Sanguis

272 10 6
                                    

(2013: Rückblick 17)

Pov. Julien
Es war kalt draußen. Der Schnee am Straßenrand war verdreckt und die Erde matschig. Salah hatte uns in einem schwarzen Pickup abgeholt und nun parkten wir auf der anderen Straßenseite des Lagerhauses. Noch waren wir in Salahs Gebiet, doch das sollte sich bald ändern. Wir hatten während der Fahrt hierher alles besprochen, es musste nichts mehr gesagt werden und so herrschte allgemeine Stille. Ein Mann öffnete die Wagentür von außen. Er nickte Salah zu. -Luft ist rein.- Alle im Wagen, darunter auch ich, stiegen aus dem Wagen aus. Äste knackten unter unseren schweren Schritten und wir sanken im Schlamm ein, der sich durch den geschmolzenen Schnee gebildet hatte. Wir hatten Taschenlampen dabei, aber das Mondlicht gab uns genug Licht um den Weg zu sehen. Im Mondschein sah man unsere Waffen aufblitzen, die jeder von uns bei sich trug. Ich sah mich nach Sunny um. Er war dicht hinter mir. Neben ihm ging dieser Typ Akay, mit dem er bei der Besprechung geredet hatte. Ich richte meinen Blick wieder nach vorne und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. In einigen Stunden würde ich entweder meinen Hund zurück haben, oder... ich wollte diesen Satz nicht zu Ende denken. Ich hatte genug vom Warten, ich wollte Mika endlich wieder bei mir haben. Die Ersten waren schon bei der Lagerhalle angekommen und begannen sofort sich rund um sie aufzustellen um wache zu halten. Wir waren 16 Männer und unser Ziel war, alle unversehrt nach Hause zu bringen, inklusive Mika. Salah stand vor der Türe zum Eingang. Es war eine kleine Blechtüre die mit Eisenketten verschlossen war. Akay holte eine Eisenzange heraus und zerstörte das Schloss. Nun war es offensichtlich, dass wir hier gewesen waren. Die Ketten vielen mit einem lauten Klimpern zu Boden. Das Geräusch durchschnitt die Stille, die Stimmung wurde angespannter. Salah drückte die Tür auf und zu viert betraten wir den Stützpunkt der Skorpione. Der Gangleader und Akay gingen mit erhobener Waffe in das Gebäude und sahen sich um. Sunny und ich folgten. Ich hatte meine Waffe für den Notfall vor entsichert, sie stammte von meinem Vater, der Polizist war. Er hatte eine Lizenz dafür und bewahrte sie sicher verstaut in einem verschlossenen Kasten auf. Ich war dennoch an die Waffe gekommen und es fiel ihm bestimmt nicht auf, da er sie nie benutzte. Außerdem hatte ich sie mir ja nur geliehen. Zwar ohne sein Wissen und sein Einverständnis. Aber geliehen war geliehen. Er würde sie schon wieder zurückbekommen. Meinen Umgang mit Waffen hatte ich vom Heer. Dima dagegen hatte kaum Ahnung davon. Ich warf ihm einen Seitenblick zu. Er sah entschlossen aus, als könnte ihn nichts aufhalten. Er wirkte fast schon zuversichtlich, was man von mir nicht behaupten konnte. Meine Nerven waren wie Drahtseile gespannt und meine Hände schwitzten. Ich hatte Angst die Waffe aus Versehen fallen zu lassen.

Wir tasteten uns weiter in das Innere des Gebäudes vor. Hinter uns fiel die Tür ins Schloss. Es wurde stockfinster und wir konnten kaum die Hand vor Augen sehen. Je weiter wir vorwärtsgingen, desto mehr kam ich mir vor, wie in einem unendlichen Nichts. Meine Begleiter wurden nur noch schemenhafte Umrisse. Ich konnte nicht mehr ausmachen, wie weit wir schon von der Tür weg waren und wo die Wände anfingen und wo sie aufhörten.
Die Lagerhalle im dunklen auszukundschaften hatte keinen Sinn. Wir sahen überhaupt nichts. Wir hatten keine andere Wahl als Licht anzumachen.

„Wo sind die Taschenlampen?", fragte ich leise die anderen. Wir waren mittlerweile stehen geblieben. Mir wurde etwas in die Hand gedrückt.
„Ist die Einzige die wir dabei haben", flüsterte Dima zurück. Ich tastete den Griff ab, um den Einschaltknopf zu finden. Als ich ihn gefunden hatte betätigte ich den Schalter, aber nichts geschah.
„Was ist?", zischte Dima.

Auch die anderen beiden wurden langsam ungeduldig. Wir mussten uns beeilen! Es war gefährlich sich so lange hier aufzuhalten. Mich überkam eine dunkle Vorahnung und ich drückte das Plastik weg um die Batterien freizulegen. Als ich nach ihnen tastete bestätigte sich meine Vorahnung. Sie fehlten!

„Die Batterien sind nicht da!", meine Stimme war nach wie vor gesenkt, doch ich konnte die Verzweiflung darin nicht unterdrücken. Ich wusste, dass wir die Batterien überprüft hatten. Jemand musste sie absichtlich herausgenommen haben. Niemand sprach es aus was wir alle dachten, aber es war auch gar nicht nötig. Wenn jemand nicht wollte, dass wir hier drinnen Licht hatten und etwas sahen, konnten wir uns sicher sein, dass uns jemand eine Falle gestellt hatte.

Wir wurden still. Niemand bewegte sich. Alle versuchten Geräusche von weiteren Personen im Gebäude ausfindig zu machen. Schweiß stand auf meiner Stirn und ich atmete unregelmäßig. Trotzdem lauschte ich angestrengt. War da ein Rascheln? Ein Windzug? Schritte ganz nahe bei uns, oder war es doch weiter weg?

Ich riss mich zusammen. Wir durften jetzt nicht paranoid werden. Wir mussten an Licht kommen.
„Lichtschalter", flüsterte ich so leise ich konnte. Dann löste ich mich von meiner Vierergruppe und tastete mich an der nächsten Wand entlang. Plötzlich geriet ich ins Wanken und wäre beinahe ausgerutscht. Was war das? Ich ging einen Schritt weiter uns stieß mit den Schuhen gegen etwas. Es gab leicht nach, machte jedoch keine Geräusche. Ich versuchte darüber hinwegzusteigen und gleichzeitig schossen mir alle Szenen von Horrorfilmen In den Kopf die ich versuchte auszublenden. 'Nicht hilfreich Gehirn' dachte ich verärgert. Meine Fingerspitzen berührten erneut die Wand. Nach einigen Schritten fühlte ich ein anderes Material. Es war das gewellte Blech der Tür. Erleichtert stieß ich sie auf. Der Mondschein reichte aus, um den Lichtschalter zu finden, der direkt neben der Tür angebracht war.

Sofort betätigte ich ihn. Licht blendete mich. Ich musste meine Augen zusammenkneifen. Im nächsten Augenblick hörte ich Dima laut 'Fuuuck' schreien und Salah brüllte Befehle nach draußen. Geschockt öffnete ich die Augen. Im grellen Weißlicht der Deckenlampen sah man das reinste Blutbad. Einige Meter vor mir lang ein Mann auf dem Boden. Seine Brust zierte ein tiefes Einschussloch. Seine Haut war leichenblass und sein ganzer Körper war blutdurchtränkt. Dieser Anblick bot sich mir wiederholt, als ich den Kopf abwandte und mich umschaute. Überall waren Leichen auf dem Boden. Alle hatten ein bis zwei Schusswunden. Erstarrt vor Schock blieb ich an Ort und Stelle stehen, während unsere restliche Gruppe den Befehlen Salahs nachging und hereingestürmt kam. Nur einige Sekunden nahmen sie das Szenario das sich ihnen bot in Augenschein, bevor sie sofort reagierten und das Gebäude von innen sicherten. Innerhalb von Sekunden war aus der angespannten Stille ein lautes Trampeln geworden. Überall wurde sich etwas zugebrüllt. Hektisch rannten alle die Treppen in den oberen Stock hinauf um dort nach anderen Menschen zu suchen. Man fand noch mehr Tote, jedoch nicht die Täter dieser Morde und auch keinerlei Hinweise oder Indizien auf sie.

Nach zehn Minuten hatten sich alle versammelt und standen bei Salah. Dima kam auf mich zu.
„Alles ok?" Sein Gesicht war besorgt, als wäre ich hier der Einzige, der gerade einen Leichenfund gemacht hatte. Ich löste mich aus meiner Schockstarre und nickte.
„Warum nimmt dich das nicht mit?", fragte ich ihn.
„Tut es, aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt das zu zeigen", raunte Sunny mir zu.
Er hatte Recht. Ich riss mich zusammen.

Mein Blick wanderte auf meine Schuhe. Sie waren voller Blut. Angeekelt sah ich weg. Nun wusste ich auch, warum ich vorhin fast ausgerutscht war und mit einem Blick auf den Mann wusste ich auch, über was ich gestiegen war. Bei der Vorstellung drehte sich mir der Magen um. Die Gedanken an die Horrorfilmszenen waren plötzlich doch nicht mehr so weit hergeholt und wirkten im Gegensatz dazu fast lächerlich. Hier gab es keine Monster, die dich im Dunklen ansprangen. Hier lagen tote Männer mit Schusswunden. Echte Leichen. Das war zu viel für mich. Ich packte Sunny am Handgelenk und zog ihn mit vor die Tür.

„Wir müssen reden", sagte ich und sah ihn dabei ernst an.

Started from the BottomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt