Am nächsten Tag stehe ich vor Shelters Zimmer, Nummer 124.
Beim Frühstück konnte ich ihn nicht ausfindig machen. Mir ist klar, dass er mir aus dem Weg geht - und eigentlich ist mir das ganz recht, wenn ich nur nicht sein Scout wäre ...
Ich atme hörbar aus.
Okay, Amory. Du schaffst das.
Ich klopfe an. Es dauert eine Weile, bis ich höre, wie das Schloss sich dreht und die Tür aufspringt. Grüne Augen funkeln mich wütend an.
Ich räuspere mich und schaue direkt auf einen Punkt neben seinem Kopf. Wie schafft er es nur, dass ich mich so schwach fühle? Ich bin nicht schwach, ganz im Gegenteil!
»Ich soll dich zur Trainingsetage bringen«, sage ich schließlich.
Shelter mustert mich kurz, bevor er monoton antwortet: »Ich denke, ich schaffe das auch allein.«
Ich rolle mit den Augen.
»Was?«, zischt er.
Mein Blick wandert zu ihm. »Ich zweifle nicht daran, dass du den Weg allein schaffen kannst. Shevre will es nur so. Also...«
»Ich will nicht, dass du dich gezwungen siehst, für mich den Babysitter zu spielen«, erwidert er kalt und zerrt stark an meinen Nerven.
Können wir nicht einfach schweigend zur Trainingshalle gehen und es hinter uns bringen? Das würde alles viel einfacher machen. Immer muss er sich wie ein Kleinkind benehmen.
»Shelter«, sage ich laut und deutlich, »Ob du willst oder nicht, spielt keine Rolle, genauso wie es keine Rolle spielt, ob ich will oder nicht. Das liegt nicht in unserer Hand. Also hör auf dich so zu benehmen und komm mit mir zu deinem Training.«
»Wie benehme ich mich denn, hm?«, fragt mich Shelter und verschränkt eingeschnappt die Arme vor der Brust.
Du benimmst dich wie ein Mädchen!, schießt es mir durch den Kopf, doch ich werde diese Worte bestimmt nicht laut aussprechen.
»Du benimmst dich wie ein ... ein ... ein Kind.«
Er lacht amüsiert auf, doch seine Augen strahlen keine Belustigung aus, sondern eher etwas wie Zorn. Ich kriege Gänsehaut.
»Ich - wie ein Kind? Wer beschwert sich denn bei seinem Boss, weil er sich nicht mit mir abgeben will?«
Ich schüttle nur den Kopf und sehe ihn fassungslos an. »Na gut, es ist nicht mein Problem, ob du mit mir zum Training gehst oder ohne mich. Ich hoffe, es macht dich glücklich. Das ist es doch, was du immer wolltest - dein Glück und nicht das von anderen. Jedesmal wenn es drauf ankommt, ziehst du deine Gefühle vor und verletzt andere. Das liegt anscheinend in deiner Natur.«
Shelters Reaktion darauf lässt sich nur schwer deuten - sein Blick ist eine Mischung aus Wut, Erstaunen und ... Etwas, das ich nicht benennen kann. Meine Worte scheinen ihm auf jeden Fall nicht zu gefallen. Gut so.
»Wenigstens laufe ich nicht vor meinen Gefühlen davon«, antwortet er leise.
»Wenn du in den letzten Jahren bei mir gewesen wärst, wüsstest du, dass es für mich besser ist, mich meinen gesamten Gefühlen lieber nicht hinzugeben«, sage ich fest, »Aber du warst nicht bei mir und bist es jetzt auch nicht. Du wirst es nie sein, weil du es einfach nicht kannst.«
Ohne auf eine Antwort von ihm zu warten, mache ich auf dem Absatz kehrt. Während ich mich davon mache, rufe ich ihm noch zu: »Viel Spaß bei deinem ersten Training!«
. . .
Am Nachmittag ruft mich Shevre zu sich und als ich sein Büro betrete, scheint er nicht in bester Stimmung zu sein.
Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich auf den Stuhl gegenüber von seinem Schreibtisch.
»Was gibt's?«, frage ich meinen Chef leicht beunruhigt. Meine Hände liegen verschränkt in meinem Schoß und vor Nervosität beginne ich, sie zu kneten. Normalerweise passiert mir so etwas nicht.
Shevres Augen durchbohren mich förmlich und ich frage mich, was ich jetzt schon wieder verbrochen haben soll.
»Shelter ist allein zu seinem ersten Training erschienen«, sagt er schließlich.
Ach so, da war ja noch etwas.
Gerade als ich den Mund öffne, um etwas zu erwidern, fährt mein Boss auch schon fort.
»Ich dachte, ich hätte mich letzte Nacht klar genug ausgedrückt.«
Ich senke meinen Blick und betrachte ausgiebig meine Finger. »Ja, das hast du auch, nur-«
»Nur was?«
Ich seufze schwer. »Nur... Shelter wollte nicht, dass ich ihn begleite. Ich bin extra zu ihm gegangen, um ihn abzuholen, aber er wollte meine Hilfe nicht.«
Ich schaue wieder auf und meine Aufmerksamkeit fällt auf Shevres Stirn, die sich verwundert in Falten legt. »Hat er sein Verhalten begründet?«
»Ja - also, ich weiß, was los ist.«
»Amory, sag schon!«
»Er hat unser Streitgespräch von gestern mitbekommen und ist nun eingeschnappt. Er benimmt sich wie ein verdammtes Mädchen!«, platzt es aus mir heraus. »'tschuldigung«, füge ich schnell hinzu.
Ein amüsiertes Grinsen bildet sich in Shevres Mundwinkeln. »Diese Konstellation zwischen euch scheint ja ziemlich interessant zu sein.«
Ich funkle ihn böse an. »Nein, ist es nicht. Shelter ist ein scheiß Idiot und benimmt sich wie einer. Mehr braucht man nicht zu wissen.«
»Und du bist etwa keine Idiotin?«
»Shevre!«, rufe ich entsetzt aus.
»Amory, beruhige dich. Er kriegt sich schon wieder ein. Irgendwann wird er einsehen, dass er hier nicht allein zurecht kommt.«
Ich lehne mich angepisst zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. »Er findet schnell Freunde. Das weiß ich von früher.«
Shevre scheint nicht weiter auf das Thema eingehen zu wollen und sagt schließlich: »Na ja, auf jeden Fall möchte ich dich bitten, am Ball zu bleiben. Ich bin nämlich immer noch der Meinung, dass du der perfekte Scout für ihn wärst. Also geh morgen früh noch einmal zu ihm hin und versuch es erneut.«
Entsetzt stöhne ich auf. »Und wenn er mich wieder zurechtweisen will?«
»Dann versuchst du es eben solange, bis er nachgibt.«
»Ist das dein Ernst, Shevre?«
Er nickt selbstgefällig, dann winkt er mich mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. »Und jetzt geh, ich habe noch ein wichtiges Gespräch zu führen.«
»War nicht schön, mit dir zu reden, Shevre!«, rufe ich ihm noch zu, dann verschwinde ich aus seinem Büro.
Aus irgendeinem Grund verspüre ich das dringende Bedürfnis, irgendwem einen heftigen Schlag in die Magengrube zu verpassen.
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Shelter is your Name
Science Fiction»When I was young I didn't understand, but now, I know how absence can be present, like a damaged nerve, like a dark bird.« - Audrey Niffenegger, The Time Traveler's Wife Amory Sawyer ist eine Auftragskillerin der ICCJ - der International Central Co...