4. Goldlaub

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Der Glockenklangpfad war eingefasst von goldenen Bäumen, die ihre Blätter zu Boden warfen. Der Weg war von einer weichen Decke aus buntem Laub bedeckt, auf welcher sich der Morgentau niederschlug. Der in den Himmel ragende Zinnturm erhob sich vor Tristan und Lorenz.
Wieder hatte der junge Mann dieses unerklärliche Halskratzen und er räusperte sich. Ob in dieser Stadt irgendetwas in der Luft lag, was das verursachte? Doch sein Begleiter hatte keine Probleme in dieser Art.

Ohne mitten durch die Stadt zu müssen gelangten sie zu Ho-Ohs Huldigungsstätte. Lorenz war tatsächlich eine große Hilfe. So stieg er von Gallopa ab und klopfte an die Tür.
Der junge Mann schluckte: "Es fühlt sich falsch an, hier zu sein und gleich den Turm zu betreten."
Der Alte verdrehte die Augen: "Du hast Probleme, Junge. Wir sind im Krieg! Scheiß auf die Tradition."
Ein alter Herr mit Halbplatte öffnete die Tür: "Lorenz! Wie schön dich zu sehen!"
Tristan konnte den Gastgeber als den obersten Ho-Oh-Weisen namens Franz Mondero identifizieren.
"Ich freue mich auch, du alter Sack!"
Der Weise winkte die beiden Besucher hinein: "Kommt doch."
"Weiser Franz, ich bin nicht berechtigt, den Zinnturm zu betreten", klärte Tristan auf.
Lorenz klatschte sich auf die Stirn: "Fängt der Depp schon wieder damit an."
Franz lächelte freundlich: "In besonderen Zeiten ist auch eine Ausnahme gestattet... Wenn Ihr wüsstet, wer schon alles im Zinnturm gewohnt hat - und das unbefugt. Ho-Oh hätte den Turm längst in Flammen gehüllt, hätte es etwas dagegen."
So ließ sich Tristan überzeugen und betrat den Turm. Die Tore waren mit aufwendigen Schnitzereien von Ho-Oh und silbernen Beschlägen verziert. Im Turm selbst befand sich mitten im Raum ein Balken, der bis zur Spitze ragte. Gepolsterte Sitzbänke und ein Rednerpult aus Holz fanden einen Standort.
"Ja, es war mal so etwas wie ein Gemeinschaftsraum für alle. Seit niemand mehr in den Zinnturm darf, hat sich das mit der Gemeinschaft aber auch erledigt", erläuterte Franz.

Dem alten Ebenholzer brannte eine Frage unter den Fingernägeln: "Wo ist denn der Albert?"
Der Weise räusperte sich: "Der ist mit Julius nach Oliviana aufgebrochen, um den Kapitän zu warnen. Der General hat einen Präventivschlag gegen die Küstenstadt vor."
Lorenz winkte ab: "Das weiß ich schon lange. Ich dachte nur, dass ich den alten Volldepp hier treffe, wenn er mir schon ´nen Brief geschickt hat."
"Ja, jemand muss eingreifen und den Olivianern helfen", sprach Franz leise und wandte sich zu Tristan: "Ihr seid der Avila-Erbe richtig?"
Der junge Mann nickte.
"Eure Schwester lebt", klärte der Weise auf.
Seine Kinnlade blieb offen stehen, konnte er diese wohlklingenden Worte doch kaum verarbeiten: "Was? Wie?"
"Mein Enkel hat sie in Anemonia gefunden. Sie ist wohlauf."
Ein breites Grinsen überkam Tristan und seine Augen strahlten im Hinblick der aufkommenden Freudentränen. "Dann hat es Rizeros tatsächlich geschafft, sie in Sicherheit zu bringen. Das ist unglaublich", wisperte er mit einem Schluchzen.
Arkani befreite sich schwanzwedelnd aus dem Pokéball, sodass er seinen Hund streichelte: "Du freust dich auch, Kini, ich weiß. Wo ist sie jetzt? Ich muss sie sehen."
Franz krächzte ein paar Worte: "Sie ist davon gelaufen..."
Der junge Mann runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Der alte Weise wagte es kaum, einen Blick auf Tristan zu werfen: "Gestern habe ich ihr gestanden, dass mein Sohn eure Mutter getötet hatte..." Er kaute auf seinen Lippen und nannte Zecharius mutmaßliches Motiv: "Er wollte wohl der Auserwählte sein, doch stattdessen wählte Lugia Eure Mutter. Es tut mir so leid."
Der schwarzhaarige Kerl wich zurück: "Das überrascht mich." Die anderen beiden starrten gespannt auf ihn, weshalb er fortfuhr: "Immerhin wusste Cecilia, dass der Mörder unserer Mutter Zecharius war."

"Was!?", schrie Franz aus: "Woher? Das wurde doch unter Verschluss gehalten!"
Tristan verzog eine Augenbraue und zupfte an seiner Uniform: "Ein Kamerad schuldete mir einen Gefallen und hat mir Zugang zu den Geheimakten verschafft. Ich habe es nur Cecilia erzählt, weil ich denke, dass sie ein Recht darauf hat zu wissen, wer unsere Mama getötet hat. Aber wie kommt es, dass sie über Euer Geständnis überrascht war?"
Der Ho-Oh-Weise atmete tief ein: "Julius glaubt, dass Lugia Eure Schwester vor dem Ertrinken gerettet und ihr daraufhin ihre Erinnerungen genommen hat. Es gibt alte Legenden die besagen, dass Lugia auf diese Weise seinen Auserwählten sucht."

"Verstehe", nickte Tristan und fasste sich ans Kinn: "Aber um auf das Motiv Eures Sohnes zurückzukommen; war er nicht ein Verehrer Ho-Ohs? Wie kommt es, dass er um jeden Preis Lugias Auserwählter sein wollte?"
Franz seufzte aus: "Julius hat dieselbe Frage gestellt, aber ich denke, für Ruhm und Ehre tat Zecharius alles - wie seine Tat beweist. Da war es ihm egal, welchen der beiden legendären Vögel er unterjochen konnte." Der Alte kniff die Augen zusammen: "Oder steht in den Geheimakten mehr zu seinem Motiv?"
Der junge Mann schüttelte den Kopf: "Keineswegs. Nur Dinge wie, dass ich schreiend neben Isabella lag und sie erstochen in ihrer Blutlache am helllichten Tag von Cecilia gefunden wurde. Die Beweislage hinsichtlich Zecharius Dolch, seiner blutverschmierten Kleidung und seiner Fingerabdrücke ist aufgeführt. Sogar seine heimliche Exekution ist dokumentiert... Ja, da hat der damalige General Euch gegenüber einen großen Dienst erwiesen, als er das alles vertuscht hat... Zecharius zurück im Militär; starb im Krieg. Es war genial, war es doch nichts ungewöhnliches, dass Leute im Krieg fielen. Und das alles nur, um den obersten Weisen von Ho-Oh zu schützen..."

Reuevoll starrte Franz zu Boden und schniefte: "Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid."
Tristan verdrehte die Augen und winkte ab: "Ihr könnt doch auch nichts dafür. Nur, wie im Nachhinein damit umgegangen wurde, stößt mir auf. Aber seid versichert, dass von mir niemand etwas erfährt. Noch nicht mal mein Vater - und der sucht schon ein paar Jahre länger nach dem Mörder."
"Isaak", schluchzte der Weise aus: "Er hätte ein Recht darauf..."
Der junge Mann zog beide Augenbrauen in die Höhe: "Dann kümmert Euch selbst darum. Ich muss Cecilia finden. Wisst Ihr, wo sie ist?"

Bedauernd schüttelte Franz den Kopf: "Sie wollte sich die Gischtglocke beschaffen, um Lugia herbeizurufen. Die hab ich damals ins Tanztheater gebracht. Wo sich Eure Schwester aufhält, kann ich aber wirklich nicht sagen."
"Auch egal", winkte der junge Mann ab: "Ich muss sie finden."
"Der Silberflügel Eurer toten Mutter; ich hab ihn ihren Eltern übergeben, falls Ihr Eurer Schwester mit Lugia helfen wollt", fügte der Weise an.
Tristan verneigte sich vor ihm: "Ich danke Euch vielmals."

Abwehrend erhob Lorenz die Hände: "Woho, Moment mal, und was ist mit mir? Soll ich alleine nach Oliviana reisen?"
Tristan zuckte mit den Schultern: "Seien wir mal ehrlich, Lorenz. Hätte ich Elena nicht nach Merbaum gebracht, wäre ich nie dort aufgetaucht und du hättest so oder so alleine reisen müssen."
"Na schön, ich mein ja nur", seufzte der Alte aus: "Ich hab mich nur schon so an deine Anwesenheit gewöhnt. Du bist mir gar nicht mal so auf den Sack gegangen, und das ist echt ´n Kompliment!"
Tristan ging nochmal sicher: "Dann kann ich dich alleine reisen lassen?"
"Na sicher doch, mach was du meinst, Kleiner."

Vor dem Turm, das Halskratzen war zurückgekehrt, krächzte Tristan: "Kini, kannst du Cecis Fährte aufnehmen? Riechst du sie hier irgendwo?"
Der Feuerhund reckte seinen Kopf in die Höhe und seine Nasenflügel wölbten sich, als er nach der jungen Lady schnüffelte. Wie von Bibor gestochen rannte es los, einmal quer durch die Stadt. Hauptsache, über Schleichwege hier eindringen, um sich am Ende dann doch wieder auf dem Präsentierteller zu zeigen, dachte Tristan für sich.
Aber sein Arkani war so flink unterwegs, dass man seinen Reiter vermutlich noch nicht einmal erkennen konnte. Der Weg, den sein Pokémon einschlug, war ihm alles andere als unbekannt.
Kini blieb vor einem Gebäude auf einer Lichtung im südlichen Teak-Wald stehen.
"Wirklich? Sie ist hier?", fragte der junge Mann erstaunt und stieg von Arkani ab.

Pokémon - Die Legende von Johto (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt