In Reykjavik:
Jon hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, aber es musste sein, wenn sie herausfinden wollten, was diese Ex-Freundin vorhatte. Zuerst hatte er geglaubt, sie würde ebenso schnell verschwinden, wie sie gekommen war, doch seine Schulfreundin an der Rezeption des Reykjavik Hilton wusste, dass Gwen noch immer im Hotel wohnte. Gwen hatte Jon gesehen, also würde Egill sein Glück versuchen. Als er am späteren Abend die Bar des Hilton betrat, war Gwen schon da und auch nicht mehr ganz nüchtern. Wie jeden Abend, soviel wusste die Schulfreundin. Egill setzte sich an der Bar direkt gegenüber der Engländerin und bestellte einen Mojito. Normalerweise trank er lieber ein Bier, aber das passte wohl eher nicht zu Gwens Beuteschema. Egill hatte vor etwa drei Jahren zuletzt mit einem Mädchen geflirtet. Bevor er Jon kannte. Der Mojito würde helfen und es wäre nur ein Flirt an einer Bar. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Engländerin auf den attraktiven, dunkel-gelockten Isländer aufmerksam wurde, der gelegentlich zu ihr hinüberblickte. Sie langweilte sich jetzt schon seit Tagen und genau genommen war sie ja gerade solo. Sie lächelte ein wenig. Er lächelte auch, wodurch er noch besser aussah. Dann nahm er sein Glas und kam zu ihr herüber. „Hi, du bist nicht von hier. Lass mich raten: England."
„Das hat dir doch jemand verraten."
„Du hast mich erwischt. Der Barkeeper hat's verraten."
„Und? Magst du trinken oder tanzen?"
„Beides."
„Ich bin Gwen."
„Freut mich. Mein Name ist Egill."
Die Sonne stand tief über dem Horizont, als sich die Brüder und Freyja an den Aufstieg machten. Sie würde nur kurz hinter dem Horizont verschwinden, nicht tief genug, um die anschließende Nacht zu verdunkeln und nicht lang genug, um überhaupt von einer Nacht zu sprechen, aber es würde einen fühlbaren Temperaturabfall geben. Wenn sie länger oben am Felsen bleiben mussten, wären die Decken wirklich nützlich. Als sie etwas über der Hälfte waren, blickte Brynjar zurück und sah, dass Vigdis im Haus Kerzen in die Fenster gestellt hatte. Die Sonne war jetzt nur noch ein blasser Schimmer hinter dem Meer und der Mond stand blass über den Felsen, da wo sie ihr Ziel vermuteten. Keiner sagte etwas, nur Freyja begann damit, eine alte Melodie vor sich hinzusummen. Asgeir schaute erst zu ihr, dann zu seinem Bruder. Brynjar schien das Lied zu kennen, denn er nickte ihm zu. Schließlich näherten sie sich dem Felsen, der alle anderen überragte. Asgeir überkam ein seltsames Gefühl, so als wären sie hier oben nicht allein und er wollte nicht weitergehen. „Lasst uns hier halten, ich glaube, wir sind dicht genug", rief er den anderen zu. Freyja und Brynjar schauten ihn an, als überlegten sie noch, aber dann nickte sie und gab Brynjar zu verstehen, dass sie am Ziel ihrer Reise angekommen waren. Sie deutete auf eine kleine bemooste Fläche, wo sie sich bequem zum Warten setzen konnten und Brynjar breitete eine Decke aus. Ihm wurde seltsam kalt, aber er dachte, das sei vielleicht von der Erschöpfung von der letzten fast schlaflosen Nacht und dem langen Tag. Dann setzten sie sich und rückten dicht beieinander. „Sie sind hier irgendwo", flüsterte Asgeir.
„Du merkst es also auch?", wollte Brynjar wissen.
„Ja, mir ist kalt."
„Wenn ihr zwei nicht ruhig seid", bemerkte Freyja, „kommen sie nicht oder lassen uns ewig frösteln und warten."
Sie zündete die mitgebrachte Laterne an und stellte sie in die Mitte. Das kleine Licht hatte etwas Beruhigendes und Asgeir und Brynjar starrten gemeinsam hinein und schwiegen. Sie nahmen sich alle drei bei den Händen. Bald merkte Asgeir, wie sich sein Atem veränderte und ihm langsam etwas wärmer wurde. War das die Konzentration oder geschah tatsächlich irgendetwas? Er schaute die anderen an. Freyja schien seinen Blick zu bemerken, denn sie lächelte zu ihm herüber. Brynjar schien zu schlafen, sein Kopf war nach vorn auf seine Brust gesunken. Wie konnte er in so einer Situation schlafen? Oder war das etwas anderes? Er suchte mit seiner Hand und fasste Brynjars Puls. Der ging deutlich zu schnell für einen Schlaf. Und er wurde schneller. „Was passiert mit ihm?", flüsterte er. Freyjas Blick brachte ihn wieder zum Schweigen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen riesengroß und schwarz. Da begann die Flamme in der Laterne zu tanzen und ein leichter Wind kam auf, der seltsam geräuschlos war. Brynjar sah jetzt auf und seine Augen wirkten ebenso wie die von Freyja. Irgendwas sahen die beiden. Asgeir riss jetzt auch seine Augen auf und versuchte etwas zu erkennen, aber da war nichts. Zumindest konnte er nichts sehen. Da erhob sich Brynjar wie in Trance und begann seltsam vor und zurück zu schwanken. Er keuchte auf, mehrfach und wäre nach hinten gefallen, wenn Freyja und Asgeir ihn nicht bei den Händen gehalten hätten. Sie zogen ihn wieder zurück und Asgeir löste eine Hand aus Freyjas Griff, um seinen Bruder aufzufangen, der jetzt wie ein Sack kraftlos nach vorn fiel. Er setzte ihn ab und in dem Moment war es ihm, als könnte er in seinem Kopf fremde Stimmen hören, die er nicht verstand. Seltsame Stimmen, die jedoch nicht furchteinflößend klangen, sondern nur fremdartig und ungewohnt. Sie wirkten beinahe tröstlich und einige wirkten, als ob sie sangen. Wie sonderbar. Oder war das der Wind? Er sank langsam neben Brynjar in die Knie und versuchte, sich wieder auf die Flamme zu konzentrieren. Freyja ergriff seine Hand von Neuem und auch sie sagte etwas, was er nicht verstand. Isländisch- natürlich. „Asgeir?" Sein Name, wer hatte den gesprochen? „Asgeir?" Er schaute auf und sah jetzt in Brynjars Augen. Das musste er gewesen sein. „Bist du in Ordnung?", fragte Brynjar.
„Ob ich in Ordnung bin? Du hast ausgesehen, als wolltest du – ich weiß nicht was. Was ist passiert?" Asgeir rappelte sich auf. Auch Freyja schaute ihn an.
„Ja, sicher bin ich in Ordnung", sagte er, „was ist passiert?"
Freyja ergriff das Wort. „Du weißt es nicht?"
„Nein, was habt ihr gesehen? Was war das?"
Brynjar zögerte kurz. „Gesehen habe ich nichts, aber es war... als hätten sie sich kurz ...mit mir vereint, ich dachte... sie seien durch mich hindurch getreten. Sie haben irgendetwas gesagt. Es klang ... freundlich."
Was sein Bruder da beschrieb, war so ziemlich das Gleiche, wie er selbst erlebt hatte. Die Stimmen in seinem Kopf... Er schaute zu Freyja.
„Ihr habt beide ausgesehen, als würdet ihr mehrfach vor und zurückwanken. Und ihr habt gezittert, aber dann wurdet ihr ruhig. Und die Flamme wurde ruhig. Also waren sie da und haben erfahren, was sie erfahren mussten. Dann können wir nachhause", sagte sie schlicht.
„Du meinst das war es?", fragte Asgeir.
„Ja. Das war alles. Wenn sie so mit euch kommuniziert haben, dann wissen sie jetzt, was mit dir geschehen war und wie leid es Brynjar tut, dass er sie zu Unrecht beschuldigt hat. Dann ist alles gut."
„Ich hätte gedacht, sie verpassen mir mindestens ein paar Ohrfeigen, aber sie waren gar nicht wütend", sagte Brynjar voller Erleichterung.
„Nein, das waren sie nicht", fand Asgeir, „aber sie konnten auch kein Englisch. Trotzdem haben sie wohl verstanden." Er lächelte jetzt ebenfalls erleichtert und nahm Freyja in den Arm.
„Danke, dass du bei uns warst", flüsterte Brynjar ihr zu.
„Das habe ich gern getan."
Die Sonne war inzwischen wieder hinter dem Horizont hervor gestiegen und die ersten Morgenstrahlen tauchten den Hügel in ein neues Licht. Also machten sie sich auf den Weg bergab.
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Island Saga
General FictionAlec, ein junger Fotograf aus London, reist nach Island, um dort Fotos zu schießen. Dort angekommen spürt er eine Verbindung mit Orten und Menschen, die er sich nicht rational erklären kann. Doch alles wird noch mysteriöser, als er in einer Ausstell...