Kapitel 10

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Heute war Ostern und ausnahmsweise wurde mir erlaubt das Bett zu verlassen. Das erste Mal seit drei Wochen, von Klogängen einmal ausgenommen. Dorthin hatte mich aber auch Shadow immer stützen müssen.
Mein Knöchel war dick bandagiert und alle drei Tage kam ein junger hellgrauer Yeti Namens Tony und wechselte den Verband. Die Schwellung war schon sehr gut zurück gegangen, doch der Schmerz verschwand einfach nicht.
Meiner Mutter hatte ich nur eine kurze SMS geschrieben, dass ich in Ordnung war und einige Zeit weg sein würde. Daraufhin hatte ich aus meinem Handy die SIM-Karte entfernt und benutze nur noch Fotoapparat und Musikwiedergabe.
Es hatte zwar gedauert, aber inzwischen hatte ich Sandy, Toothie, Tony und Nord das Prinzip eines Fotos erklärt und inzwischen hatte ich sehr viele Schnappschüsse beisammen. Aber nur von den beschriebenen Personen. Shadow hielt sich lieber aus den Bildern draußen und Jack ging mir aus dem Weg. Ich hatte von allen gehört, dass es noch einen weiteren Hüter gab – den Osterhasen – aber gesehen hatte ich diesen noch nicht.
Ich stand gerade mehr schlecht als recht auf dem linken Bein und hielt mich an Shadow fest, als Sandy ins Zimmer schwebte und mich freundlich anlächelte.
„Guten Morgen", gab ich zurück und er begann loszureden.
Verdammt, für einen stummen Kerl hatte er unglaublich viel zu erzählen.
Ich verstand noch nicht einmal die Hälfte seiner Zeichen und so übersetzte mir Shadow meist, was er mir sagen wollte.
'Heute ist ja Ostern und da deine Genesung so gut voran schreitet, konnten sie den Osterhasen dazu überreden – nun ja, es musste mehr Nord überredet werden – dass dieses Jahr auch ein paar Eier am Pol versteckt werden. Es sind nämlich alle der Meinung, dass du lange genug im Zimmer warst. Du kannst entscheiden, ob du mit Krücken oder unserer Unterstützung los möchtest...'
Ich grinste beide an, das war ja genial!
Endlich durfte ich aus dem Zimmer raus und dann gab es auch noch bunte Eier zu finden! Jetzt kam ich mir endgültig wieder wie ein kleines Kind vor...
„Ich glaub, ich nehm die Krücken...Ihr zwei habt euch einen freien Tag verdient. Außerdem kann ich bereits gut mit diesen Dingern umgehen", meinte ich und Shadow wollte soeben protestieren, doch Sandy nickte bereits verstehend.
Er hatte sich so etwas schon gedacht.
Daraufhin betrat Tony den Raum, wechselte noch einmal meine Bandagen und reichte mir dann die Krücken, Silbern mit einigen schwarzen Verzierungen.
Ich grinste ihm zu und tat die ersten Schritte. Wie ich gehofft hatte, ging es sehr gut.
Bevor die drei irgendwie reagieren konnten, machte ich mich bereits auf dem Weg aus dem Zimmer.
„Wir sehen uns später", rief ich ihnen noch grinsend zu, dann war ich auch schon im Gewühl der Yetis verschwunden.
Mein Zimmer lag ein Stockwerk über den eigentlichen Arbeitsräumen und mit einem runden Aufzug fuhr ich eine Etage tiefer, humpelte durch das geschäftige Treiben.
Auf jedem Tisch an dem ein Yeti arbeitete stand eine Spielzeugvorlage aus Eis, detailgetreu und kunstvoll gestaltet. Die großen Pelzknäul waren fleißig bei der Sache und hielten sich ganz genau an die Vorgabe des Bosses.
Ich wich einigen der Yetis und vielen Wichteln aus oder schob letztere mit den Krücken aus dem Weg.
Bei dem kleinen IQ der Wichtel war es mir nur verständlich, dass nicht sie die Spielzeuge herstellten. Immerhin steckten sie einen von ihnen gerade in Brand.
„Ach, sie mal an...da ist ja wieder jemand auf den Beinen", lachte jemand und ich verdrehte die Augen.
„Hallo Jack. Freu mich auch dich wiederzusehen", meinte ich neutral und setzte meinen Weg fort.
Der junge Hüter folgte mir, seinen Holzstab schulterte er dabei.
„Du hast dich ja ziemlich lange im Zimmer halten lassen. Wie gefällt es dir hier eigentlich?"
„Es wäre schöner, wenn ich endlich mal wieder alleine wäre", brummte ich und Frost lachte.
„Wir beide werden vermutlich keine Freunde mehr, oder?"
„Vermutlich nicht...", gab ich zu und sah in jeden einzelnen Gang, war überrascht, wie groß dieses ganze Bauwerk war.
„Jaack...?"
„Upps, ich glaube, ich werde gebraucht", meinte der Junge und wurde leicht rot, als er Toothies Stimme hörte.
„Dir noch viel Spaß", scherzte er und am liebsten hätte ich ihm eine meiner Krücken nachgeworfen, aber mein Gleichgewicht war mir dann doch wichtiger.
Und außerdem hatte ich etwas gehört, dass interessanter schien.
Ich folgte einem schlichten Gang hinunter, immer weniger Yetis oder Wichtel waren unterwegs. Der zuerst noch verkleidete Gang wurde nach einiger Zeit von Gletschereis ersetzt und ich hatte Mühe vorwärts zu kommen.
Warum musste Eis auch immer so glatt sein?
Ich schlitterte weiter und erreichte kurz darauf ein Gebäude, dass ich nur zu gut als Stall identifizieren konnte. Und was für ein Stall!
Er war zwar nicht besonders gebaut, aber die Tiere die mich dort erwarteten, waren legendär.
Gewaltige Geweihe, stämmige Körper und eine Wildheit, die mich faszinierte – die Rentiere des Weihnachtsmannes!
Sie waren größer und kräftiger als ihre wilden Verwandten, aber sie schienen bei weitem nicht so gelassen zu sein.
Immer wieder warfen sie ihre Schädel zurück, verdrehten die Augen und schnauften schwer, stampften in ihren Boxen.
Vorsichtig näherte ich mich der ersten Box und das Rentier stellte die Ohren auf, musterte mich interessiert.
„Du bist aber ein ganz ein Schöner", murmelte ich und streckte vorsichtig die Hand aus, die Krücke hatte ich an einen Holzpfeiler gelehnt.
Das elegante Tier beruhigte sich langsam, schnupperte an meiner Hand. Sein Fell war flauschig, dicht und von einem dunklen grau. Seine braunen Augen musterten mich interessiert.
Ganz vorsichtig strich ich durch das Fell des Rentieres und es beruhigte sich endgültig, genoss die Streicheleinheiten.
„Du wirst hier wohl nicht oft verwöhnt", meinte ich und wie zur Bestätigung schnaubte es.
„Ey! Das ist gefährlich, junge Frau", dröhnte plötzlich der unverwechselbare russische Akzent durch die Stallungen und Nord stand am Eingang.
Ich zuckte kurz zusammen, lächelte ihm entschuldigend zu, konnte jedoch meine Finger nicht aus dem weichen Fell lösen. Es war einfach viel zu flauschig!
„Was...?"
Langsam kam er näher und blieb schließlich neben mir stehen, warf ungläubige Blicke zwischen mir und dem Rentier hin und her.
„Wie machst du das?", fragte er ungläubig und ich zuckte die Schultern.
„Ich bin freundlich zu ihm, dann ist er auch freundlich zu mir. Vielleicht sieht er ja auch einfach, dass ich ihm nichts tun kann, immerhin könnte ich ja nicht einmal vor ihm davon laufen", meinte ich und Nicholas St. Nord verschränkte die Arme vor der Brust.
Er wirkte nachdenklich, aber auch amüsiert.
„Schon mal mit Schlitten gefahren?"
Ich schüttelte den Kopf. Damals als Kind hatten wir kein Geld für Winterurlaub in den Bergen gehabt und bei uns zu Hause war alles so flach, dass es sich nicht rentierte einen Schlitten zu kaufen.
„Vielleicht, wenn du wieder Gesund, du dürfen mitfliegen bei mir", bot er mir nach einigem Schweigen an und mir klappte der Mund auf.
„Ich dürfte....Meinen Sie das ernst?"
„Natürlich und du müssen mich nicht siezen. Nord reicht schon", lachte er und ich vergas die zweite Krücke und umarmte ihn einfach spontan. Schwierig, aber nicht unmöglich.
Er erwiderte die Umarmung und ich glaubte ein paar Rippen krachen zu hören, aber da mir nichts weh tat, konnte auch nichts kaputt gegangen sein.
„Vielen, vielen Dank! Auch für alles, was Sie – du – bisher für mich getan hast. Wie kann ich mich dafür revanchieren?"
„Werd erst einmal gesund, dann sehen wir weiter", lachte er und ich nahm wieder beide Krücken in die Hände.
„Jetzt aber los! Ich glaube, Hase war irgendwo in der Nähe der Galerie..."
Ich lächelte ihm noch einmal zu, verabschiedete mich kurz von dem prächtigen Rentier und humpelte dann den Weg hinauf Richtung Galerie.
Vielleicht konnte ich den fünften Hüter auch noch treffen...

Die Hüter des Lichts - Shadow and LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt