Teil22

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Die Nacht war unruhig. Nachdem sie sich geliebt hatten, schlief Freyja erschöpft und glücklich ein, Asgeir jedoch nicht. Ihm gingen zu viele Dinge auf einmal im Kopf herum. Vielleicht war auch alles auf einmal etwas viel verlangt. Eigentlich sah er sein Leben jetzt so klar wie nie zuvor. Er war ein junger Mann mit Talent für Fotografie, der seine richtige Familie und eine fantastische Frau in einem wunderschönen und zugleich geheimnisvollen Land gefunden hatte. Er würde sich hier ein Zuhause schaffen, wie er bisher keins gekannt hatte. Ohne das ständige Gefühl, es irgendwem recht machen zu müssen. Wenn er sagte, dass ihn seine englischen Eltern geliebt hatten, dann war das die Wahrheit. Sie waren immer liebevoll und verständnisvoll, sie bezahlten die teuersten Schulen und die Universität. Aber ihn hatte der Gedanke nie losgelassen, dass er dafür auch gewisse Erwartungen zu erfüllen hatte. Sie wollten alles richtigmachen, also musste er das auch tun. Top Abschlüsse, top Job, top Freundin. Nur war das alles für ihn überhaupt nicht so top. Irgendwann kam ihm der Gedanke, dass er eigentlich erst nach ihrem Tod angefangen hatte, sich von diesen Vorstellungen zu lösen. Er musste sogar weinen, wenn auch ganz still, denn er fand es traurig, dass er erst nach diesem schlimmen Ereignis angefangen hatte, sich selbst wirklich zu entdecken. Es kam ihm vor wie Stunden, bis er es nicht mehr aushielt und entschied, dass er ein wenig an die Luft gehen würde. Vorsichtig machte er sich von Freyja los und ging hinaus zum Hot Pot. Er trug nur ein Laken und ging hinein. Über ihm schimmerte ein Sternenhimmel, den er so klar in England auch noch nie gesehen hatte. Er schloss die Augen und versuchte, sich sein Leben vorzustellen, wie es in London verlaufen würde. Der Job beim Guardian war gekündigt, der Job beim Geographic würde ihn in die Welt führen. Und in irgendeiner luxuriösen Stadtwohnung würde Gwen auf ihn warten, um ihn auf irgendwelche Partys mitzunehmen, wenn er zuhause war. Bestimmt hätte sie eine tolle Nanny für das Kind, die Kinder. Wie lange hätte er das ausgehalten? Wie lange hätte sie das ausgehalten? Oder war das die ganz normale Vorstellung von Leben und Glück für jemanden wie sie? Eine top Wohnung, eine top Nanny, top Kinder an top Schulen, Einladungen zu den top Partys und dann dazu ein gelangweilter Mann? „Ist es das, was du willst?", flüsterte er und stellte sich seine Ex-Freundin in einem Hotel in Reykjavik vor. Wenn sie bis dahin gekommen war, dann war es ihr schon verdammt wichtig oder irgendwas war passiert. Es würde nicht so einfach werden, ihr klarzumachen, dass sie nichts zu erwarten hatte, wenn das, was sie zusammen hatten, ihrer Vorstellung von einem glücklichen Paar entsprach. Aber er war längst nicht mehr glücklich gewesen, offenbar, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hatte. Was hatten sie zuletzt gemeinsam unternommen? Er konnte sich nicht mal erinnern. Es musste die Abschiedsfeier beim Guardian gewesen sein, wo sie heraushängen ließ, was für eine dumme Entscheidung das war und wie froh er sein müsste, dass sie in dieser albernen Situation zu ihm hielt. Er seufzte einmal tief und tauchte den Kopf unter Wasser, wie um die Erinnerung abzuwaschen. Als er wieder auftauchte hörte er leise Schritte im Garten. War das Freyja? Er blinzelte sich das Wasser aus den Augen. Nein, sein Bruder und auch nur im Laken. Schon verrückt, wie ähnlich sich Zwillinge sein konnten. „Hey, kannst du auch nicht schlafen?" sagte er leise. „Nein", antwortete Brynjar schlicht und stieg ins Wasser, „es ist schön hier. Was hält dich wach?" Asgeir zögerte kurz. „Mein altes Leben. Meine Ex ist in Reykjavik aufgetaucht. Das bedeutet nichts Gutes."

„Deine Ex? Weiß sie, dass du das so siehst?"

„Ja", sagte er nur und weil Brynjar nichts sagte fügte er noch hinzu, „wir haben im Streit Schluss gemacht. Das war zu merken. Was hält dich wach?"

Brynjar deutete mit einer Kopfbewegung zum Felsenhang. „Die da oben lassen mir keine Ruhe."

„Du glaubst also auch, dass es da was gibt?"

„Hast du da oben heute nichts gespürt?"

Asgeir nickte. „Doch schon. Es war seltsam, so als ob ich beobachtet würde und was immer da war, wollte nicht fotografiert werden."

Brynjar schaute ihm neugierig in die Augen. „Deine Freundin, sie nimmt mehr wahr als du. Hast du mit ihr geredet?"

„Nein, nicht darüber."

„Ich verstehe. Deine Ex-Freundin kann dich zu nichts zwingen. Das wird sie irgendwann einsehen müssen. Würdest du mir helfen, wenn du könntest?"

„Ja sicher", versprach Asgeir, egal was es sei, natürlich würde er seinem Bruder helfen.

„Ich möchte mit dir zusammen da hinaufgehen. Morgen nach dem Fest. Sie wissen, dass du zurück bist. Jetzt müssen sie wissen, dass es mir leid tut, was ich ihnen vorgeworfen habe."

„Was müssen wir dafür tun?" Was tat man in so einem Fall? Eine Art Geisterbeschwörung? Brynjar trug dieses magische Zeichen, also glaubte er an sowas.

„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weiß Freyja mehr."

„Vielleicht, sie weiß eine ganze Menge."

„Du hast gesagt, ihr Sohn ist bei ihren Eltern in den Westfjorden", bemerkte Brynjar jetzt so, als hätte das noch eine andere Bedeutung.

„Ja, im Nordwesten."

„Vergiss die Himmelsrichtung. Die mächtigsten Zauberer und Nornen kamen immer aus den Westfjorden. Wer ist der Vater von dem Kleinen?"

„Irgendein Seefahrer, glaube ich. Jedenfalls kein Elf oder Troll."

„Gut."

„Brynjar, sag, sind die Unsichtbaren ...gefährlich?"

Brynjar zögerte einen Augenblick, in dem sich sein Blick kurz verfinsterte, bevor er sich wieder fing. „Ich denke nicht. Nicht absichtlich jedenfalls. Aber manchmal entstehen Situationen, die für uns gefährlich werden können."

Asgeir erinnerte sich an den Windstoß oben am Felsen. Wenn das ein Versuch der Kontaktaufnahme war, dann war es nicht ungefährlich, denn er hätte stürzen können.

„Lass uns schlafen gehen", schlug Brynjar jetzt vor, „bevor die Frauen merken, dass wir uns nachts herumtreiben."

Asgeir war einverstanden und im Haus tranken beide noch ein Glas warmen Met, damit der Schlaf nun leichter kommen würde. Danach gingen beide zurück zu den Frauen und legten sich unbemerkt nieder.


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