Kapitel 19

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-Rylin-

"Jack, wir müssen reden." Mit diesem Satz weckte Rylin Jack.

Die ganze Nacht hatte sie über dieses Gespräch nachgedacht, während Jack friedlich geschlafen hatte. Mann, dieser Junge konnte wohl den ganzen Tag schlafen. Obwohl sie sich so lange Formulierungen überlegt hatte, wusste sie immer noch nicht genau, wie sie mit ihm reden sollte. Klar, danach sollte Jack sie hassen. Sie müsste ihm weismachen, dass er ihr völlig egal war. Weil die Zeit ihr scheinbar nicht helfen wollte, konnte sie es auch gleich hinter sich bringen. Vielleicht würde ihr spontan unter Druck gesetzt etwas einfallen.

"Was ist denn, Ry?", fragte er sie.
"Nenn mich nicht so", antwortete sie schnippisch. Das war doch ein guter Anfang.

"Gut, Rylin, was ist?",entgegnete er spöttisch. Scheinbar war ihm die Ernsthaftigkeit der Lage nicht klar.
"Also, ich wollte dir sagen, dass..."

Mitten im Satz hörte sie auf. Ja, was wollte sie sagen? '...du mir egal bist', '...ich dich hasse' oder '...du aufhören sollst, in mich verliebt zu sein und einfach nicht mehr nett zu mir sein sollst' standen zur Auswahl. Aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie brachte es nicht übers Herz, sie auszusprechen.

Auf einmal spürte sie nicht nur Jacks fragenden Blick auf sich, sondern auch Regentropfen auf ihrer Haut. "...es endlich Wasser gibt!",rief sie, statt etwas von sich zu geben, dass sie weiterführen würde. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und fing mit ihren Händen Wasser auf.

Jack tat es ihr gleich, aber sein Blick blieb auf ihr heften.
"Wir wissen beide, dass du etwas anderes sagen wolltest." Rylin ignorierte die Anspielung. Warum hat sie Jack nicht einfach schlafen lassen? Ob sie ihn dazu bringen kann, sie zu hassen, wenn sie ihn einfach nur ignoriert?

Nach mehreren Minuten Schweigen und als der Regen schwächer wurde, hakte Jack weiter nach: "Bitte, Rylin, sag mir, was los ist." Ihr Gesicht brannte. Sie wusch sich ihr Gesicht mit dem Regenwasser, um die Röte zu kaschieren. Sie atmete tief durch.
'Lüg ihn an. Du bist nicht schlecht im Lügen, er wird es dir abkaufen. Worauf wartest du?'
Ihr Verstand zwang sie geradezu dazu, den nächsten Satz auszusprechen:
"Ich liebe dich nicht. Du bist mir gleichgültig."

Sie hoffte, dass er nicht mitbekam, wie gepresst sie klang. Immerhin konnte er durch den Regen die Tränen in ihren Augen nicht erkennen. Seine Reaktion überraschte sie. Er war nicht sauer, er stritt nicht seine Gefühle ab. Er wirkte ein wenig verwirrt, aber vor allem enttäuscht, traurig.
"Rylin, bitte",flehte er sie an, "du weißt, dass ich dir nicht egal bin. Du bist mir nicht egal. Verdammt, du bist mir wichtig, okay?"
Das, was er gerade ausgesprochen hatte, war zwar süß, aber gleichzeitig so gefährlich. Schließlich hatte erst eine gewisse Person so etwas zu ihr gesagt, doch genau das war das Problem. Jack durfte sich nicht benehmen wie Gale, weil sonst der Gedichteschreiber jederzeit dies als unerfüllte Aufgabe sehen könnte und sie beide dafür umbringen könnte.

"Du bedeutest mir rein gar nichts, akzeptiere das doch einfach",hörte Rylin sich sagen und sah, wie das in seinen Augen nicht Regen war, den er weinte. Sie drehte sich weg von ihm, um nicht riskieren zu müssen, dass sie ihre Meinung änderte und sie so wieder in Lebensgefahr bringen würde.

Hoffentlich würde sie es auf unbestimmte Zeit mit dem Jungen, der ihr etwas bedeutete und dem sie gerade das Herz gebrochen hatte, auf diesem kleinen Boot aushalten, welches keinerlei Verstecke bot. Wenn sie jetzt nochmal darüber nachdachte, erschien es ihr noch unmöglicher als zuvor. Wie bitte sollte sie das schaffen?

Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ja, sie fühlte endlich wieder etwas. Und wenn sie Jack wäre, würde sie Rylin, also sich selbst, jetzt verabscheuen. Sie hatte ihm einfach das Herz gebrochen, ohne irgendeinen Grund geliefert zu haben. Wenn sie er wäre, wäre sie außer sich, würde herumschreien und nicht locker lassen, bis sie wissen würde, was sie falsch gemacht hatte. Aber Jack war so nicht. Falls er sie nun hasste, ließ er es sie scheinbar nicht spüren.Jedoch wenn er sie hasste, hatte sie bereits die Hälfte der Aufgabe des Gedichteschreibers erfüllt. Jetzt müsste sie es nur noch schaffen, dass er sich in jemand anderes verliebte.

Also drehte sie sich wieder um und haute einfach raus: "Warum liebst du eigentlich nicht Aves?"

Nach einigen Sekunden sagte er: "Sie meintest du mit A-Mädchen, nicht wahr?" Rylin nickte. War das nicht klar gewesen? Versuchte er etwa Zeit zu schinden? Er machte wieder eine Pause. Gerade als Rylin ihn noch mehr unter Druck setzen wollte, sprach er weiter:
"Das mit uns - Aves und mir - das war schon immer kompliziert gewesen. Natürlich, als Kumpel war sie völlig okay, ich wäre auch mit ihr ausgegangen, vielleicht sogar mit ihr zusammengekommen, wenn ich nicht gespürt hätte, dass sie mehr wollte. Es wäre nur fair gewesen, wenn ich sie genauso geliebt hätte wie sie mich. Auf Dauer wäre das einfach nicht gut gegangen. Früher wusste ich das nicht, aber",er schaute Rylin direkt in die Augen, "seit ich dich kenne, weiß ich es."

Rylin wurde schlecht. Sie schaffte das einfach nicht. Sie konnte nicht noch länger auf diesem kleinen Rettungsboot bleiben, ohne sich bei Jack zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass sie ähnlich für ihn empfand. Sie zwang sich den Mund zu halten, weil die Worte drohten herauszusprudeln.

Zum Glück hatte sie Glück im Unglück. Denn sie konnte einen Ausweg erkennen. Als sie nämlich wieder den Blick aufs Meer schweifen ließ, entdeckte sie etwas, das vor ein paar Minuten, da war sie sich sicher, noch nicht da gewesen war. Eine Insel. Die Insel schien groß genug zu sein, um Jack aus dem Weg zu gehen. "Komm, hilf mir",forderte sie Jack auf und paddelte mit den Händen in Richtung Insel.

Wenige Minuten später stand Rylin wieder auf festem Boden. Sie war zwar noch ein wenig wackelig auf den Beinen, aber sie wollte einfach nur weg. Also rannte sie in den Wald, ohne zu Jack zurückzublicken. Auf dem Weg erkannte sie ein Stück Holz. Wurde es angeschwemmt? Ist noch jemand anderes auf der Insel?

Es war ihr egal. Alles schien egal, solange sie nicht mehr in Jacks Nähe sein musste. In der Ferne hörte sie noch, wie er ihren Namen rief. Aber glücklicherweise wurde der Ruf nicht lauter, sondern immer leiser. Er folgte ihr nicht. Aber auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich allein sein wollte.

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