Kapitel 25

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Das Zimmer lag im Dunkeln, nur ein feiner Lichtstrahl fiel unter der geschlossenen Tür herein. Von unten konnte man den Fernseher hören, ansonsten war alles still.
Das zehnjährige Mädchen saß auf ihrem Bett, hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, sah sich nervös um.
Es war nicht die Dunkelheit die sie verängstigte, sondern zu wissen, dass ihre Eltern sie heute allein gelassen hatten. Sie waren im Kino, hatten Fernseher und Licht angelassen und dennoch fand sie keine Ruhe.
So viel konnte passieren, wenn ihre Eltern nicht da waren...
Noch dazu wusste sie nicht, ob sie diese Nacht wieder Alpträume haben würde oder nicht. Dass sie vorhin, als sie eingenickt war, keinen gehabt hatte, musste ja nicht heißen, dass es so blieb. Sie strich sich die Haare zurück und ließ die Decke etwas runterrutschen, wurde es ihr langsam zu warm.
Leise polternd fiel das Buch zu Boden, welches sie davor noch gelesen hatte - „Tintenherz" von Cornelia Funke.
Es war eines ihrer Lieblingsbücher, aber heute konnte selbst das sie nicht aufheitern. Im Gegenteil, es machte alles nur noch Schlimmer...
Seufzend stand das Kind auf, schob ihr Lesezeichen zwischen die Seiten und stellte das Buch zurück in ihr Regal, sah durch, ob sie nicht etwas anderes hatte. Irgendetwas, das sie auf andere Gedanken brachte...
Ihr Blick glitt in das oberste Fach, zu den Disneybüchern.
Sekundenschnell hatte sie eine Entscheidung getroffen, zog einige der Kinderbücher heraus und huschte ganz schnell zurück in ihr Bett.
Sie hatte keinen Nachttisch, aber an dem kleineren ihrer zwei Bücherregale war eine Lichterkette befestigt und diente ihr als Nachtlicht.
Es ging schon auf Mitternacht zu, als sie mit dem Bücherstapel auf den überkreuzten Beinen an der Wand lehnte und das letzte gelesene Exemplar sinken ließ.
Wenn ihre Eltern jetzt noch nicht da waren, hieß es, dass sie noch ein paar Cocktails trinken gegangen waren und vermutlich erst in den frühen Morgenstunden wieder kommen würden.
Erneut seufzte sie und räumte die Bücher langsam wieder weg. Immerhin hatte sie jetzt „Sei hier Gast" aus „Die Schöne und das Biest" als Ohrwurm.
Leise vor sich hin summend verkroch sie sich wieder unter ihre Decke, doch je länger sie wieder in die Dunkelheit starrte, desto banger wurde ihr.
Plötzlich brach etwas großes Schwarzes durch ihr eigentlich geschlossenes Fenster und mit einem leisen Aufschrei zog das Mädchen die Decke über den Kopf, versteckte sich vor dem angeblichen Monster.
Bei diesem handelte es sich um ein Alptraumpferd, eines, das seinem Schöpfer treu geblieben war und sich nun auf der Flucht vor den Hütern befand.
Es hatte die Angst und Unsicherheit des Kindes gespürt, wollte sie nutzen um sich genügend Kraft für die weitere Flucht zuzulegen.
Da das Mädchen keine weiteren Geräusche hörte, lugte es vorsichtig unter der Decke hervor. Zuerst sah es nur vier Hufe eines Pferdes, danach einen mageren Körper und einen schmalen Kopf mit feurigen Augen, die sie anstarrten.
Auch der Alptraum musterte die Zehnjährige.
Sie hatte blonde Haare und blau-graue Augen, welche vor Unschuld zu strahlen schienen. Ein Kind, wie die Hüter sie immer beschützen würden.
Ein ungutes Gefühl beschlich das Alptraumpferd, je länger es das Mädchen ansah.
Was, wenn es sie an die Hüter verriet? Zu viel Angst Seiten des Kindes würde sie garantiert aufmerksam machen...
Unbewusst begann der Alptraum zu zittern und als das Mädchen das realisierte, schob es endgültig die Decke von sich runter, betrachtete seinen Besucher genauer.
Erstaunt richtete das schwarze Pferd die spitzen Ohren auf, als die Angst des Kindes verschwand.
Wie konnte das möglich sein?
„Du musst keine Angst haben, ich tu dir nichts", meinte die Kleine plötzlich mit einer sanften, hellen Stimme und langsam kam der Alptraum näher.
Du fürchtest mich nicht?
Das Kind zuckte zusammen als sie ihre Stimme hörte, wich ihrem Blick aus.
„Ein wenig, aber das bedeutet, dass du dich nicht vor mir fürchten musst", antwortete sie schnell und der Alptraum schnaubte verwirrt.
So etwas war ihr noch nie passiert...
„Kannst du vielleicht bleiben? Ich kann alleine nicht schlafen und meine Eltern sind weggegangen", seufzte das junge Mädchen - einer Eingebung heraus folgend - und die Stute schüttelte den Kopf.
Sie sollte auf ein Kind aufpassen? So weit kam es ja noch!
Komm selber damit klar, brummte sie und wandte sich um, doch das Mädchen stand auf und kam auf sie zu.
„Ich hab alles versucht. Bitte...", flehte sie, doch das Alptraumpferd ignorierte sie, hatte es ja noch immer Angst, sie könnte sie an die Hüter verraten.
Also verließ es das Zimmer auf dem gleichen Weg wie es hinein gekommen war, aber sie hatte nicht mit der Hartnäckigkeit des Kindes gerechnet.
Diese sah dem Alptraum nach, wägte ab.
Sie könnte hier bleiben und die ganze Nacht wach liegen oder aber sie könnte diesem Pferd folgen, versuchen es zum Bleiben zu überreden.
Hastig eilte sie die Treppe hinunter und schlüpfte einfach nur in ihre Schlappen, sperrte die Haustür auf, schob den Schlüssel ein und stolperte los.
Der Alptraum war nicht schnell unterwegs, für ihn hieß es Kräfte sparen um so lang wie möglich am Leben zu bleiben.
Kein Wunder also, dass das Mädchen nicht lange brauchte um sie zu finden, ihr zu folgen.
Noch immer nervös und auch leicht ungehalten versuchte die Stute das Mädchen abzuhängen, doch diese blieb einfach weiter hinter ihr.
„Warte doch...kannst du nicht noch einmal darüber nachdenken?", bat sie und war dafür bereit, alles zu tun um nicht allein zu sein.
Eigentlich war sie gar nicht so anders, schoss es dem Alptraum durch den Kopf und kurz sah es zurück zu dem Kind, welches nur im dünnen Schlafanzug und mit Schlappen durch die spärlich beleuchteten Gassen lief, die Arme um den Körper geschlungen um nicht zu sehr zu frieren.
Plötzlich war da ein leichter Stich in der Brust des Pferdes, etwas, dass sie noch nie zuvor gefühlt hatte...wenn sie davor überhaupt Gefühle besaß.
Sie schüttelte verwirrt den Kopf, hastete schneller weiter.
Das Mädchen unterdessen versuchte Schritt zu halten, hatte inzwischen Angst das geheimnisvolle sprechende Pferd aus den Augen zu verlieren. Sie fing an zu rennen und mit ihren Schuhen geschah das, was passieren musste - sie stolperte und schlug der Länge nach auf den geteerten Boden.
Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie langsam versuchte sich wieder aufzurichten.
Ihre beiden Knie waren aufgeschlagen und bluteten stark, ihre Hände waren aufgeschürft und brannten. Am schlimmsten für sie war jedoch, dass sie das Alptraumpferd nicht mehr sehen konnte.
Sie saß allein unter der letzten intakten Straßenlaterne und konnte die Tränen nicht zurück halten.
Der Alptraum jedoch stand im Schatten verborgen, vermochte nicht den Blick von dem weinenden Kind zu lösen.
Etwas rührte sich in ihr, war sie doch noch immer ein lebendes Wesen. Sie konnte das Kind nicht allein lassen, wollte es nicht traurig sehen.
Verwirrt über ihre eigenen Gedanken tänzelte sie hin und her.
Vielleicht würde das Kind sie doch nicht verraten und eigentlich wollte auch sie nicht allein sein. Die Angst die das Mädchen jetzt hatte würde früher oder später die Hüter hier her führen, aber es gab die Möglichkeit...
Das Mädchen hatte die blutenden Knie angezogen, das Gesicht vergraben und weinte noch immer.
Eigentlich hatte sie sich immer gesagt, sie müsse vor nichts Angst haben, sie war ja schon alt genug um vernünftig zu reagieren. Aber immer wenn es darauf ankam, knickte sie doch wieder ein.
Ist schon gut, beruhig dich wieder, flüsterte die sanfte Stimme des mysteriösen Pferdes und im gleichen Moment legte sich eine weiche Schnauze an ihre Schulter.
Schniefend sah sie auf und direkt in das Gesicht des Alptraumes, drückte sich an sie.
Während sie sich an dem schmalen Kopf klammerte, zog das Pferd sie dadurch wieder auf die Beine und gleichzeitig verflog die Angst des Mädchens.
Langsam hörte sie auf zu weinen und stützte sich an dem Alptraum ab, als sie den Weg zurück gingen, den sie davor gekommen waren.
Ich bring dich jetzt wieder nach Hause, dann schaust du dir deine Verletzungen an und dann kommt alles wieder in Ordnung...
„Bleibst du bei mir?"
Hoffnungsvoll sah das Mädchen zu ihr auf, die blau-grauen Augen noch immer rot umrandet vom Weinen.
In diesem Moment wurde dem Alptraum klar, dass sie alles tun würde um diese Augen leuchten zu sehen, sei es nun gegen ihre Natur oder nicht!
Natürlich, Kleine...
„Mein Name ist übrigens Andreja."
Freut mich, dich kennen zu lernen, Andreja...

Die Hüter des Lichts - Shadow and LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt