Sano

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(2013: Rückblick 28)

Pov.: Julien

Salah hatte beschlossen die Angelegenheit auf morgen zu verschieben und so waren alle ins Bett gegangen. Am nächsten Morgen fanden wir uns alle in der Küche ein.
Sunny half mir bei jeder Bewegung und mit seiner Hilfe schaffte ich es bis zum Tisch zu gehen. Ich spürte nicht mehr diese Höllenqualen wenn ich ging, die ich kurz nach dem Angriff hatte und ich sah das als einen positiven Vorschritt.

Am Tisch saßen ich, Dima, Salah, Akay, zehn weitere Männer von Salah und das Bandenmitglied der Blue Wings Juri - unser Gefangener, Geretteter, Feind, oder was immer er auch war.

Außer seinem Namen schien er keine Wörter zu kennen, denn seit dem hatte er nicht ein Wort gesprochen. Still schweigend saß er am Tisch, die Hände nach wie vor mit Kabelbinder gefesselt, und gab keinen Ton von sich.

Die allgemeine Situation war mehr als seltsam. Alle saßen am Tisch und aßen hungrig ihr Frühstück, während sie sich darüber unterhielten was mit Juri geschehen sollte, während dieser mit am Tisch saß und einfach nur zuhörte ohne einen Kommentar abzugeben.

„Wir werden ihn hierbehalten", bestimmter Salah schließlich. „Er ist im Moment unser geringstes Problem. Wir müssen uns zuerst darum kümmern, dass die Angriffe der Blue Wings aufhören. Es muss einen Weg geben sie zu zerschlagen."

„Irgendwelche Ideen?", fragte er Juri ohne eine Antwort zu erwarten.
Dieser sah ihn nur schweigend an.

„Wie auch immer" fuhr Salah fort. „Wir werden Gruppen bilden um herauszufinden wo die Blue Wings ihre Zentrale haben, wie sie organisiert sind und wer das Sagen hat. Und Julien?" Ich blickte auf „Ist es zu viel verlangt, wenn ich frage ob du dich um ihn kümmern möchtest?" Er deutete mit einem Kopfnicken auf Juri. „Du musst nur aufpassen, dass er nicht abhaut."

„Geht in Ordnung", sagte ich.

Das Haus leerte sich langsam, als einer nach dem andern in Gruppen die Wohnung verließ.

Zurück blieben Dima, Juri und ich.

Zuerst ignorierten wir Juri. Dima und ich führten Smalltalk und unterhielten uns über das was vorgefallen war. Nach einer Weile stand Dima jedoch auf.

„Ich werde noch weiter recherchieren was diesen Dennis Sand angeht. Ich möchte wissen, ob ich nicht noch etwas über ihn herausfinden kann. Falls Juri auch nur die kleinste Kleinigkeit versuchen sollte ruf mich. Ich bin gleich im Zimmer neben an."

„In Ordnung. Ich komm hier schon alleine klar."

Etwas skeptisch warf Sunny Juri noch einen Blick zu bevor er verschwand. Ich bemerkte wie dieser bei unserem Gespräch interessiert zugehört hatte. Das erste Mal seit seinem Aufwachen hatte er eine kleine Reaktion gezeigt.

„Was?", fragte ich ihn.

Kurz sah es so aus, als ob er etwas sagen wollte, doch dann wandte er sich wieder von mir ab und schüttelte den Kopf.

Ich lehnte mich in meinen Sessel zurück und versuchte meine verwundeten Stellen zu entlasten. Ich hatte nicht vor in der nächsten Zeit aufzustehen um dadurch unnötig Schmerzen heraufzubeschwören und Juri sah aus, als ginge es ihm genauso.

Es war skurril. Noch vor wenigen Stunden hatten wir uns gegenseitig versucht umzubringen und nun saßen wir am selben Tisch und waren beide durch unsere Schmerzen metaphorisch an unsere Stühle gefesselt.

„Was kann im Leben so falsch laufen, dass man sich den Blue Wings anschließt?"

Juri schwieg.

„Immerhin hätten die dich dort wohl zum Sterben zurück gelassen."

Juri schwieg weiterhin.

Ich merkte, dass er von seinem Frühstücksteller noch kein einziges Stück angerührt hatte.

„Ich kann dich echt nicht leiden, immerhin hast du versucht mich umzubringen, aber trotzdem solltest du was essen. Wie haben dich nicht zusammengeflickt nur damit du dann verhungerst."

Juri starrte sein Essen an, machte aber keine Anstalten zu essen.

Ich seufzte. Man sollte meinen, dass ich den Jungen hasste, doch irgendwie mochte mir das nicht so recht gelingen. Er schien nicht so, als hätte er eine pure Mordlust. Ich hatte mehr die Vermutung, dass er verzweifelt war. Dadurch hatte er sich einer Gang angeschlossen, die ihm vorgab andere aus Prinzip zu hassen. Das war die Hauptzielgruppe der Blue Wings. Junge Erwachsene die sonst nicht wussten wohin mit ihrem Leben."

Ich entschied für mich, dass es keinen Zweck hatte einen Hass ihm gegenüber zu entwickeln. Ich war verletzt worden, er war verletzt worden. Nun saßen wir beide im selben Boot und konnten uns nicht ohne Hilfe von der Stelle rühren. Nicht das beste Verhältnis das man haben konnte, aber wir waren quitt. Mein Hass richtete sich eher gegen die Blue Wings. Die, die sie Anführten, die die neue Mitglieder rekrutierten und vor allem John Webber, der es wohl irgendwie geschafft hatte dort hinein zu geraten.

Juri starrte noch immer sein Essen an. Sein Magen fing an zu knurren. Das überzeugte ihn wohl genug um doch damit anzufangen einen Happen seines Essens zu kosten. Amüsiert sah ich zu wie er versuchte mit beiden Händen gleichzeitig zu essen die immer noch zusammenfixiert waren.

„Nur fürs Protokoll", begann ich erneut. „Solange du nicht nochmal versuchst mich anzugreifen sind wir quitt. Ich werde das auch nicht persönlich nehmen."

Überrascht blickte Juri von seinem Essen hoch, jedoch nur für eine Sekunde.

Ich sah ihm noch eine Weile dabei zu.
Wir saßen nun schon eine halbe Stunde zu zweit und langsam wurde mir langweilig.

„Einen guten Gesprächspartner gibst du ja nicht gerade ab."

Juri ignorierte mich.

„Kannst du noch andere Wörter außer deinen Namen?"

Schweigen.

„Wer sind deine Vorbilder? Hodor? Groot? Chewbacca?"

Noch mehr Schweigen. Genervt stöhnte ich auf. Ich hatte nun keine Lust mehr auf diesem Sessel zu sitzen und absolut nichts zu tun. Ich hätte Dima rufen können um mir mein Handy zu bringen, oder um ihn zu fragen ob ich ihm helfen könnte, oder ihn um Hilfe zu bitten beim Aufstehen, doch ich entschied mich dagegen. Ich wollte versuchen ob ich es auch alleine schaffte.

Ich zog mich an der Tischkannte hoch und verlagerte mein Gewicht probehalber von der einen auf die andere Seite. Schließlich ließ ich den Tisch los und stand ohne Hilfe. Ich kam mir vor, als würde ich wieder Gehen lernen müssen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und stellte fest, dass es besser ging, als ich erwartet hatte. Juri sah mir interessiert zu, wie ich wacklig auf den Beinen die Küche durchquerte. Ich steuerte einen bestimmten Kasten an. Eine Ewigkeit später war ich dort angekommen und ruhte mich erst einmal aus. Ich hatte mich so konzentriert, dass mir nicht aufgefallen war, wie sehr mein Brustkorb dadurch beansprucht worden war. Nun meldete er sich mit einer Beschwerde zurück indem er stark zu schmerzen begann.

„Scheiße", murmelte ich und presste meine Hand dagegen in der Hoffnung es würde aufhören. Zumindest war ich jetzt abgelenkt und die Langweile war weg. Aber ich war schließlich nicht ganz ohne Grund aufgestanden. Mein Ziel war dieser Kasten gewesen bei dem ich nun eine Schublade aufzog. Ich wusste mittlerweile was sich wo befand und so hatte ich nach kurzem Suchen die richtige Schachtel in der Hand: Schmerztabletten.

Ich las mir die Packungsbeilage durch und entschied anschließend doppelt so viele zu nehmen wie darauf empfohlen wurde. Mit den heutigen Tabletten konnte man sich ohnehin nicht mehr umbringen, also was sollte schon schiefgehen. Und falls doch war es mir in dem Moment auch recht, da die Schmerzen stärker, als zuvor einsetzten und ich es langsam nicht mehr aushielt.

Ich lehnte mich an den Kasten und wartete bis die Wirkung einsetzte. Nach guten zehn Minuten fühlte ich mich zumindest soweit erholt, dass ich meine Rückreise zum Stuhl anzutreten konnte. Die Schachtel nahm ich sicherheitshalber mit.

Started from the BottomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt