»Du weißt gar nichts!«, schreie ich ihn auf einmal an und bin selbst zutiefst von meiner Reaktion überrascht.
Ich kann nur hören, wie Shelter hinter mir erschrocken Luft holt und würde am liebsten laut loslachen.
»Gut«, krächzt er, »Dann weiß ich es eben nicht. Aber es tut mir leid, an dieser Tatsache kannst du nichts ändern. Es tut mir leid, alles.«
Seine Worte rauben mir den Atem und drücken auf meine Tränendrüse, doch ich kann die darauf folgenden Wasserfälle gekonnt zurückhalten. Er meint es ernst, ich kann es deutlich spüren.
»Mir tut es auch leid«, hauche ich in mein Kissen, rechne jedoch nicht damit, dass mich Shelter hören kann. Aber er kann es und kommt einen weiteren Schritt auf mich zu, sodass ich nun seinen Schatten wahrnehme, der mein Blickfeld verdunkelt.
Dann ein Gewicht, welches die Matratze auf der anderen Seite herunterdrückt. Überrascht drehe ich meinen Körper so, dass ich nun auf dem Rücken liege und sehe, wie Shelter am Rand meines Krankenbettes sitzt, die Hände locker in seinem Schoß, der Blick starr auf den Boden vor ihm gerichtet.
Als er bemerkt, dass ich ihn anschaue, wandert dieser Blick zu mir und durchbohrt meine grauen Augen.
»Kannst du dich aufrichten?«, fragt er mich dann.
»Ich weiß es nicht«, gebe ich zu.
»Versuchen wir's«, sagt Shelter daraufhin und plötzlich springt er auf und hält mir eine seiner Hände entgegen.
Ich starre seine Hand für eine Weile an, bevor ich den Kloß in meinem Hals runterschlucke und sie langsam ergreife.
»Ganz sachte«, flüstert er mir zu, während ich dabei bin, meinen Körper aufrecht zu erhalten - und tatsächlich! Ich habe keinerlei Mühe aufzustehen.
Erstaunt fällt meine Kinnlade herunter, als ich mit beiden Füßen den kühlen Boden berühre. »Es geht. Auf einmal geht es!«, rufe ich jauchzend auf.
Ich reiße mich von Shelters Hand los, der mich ebenfalls überrascht ansieht.
Ich bewege mich quer durchs Krankenzimmer, verwundert darüber, wie mühelos ich all dies tue.
»Ich versteh's nicht. Letzte Nacht ging gar nichts mehr und jetzt bin ich so fit wie eh und je!«
Ich springe und renne durch den Raum. Shelter mustert mich ein wenig belustigt.
»Ich glaube, das liegt daran, dass deine Panikattacke seit Stunden vorbei ist«, merkt er an.
Ich rollte mit den Augen. »Vielen Dank, du Mediziner. Das ist mir durchaus bewusst. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass ... dass ich so schnell wieder gut auf den Beinen bin.«
Dann bemerke ich, dass ich immer noch meine Schlafsachen von letzter Nacht trage und bin ziemlich erleichtert, da ich es wirklich verabscheuungswürdig finden würde, wenn mich jemand umgezogen hätte, ohne dass ich es bewusst mitbekommen hätte.
Als Shelter gerade etwas erwidern will, klopft es plötzlich an der Tür und kurz darauf kommt eine dunkelhäutige Person herein und stürmt auf mich zu.
»Sawyer!«
»Kenji!«, rufe ich, als dieser mich kurzerhand in den Arm nimmt und mich von oben bis unten mustert. »Alles okay bei dir?«
Zögernd nicke ich ihm zu und wir lösen uns voneinander. Er nennt mich, seitdem wir uns kennen, immer beim Nachnamen, weil er diesen total abgefahren findet.
Kenji wendet sich an Shelter. »Hey, Mann! Was geht ab? Wusste gar nicht, dass du mit Sawyer befreundet bist.«
Für kurze Zeit hört mein Herz auf zu schlagen und mein Atmen stellt sich ein. Shelters Augen durchbohren mich mit derselben Frage, die ich mir im Moment ebenfalls stelle. Sind wir auf gutem Wege, wieder so etwas wie Freunde zu werden?
Shelter räuspert sich und wirkt ein wenig verunsichert, als er seinen Blick wieder auf Kenji haftet. »Ja - also, wir kennen uns von früher. Ich hab' dir ja erzählt, dass sie mich vor knapp anderthalb Wochen in Milwaukee gefunden hat.«
Kenji scheint ein Licht aufzugehen. »Ach, ja! Stimmt. Das habe ich voll verdrängt, Mann.«
Shelter lacht gezwungen. Ihm ist diese Situation äußerst unangenehm, genau wie mir. Da ist irgendeine Spannung in der Luft.
Kenji scheint dies zu bemerken. Sein Blick wandert zwischen Shelter und mir hin und her. Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Habe ich euch irgendwie gestört oder so?«
Bevor ich etwas erwidern kann, hebt er auch schon abwehrend die Hände in die Luft und geht rückwärts auf die Tür zu. »Oh Mann, wart ihr etwa gerade kurz vor einem Quickie? Scheiße Alter, das wollte ich nicht-«
»Kenji!«, unterbreche ich ihn entsetzt, »Nein! Nein, nein, nein! Du hast uns nicht gestört!«
»Heilige Mutter Maria«, seufzt Kenji erleichtert, während er die Arme wieder runternimmt.
Ich werfe ihm einen angewiderten Blick zu. »Oh mein Gott, was geht nur in deinem Kopf vor? Das ist ja widerwärtig«, zische ich.
Shelters Blick huscht amüsiert zu mir. »Vielen Dank auch, Sawyer.«
Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen und seufze in mein Kissen. Jetzt fängt er auch noch mit der Nachnamen-Geschichte an.
»So meinte ich das auch wieder nicht«, murmle ich entnervt in das Kissen.
»Ja ja«, lacht Shelter auf, worauf Kenji mit in das Gelächter einstimmt.
Ich rolle mit den Augen, setze mich wieder auf, greife nach dem Kissen und schleudere es auf die beiden.
»Hey!«
Kenji bückt sich um das Kissen aufzuheben und will es gerade zurückwerfen, als ich mit meinem Zeigefinger auf die Tür deute. »Raus hier, ihr geht mir auf die Nerven!«
Ich fange das Kissen geschickt auf und Shelter und Kenji begeben sich immer noch grinsend auf den Flur und lassen die Tür ins Schloss fallen.
Ebenfalls grinsend schüttle ich nur den Kopf und kann nicht fassen, was in den letzten Minuten alles passiert ist.
DU LIEST GERADE
Shelter is your Name
Fiksi Ilmiah»When I was young I didn't understand, but now, I know how absence can be present, like a damaged nerve, like a dark bird.« - Audrey Niffenegger, The Time Traveler's Wife Amory Sawyer ist eine Auftragskillerin der ICCJ - der International Central Co...