Waldschicht

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Am nächsten Tag war die Stimmung in der Mansion wieder so wie normalerweise. Hatten also alle das mit Helen und mir gewusst?

Mein Blick fiel an dem Abend, wo ich „Waldschicht" hatte, auf den Kalender. Das Datum erklärte auch, weshalb immer mehr Leute nachts in den Wald gingen: Bald war Halloween.
Kopfschüttelnd schnappte ich mir meine Waffen, ging dann nach unten und holte mir in der Küche noch etwas Proviant. Mein heutiger Partner war Hoodie. Dieser lud grade seine Waffe nach. Sonst waren nur Ben, Sally und Toby im Wohnzimmer, welche gemeinsam an Halloween-Deko bastelten:
„Dieser Totenschädel sieht aus wie ein Ei mit Flecken!"
„Sei nicht so gemein, Ben! Ich finde Toby hat das gut gemacht."
„S-Schon gut, ich w-weiß, dass er furchtb-bar aussieht."
Ich schmunzelte. Anscheinend war diese Vorfreude wohl auf beiden Seiten vertreten, nicht nur bei unseren Opfern.
Als ich mich Hoodie näherte stand er auf und nickte mir zu. Gemeinsam verließen wir die Mansion.
Momentan befanden wir uns in einem anderen Mischwald, wo die Bäume noch den größten Teil ihrer Blätter besaßen. Auch war es bergig, was auf beiden Seiten ein Nachteil sein konnte. Für die Opfer, da sie sich (vernünftigerweise) so gut wie nie trauten einen Hang herunterzustürzen, und für uns, da es an vielen Stellen schwer wurde sich versteckt zu halten. Ich erinnerte mich noch eine Geschichte, die Tim mir erzählt hatte: Er hatte versucht schnell von einem Versteck zum nächsten zu gelangen, doch war unvorsichtig gewesen, so dass das Opfer nicht nur fliehen konnte, sondern er sich auch noch einen Bänderriss zugezogen hatte. Normalerweise würde man für so einen Patzer hart bestraft werden, doch da es sein allererstes Mal in so einem Gelände war, hatte Slender Nachsicht gezeigt und ihn nur die komplette Mansion mit einer Nagelschrubbbürste reinigen lassen.
Zugegeben, Tim war damals durch Toby im Nachteil gewesen. Wenn ich einen Patzer machen sollte, könnte Hoodie das Opfer immernoch erschießen. Darum war Hoodie auch so wertvoll:
Er war der einzige, der eine Fernwaffe beherrschte.
Ja, man könnte auch Messer werfen. Aber im Dunkeln war es schwer es dann wiederzufinden, weshalb wir zu solchen Angriffen nur im absoluten Notfall griffen.
Momentan wurde Hoodie aber wegen des großen Verkehrs in unseren Gebieten jede Nacht zur „Waldschicht" eingeteilt. Auch wenn er sich Mühe gab sich nichts anmerken zu lassen, wussten sowohl wir Proxys als auch Slender, dass Hoodie von Tag zu Tag etwas erschöpfter wurde. Auch wenn er meistens seine Waffe nicht einsetzen musste, so war das stundenlange Rumlaufen doch anstrengend.
Instinktiv wussten wir beide, dass wir uns einig waren auf einen steileren Kamm zu gehen, der über einem Weg war, welcher wiederum an einem Hang auf der anderen Seite grenzte, welcher circa 20 Meter tiefer an einen anderen Weg anschloss. Vorteil dieser Taktik war, dass die meisten Opfer sich so in die Enge gedrängt fühlten und deshalb wie angewurzelt stehen blieben.
Wir fanden einen Wurzelteller, hinter dem wir uns auf die Lauer legten und währenddessen die Gegend nach weiteren Verstecken absuchten. Natürlich war es uns nicht erlaubt sich die ganze Zeit an einem Ort aufzuhalten. So würden uns viel zu viele Opfer durch die Lappen gehen.
Tatsächlich kamen schon bald Lichter in der Ferne und der Wind trug die Stimmen lachender Teenager zu uns herüber. Hoodie und ich schauten ubs an, dann rannte er schon so lautlos wie möglich zu einem Hochsitz in der Nähe der Gruppe, die nach links abbog. Doch eine Person wechselte den Kurs und kam in meine Richtung. Ich fuhr meine Dölche aus und schlich langsam und geduckt den Hang hinunter. Je näher ich kam, desto mehr erkannte ich, dass es ein kleiner Junge war, höchstens 6 Jahre alt.
Was macht so ein Kind denn um diese Uhrzeit im Wald?
Als ich näher kam, sah mich der Junge, doch er schien sich nicht zu fürchten. Jedenfalls nicht vor mir, denn sonst zitterte er wie Espenlaub und hatte ein ganz verheultes Gesicht:
„I-Ich will nach Hause...! Bitte...bring m-mich hier raus..!"
Ich wusste, ich sollte ihn erstechen. Doch mein Körper weigerte sich. Es war offensichtlich, dass dieses Kind nicht freiwillig hier reingekommen war. Also hockte ich mich vor ihm hin und fragte ruhig:
„Wieso bist du denn hierher gekommen?"
„M-Max meinte d-dass es Spaß machen würde u-und ich ein B-Baby wäre, da ich A-Angst habe. E-Er sollte eigentlich a-auf mich aufpassen...!"
Kurzum: Sein Babysitter hatte keinen Bock seinen  Job vernünftig zu machen und hat den Jungen dazu gezwungen mitzukommen.
Das Kind fing immer mehr an zu weinen und murmelte immer wieder, dass er nach Hause wollte. Plötzlich ertönte ein Schuss in der Nähe, gefolgt von Schreien. Hoodie hatte wohl mit seinen Job angefangen.
Geschieht denen auch recht.
Der Junge klammerte sich aus Angst an mich, weinte nun hemmungslos und rief nach seiner Mutter. Ich biss die Zähne zusammen und dachte angestrengt nach.
Er wird durch heute Nacht schon traumatisiert genug sein, dass er sich nie wieder in einen Wald traut. Außerdem ist er absolut unschuldig im Gegensatz zu den anderen. Doch gleichzeitig besteht das Risiko, dass er plaudert...
Da meldete sich Slender bei mir telepathisch zu Wort:
„Bring ihn zum Waldrand und verpass ihm einen Denkzettel. Wir werden ihn weiterhin im Auge behalten."
Dankbar dafür, dass ich dieses Kind nicht umbringen musste, stand ich auf und nahm ihn bei der Hand:
„Ich bring dich zum Waldrand, den Rest musst du selbst erledigen."
Er nickte und versuchte sich mit seinem Jackenärmel das Gesicht zu trocknen.
Ich lief mit ihm quer durch den Wald; an schwierigen Stellen nahm ich ihn auf den Arm. Schließlich erreichten wir den Waldrand und er drehte sich sofort zu mir um:
„Dan-"
Doch ich packte grob seinen Arm, zog ihn zu mir und hielt ihm meinen Dolch an die Kehle. So ruhig und doch bedrohlich wie möglich sprach ich zu ihm:
„Wenn du auch nur ein Wort über heute Nacht verlierst, nur ein klitzekleines Wort, dann komme ich nachts zu dir ins Zimmer und schneide dir den Bauch auf. Ich reiße dir deine Zähne aus dem Mund und schneide dir die Zunge ab. Und dasselbe werde ich mit deiner restlichen Familie und all deinen Freunden tun. Ist das klar? Und wenn du auch nur einmal einen Wald betreten solltest, dann passiert dir genau dasselbe wie den Leuten, mit denen du hierhergekommen bist."
Je mehr ich gesprochen hatte, desto angsterfüllter war sein Blick geworden, bis er wieder angefangen hatte lautlos zu weinen. Er zitterte wieder am ganzen Leib und hatte sich diesmal sogar in die Hose gemacht. Mir tat es leid, ihn so zu sehen, doch ich wusste, dass es sein musste. Also schüttelte ich ihn nochmal und fragte etwas lauter:
„Ist das klar?!"
Er nickte hektisch und fing nun an richtig zu weinen. Ich ließ ihn los und sofort rannte er weg Richtung Bevölkerung. Kaum war er außer Sichtweite, ging ich wieder in den Wald hinein und atmete ein paar Mal tief durch. Hoodie stieß zu mir, seine Kleidung bis auf ein paar kleine Blutspritzer sauber und nach heißen Metall riechend. Er schien zu wissen, was passiert war und ließ mir Zeit, bis ich mich halbwegs beruhigt hatte. Dann setzten wir unsere Schicht fort.

Unter der Oberfläche - a Bloody Painter lovestory Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt