Kapitel 58

271 12 0
                                    

Meine Familie hatte mich direkt nach Haus gebracht, dort hatten schon Ärzte auf mich gewartet. Vollgedröhnt mit Schmerzmitteln hatten sie mich ins Bett geschickt. Ich fühlte mich wie ein Kind, das nicht mit den Erwachsenen über den Tag reden durfte. 

Leise weinte ich vor mich hin.

Durch einen Lichtschein aus dem Flur schreckte ich auf. Automatisch griff ich nach der Waffe auf meinem Nachttisch und richtete sie auf den Eindringling in meinem Zimmer.

"Pack die Waffe weg, Aura. Ich bins nur", murmelte Alex. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, zog er sich aus und stieg zu mir ins Bett. Augenblicklich kuschelte ich mich an ihn und weinte an seiner Brust weiter.

"Ich hatte keine andere Wahl", flüsterte Alex. Auch ihm liefen die Tränen über die Wangen. "Jetzt habe ich niemanden mehr."

"Du hast mich", flüsterte ich. Durch all die Schmerzmittel in meinem Körper war mein Gesicht ganz taub, aber ich konnte zumindest ohne all zu viele Schmerzen sprechen.

"Wir zwei gegen den Rest der Welt", murmelte Alex, "Ich musste meine Schwester töten und du deinen besten Freund."

Verwirrt sah ich ihn an.

"Deine Familie hat mir erzählt wer er war. Aber sie denken, du hättest ihn getötet, weil er dir das angetan hat. Das stimmt aber nicht oder?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Hat Ava dir das angetan? Ist sie für all diese Wunden in deinem Gesicht verantwortlich?"

"Ja, aber das war nicht sie selbst. Das war nicht meine beste Freundin", flüsterte ich unter Tränen.

"Den Mann, den du getötet hast, das war auch nicht dein Freund von früher", versuchte Alex mich zu beruhigen.

"Ich habe ihn geliebt. Wirklich geliebt. Am Anfang war ich sogar glücklich, als ich ihn wieder gesehen habe. Vita mia, mein Leben, so habe ich ihn genannt."

"Du hast ihn begnadigt. Er ist genau wie meine Schwester verrückt geworden. Du hast ihm seinen Frieden gegeben. Wenn wir es so sehen, dann haben wir beide niemanden getötet, sondern nur befreit. Sie sind an einem besseren Ort. Wir waren gnädig. Sie mussten nicht leiden."

"Wie konnte das alles nur passieren?", schluchzte ich.

"Ich weiß es nicht", seufzte Alex. Er war wieder der Alex, den ich kannte. Nicht der hyperaktive fröhliche, den er immer vor anderen spielte. Sondern der ernste Geschäftsmann. Mein bester Freund. Aber mit einem gravierenden Unterschied, jetzt hatte er auch noch den letzten erst seiner Seele verloren.

"Ich werde wieder nach Amerika zurückkehren. Hier ist nichts mehr für mich. Ich habe ein Bündnis mit den drei mächtigsten Drogenkartellen von Italien. Ich muss wieder nach Hause, um mich um meine Geschäfte zu kümmern", erklärte er trocken.

"Alex, du wirst Patenonkel", flüsterte ich. Alex gesamter Körper spannte sich an.

"Das hat sie also gemeint, als sie gefragt hat, ob Luca und Michele es wissen", antwortete er. Ich nickte. "Wann willst du es deinem Mann sagen?"

"Morgen."

"Wieso werde ich Patenonkel?"

"Du bist mein bester Freund, mein Bruder. Und ich will dir zeigen, dass du weiterhin immer eine Familie haben wirst. Dieses Kind in mir, egal ob ein Mädchen oder ein Junge. Es wird dich brauchen. Wir leben in einer viel zu gefährlichen Welt. Versprich mir, dass du immer auf es aufpassen wirst, wenn Luca und ich das nicht können", verlangte ich von ihm.

"Ich verspreche es", Alex sah mich ganz ernst an, als er mir antwortete. Sanft drückte er mir einen Kuss auf die Stirn.

"Was ist mit meinem kleinen Bruder und dir?", fragte ich nach.

"Er ist noch jung. Er muss sich und seine Sexualität noch entdecken. Wenn er bereit für etwas wirklich ernstes ist, weiß er, wo er mich finden kann."

"Habt ihr euch wegen Ava und meiner Entführung getrennt?", hakte ich weiter nach. Denn so weit ich wusste, hatten die beiden eine ernsthafte Beziehung, bevor ich verschwunden war.

"Nein, es war ein großer Streitpunkt, aber wir kamen dadurch auf noch viele andere Dinge zu sprechen. Lass uns jetzt schlafen. Es war eine lange Nacht", wand Alex meine weiteren Fragen ab.

Auch wenn ich mitten in der Nacht aufgewacht war, war ich nicht müde. Hinter den dicken Vorhängen ging die Sonne langsam auf und auch wenn ich es nicht sehen konnte, so wusste ich es doch. Es machte mich nur noch aufgeweckter. Ich wartete noch ab, bis ich mir komplett sicher war, dass Alex am Schlafen war. Dann kroch ich vorsichtig aus dem Bett.

Nach einer schnellen Dusche machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Ich war mir nicht sicher, ob Luca in unserer kleinen Wohnung sein würde, trotzdem machte ich mich dort hin auf den Weg.

Ich wusste selbst nicht, was ich erwartet hatte, aber es war niemand da. Ich konnte nicht einmal Wachen sehen. Allerdings war mir das auch ganz recht. Ich konnte meine Ruhe haben. Niemand der mich untersuchen wollte, mich andauernd fragte, ob alles in Ordnung war und schon gar nicht die ganzen Blicke. Diese schmerzerfüllten Blicke, die mich daran zweifeln ließen, dass ich wirklich ein Mensch war und keine zerbrochene Porzellanpuppe, die man wieder zusammen geklebt hatte.

Es wusste immer noch niemand abgesehen von Alex, dass Ava mir die Verletzungen zugefügt hatte. Anscheinend waren auch alle unglaublich zufrieden mit dem Ausgang der heutigen Nacht. Aber sie hatten auch nichts verloren. Alex hatte seine Schwester verloren, Marco seinen Bruder und ich hatte drei meiner Freunde verloren. Marco war direkt nach Hause zu seiner Frau gefahren. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie er sich fühlen musste. Seinen kleinen Bruder zwei Mal zu verlieren. Einen meiner Brüder auch nur ein einziges Mal zu verlieren, würde mich wahrscheinlich innerlich zum Zerbrechen bringen. 

Ausdruckslos saß ich in Lucas Ohrensessel. Meine Hände waren in meinem Schoß miteinander verschränkt. So saß ich mehrere Stunden einfach nur da und starrte vor mich hin. Ich ließ die gesamte Nacht Revue passieren. Aber egal was anders gewesen wäre, das Ende wäre das selbe gewesen. Ava und Michele wären gestorben. Vielleicht nicht durch Alex und meine Hand, aber sie wären nicht mehr unter uns.

Gegen Mittag stand ich auf und lief ins Schlafzimmer. Erst jetzt konnte ich zur Ruhe kommen und mich hinlegen. Aber auch hier wurde mir der wohltuende Schlaf verwehrt. 

Ich hörte, wie jemand die Wohnung betrat. Es war Luca. Ohne etwas zu sagen legte er sich zu mir und nahm mich von hinten in den Arm. Das war alles, was ich in diesem Moment brauchte. Keine Gespräche, einfach nur Ruhe und die wärmende Umarmung einer liebenden Person.

I will fear no evilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt