1. Aufbruch ins Ungewisse

62 8 5
                                    


Pünktlich zum Sonnenaufgang trafen sich Lorenz und Tristan am verschneiten Marktplatz.
Der junge Leutnant zog eine Augenbraue hoch, als er den Alten mit seinem Reittier warten sah: "Gallopa? Ist das eins von meinen Leuten?"
Der Alte zuckte mit den Schultern und brummte: "Die brauchen's eh nimmer. Außerdem hab ich euch mein Onix auch gegeben, damit das klar ist"

Der junge Mann bat um einen kurzen Umweg zum Bolca-Haus.
Mit halboffenen Augen fragte der Alte: "Mh, musst dich von deiner Süßen verabschieden, was?"
Sein junger Begleiter reagierte nicht weiter auf die Frage. Stattdessen stoppte er kurz am Briefkasten und legte sein Papier hinein. Er setzte sich auf Arkani und war startklar.
"Willst sie gar nicht mehr sehen oder was?", wollte Lorenz wissen.
Tristan reagierte erst gar nicht und meinte nach einer Denkpause: "Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was dich das angeht."

Schweigend durchquerten sie das Stadttor und fanden sich mitten im Wald wieder. Es schien keine Sonne, sodass Tristan den Weg nach Süden nur erahnen konnte. In etwa wusste er aber, von wo er hergekommen war.
Als sich Lorenz sicher war, dass niemand mehr mit hörte, antwortete er: "'Ne ganze Menge. Ich kenn Elena, seit sie 'n verdammtes schreiendes Baby war. Hab sie aufwachsen sehen und so. Will mir nicht anmaßen, zu beurteilen, wie's ihr geht, aber naja..." Lorenz wartete darauf, weitersprechen zu dürfen.
Weil Tristan neugierig wurde, nickte er dem Alten zu.
"Weiß jetzt nicht, wie du sie kennengelernt hast, aber früher war sie 'n fröhliches nervtötendes Kind. Summte den ganzen Tag vor sich hin und war verträumt. Aber das Schicksal hat's nicht gut gemeint mit den Lacaors und ihre Mutter ist gestorben. Dann, vier Jahre später, ist ihr Bruder im Krieg gefallen. Von dem hat sie übrigens auch ihr Pokémon."
Der junge Mann unterbrach ihn kurz: "Das weiß ich. Aber erzähl weiter."

Der Alte holte tief Luft und fuhr fort: "'N Jahr danach ist ihr Vater an die Front geschickt worden. Stellung halten am Silberberg; die Stellung, die ihr Bruder 'n Jahr davor in der verheerendsten Schlacht seit langem verteidigt hatte. Seine Leiche wurde nie gefunden und die beiden Mädchen mussten ins Waisenhaus.
Von dem einst fröhlichen Mädchen von früher war nur noch ein Schatten ihrerselbst übrig. War abgemagert und ist nicht mehr rausgegangen. Glaub' nicht, ich wollt nicht helfen, aber ich konnte nichts erreichen. Niemand konnte das. Das ist fast 'n Jahr gegangen. Aber aus irgendeinem Grund hat sie gar keine Hilfe gebraucht. Auf einmal hat sie Verantwortung übernommen; für ihre Schwester und für Dratini.
Das Pokémon, tss. Am Anfang wollte sie's noch nicht mal. Aber zu Ehren ihres Bruders hat sie's dann doch behalten.
Und so hat sie wieder zu leben begonnen und wurde rebellisch. Hast du am besten von allen erfahren dürfen... Trotzdem lässt sie niemanden mehr so richtig nach an sich ran. Hat wohl Angst vor noch mehr seelischen Schmerzen..."

Diese Worte versetzten Tristan einen Stich; war er doch sehr nahe an sein Mädchen rangekommen. Mit seiner Abreise hatte er bestimmt ihr Herz gebrochen... Vermutlich verfluchte sie ihn gerade dafür, was er ihr angetan hatte. Sein schlechtes Gewissen von heute Morgen drückte seine Stimmung und unwillkürlich ließ er seine Mundwinkel hängen. Er konnte nur hoffen, dass Elena seine Beweggründe verstehen würde, nachdem sie seinen Brief gelesen hätte.

Weiter im Süden ließ die einst geschlossene Schneedecke immer mehr Grashalme zum Vorschein kommen. Kurz vor Mahagonia war das Land komplett grün. Die Stadt durchreisten die beiden Männer auf kürzestem Wege. Wenigstens gab es hier keine Soldaten. Vermutlich waren alle in Viola oder auf dem Weg nach Oliviana.
Nach ein paar Tagen der gemeinsamen Reise entschied sich Tristan dazu, Lorenz die ganze Wahrheit zu sagen; über sich, Elena, ihren Kuss und seine Vergangenheit. Es schmerzte ihn ungemein, über Marcos Tod zu reden. Aber Lorenz schien die nötige Distanz zu haben, um nicht zu emotional zu reagieren; wobei emotional bei dem Alten ohnehin so eine Sache war.
"Aber sie wollte unbedingt mit mir reisen, obwohl ich doch will, dass sie in Sicherheit ist. Und deshalb bin ich ohne Gruß abgereist", beendete Tristan seine Ausführungen.
Lorenz kommentierte: "Mich hat's ehrlich gesagt gewundert, dass du sie im Wald abholen und mit uns evakuieren wolltest. Warum du so viel für sie riskierst, weißt du. Hab nicht geahnt, dass da 'ne Freundschaft zu Marco dahinter steckt. Aber schön, so läuft nun mal das Leben. Schade nur, dass du's ihr jetzt so dreckig gemacht hast. Dafür wird sie dich immer hassen."
Ein Kloß im Hals drückte gegen Tristans Luftröhre. Zu gerne hätte er sein Mädchen bei sich gehabt. Aber die Entscheidung, sie trotzdem zu verlassen, war die richtige. "Umso besser, wenn sie mich jetzt hasst. Dann bleibt sie jetzt wenigstens daheim und ist in Sicherheit."
Lorenz begriff erstmals den überstürzten Abreisewunsch seines Kumpanen: "Ach?! Deswegen konntest du's kaum erwarten, aus Merbaum abzuhauen?"
"Ja. Hätte sie mitbekommen, dass wir abreisen, hätte sie sich uns aufgedrängt. Außerdem ist die Sache um Oliviana wirklich eilig."

Nach einem kurzen Moment das Schweigens fragte Lorenz weiter: "Bist wirklich in sie verliebt, hm?"
Mit einem verzweifelten Blick sah Tristan auf den Alten und nickte: "Das erste Mal überhaupt. Ich hatte ja nie die Zeit, ein Mädchen so gut kennenzulernen. Seit ich 16 bin, bin ich im Militär. Da bin ich nie zu sowas gekommen."
"Und dann pickst du dir gleich so ein Exemplar raus. Herzlichen Glückwunsch", sagte Lorenz ohne echte Gefühlsregung.
Einen Moment lang dachte Tristan wirklich, dass der Alte eigentlich nicht so war, wie er ihn bisher kennengelernt hatte. Aber er war genau so. Nur ausnahmsweise ließ Lorenz einen Blick hinter die Fassade zu.

Der junge Mann suchte ein neues Thema: "Warum wolltest du eigentlich mit mir reisen?"
"Hab vor 'n paar Tagen 'ne Botschaft via Taubsi bekommen. Muss unbedingt in den Zinnturm kommen. Und da du ja eh auf'm Weg nach Oliviana bist...", erklärte sich der Alte.
"In den Zinnturm?", fragte Tristan mit großen Augen: "Da darf man doch nur rein, wenn man den obersten Weisen von Ho-Oh geschlagen hat?"
Lorenz zog seine Schultern hoch: "Ho-Oh, Zinnturm, Tradition; was soll's. Wir sind im Krieg, da darf man sich alles erlauben."

Vor ihnen lag die Seenlandschaft, zu ihrer Rechten erhob sich der Kesselberg.
"Morgen oder übermorgen dürften wir in Teak sein", mutmaßte Tristan.
"Haben doch schnelle Pokémon. Morgen sind wir dort", grinste Lorenz selbstsicher.
Ein wenig fürchtete sich der junge Leutnant schon vor dem, was ihn erwarten würde: "Das letzte Mal, als ich in der Stadt war, hab ich Elena aus dem Kerker befreit. Denkst du, das könnte mir noch Probleme bereiten?"
Der Alte schüttelte den Kopf: "Nee, wieso denn?"
"Ich mein ja nur; wir müssen quer durch die ganze Stadt, um zum Zinnturm zu kommen", wich Tristan zurück.
"Pfff", winkte Lorenz ab: "Du kennst dich in Teak einfach nicht aus. Lass den alten Sack das machen, von mir kannst du noch was lernen, Kleiner."

Dieses Kapitel hier ist kurz; das andere, was ich gleich noch hochlade, ist noch kürzer.
Nachdem ich meine beiden Protagonisten voneinander getrennt habe, muss die Story erst wieder Fahrt aufnehmen (ich hoffe ihr versteht das).
Aber die Kapitel werden wieder länger, versprochen (ich meine, dass das ohnehin schon die beiden kürzesten waren in Band 2).

Pokémon - Die Legende von Johto (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt