungsboot, die leere Höhle, der Strand, auf dem einige seiner Mitschüler waren, und sein ehemaliger Schlafplatz. Ihm waren die ganzen Kameras gar nicht aufgefallen. Dieses Gebäude gehörte wohl eindeutig dem Gedichteschreiber.
Während ihm das klar wurde, spürte er einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Er verlor das Bewusstsein, ehe er herausfinden konnte, wer ihn geschlagen hatte.
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Far away #wingaward2019 #TheIndividuals2019 #ColourAward18 #RainbowAward2019
Teen FictionEs sollte ein wunderschöner und unvergesslicher Abschluss einer langen Reise werden. Zur Feier ihres geschafften Schulabschlusses machte die gesamte Stufe einen Ausflug aufs offene Meer. Am letzten Abend der Kreuzfahrt wollte Aves sich endlich trau...