Kapitel 10

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Daniel

Ich küsste Marlie aus dem Schlaf. Sie öffnete langsam ihre Augen und sah mich an. Dann begann sie zu lächeln.

„Hey“, hauchte sie leise und rückte näher an mich heran. Ich fühlte mich hier - in meinem alten Kinderzimmer - in meine Jugend zurückversetzt. Das Zimmer sah noch genauso aus wie damals vor fast fünf Jahren und Marlie lag an meiner Seite, genau wie früher. Wenn ich doch nur diesen Moment für immer festhalten könnte. Ich wollte nicht an morgen denken, sondern einfach nur im Jetzt sein. Ich hatte Angst davor nach London zurückzukehren. Dort würde mich die Realität wieder einholen. Und Annie würde wieder präsenter in meinen Gedanken sein. Ich liebte Annie noch immer, doch die Gefühle für Marlie waren einfach stärker. Uns verbanden zwei Kinder und eine gemeinsame Jugend. Ich hatte nie aufgehört sie zu lieben und ich war froh wenigstens noch ein paar Wochen mit ihr zusammen zu haben, auch wenn es viel zu wenig Zeit war. Trotzdem tat es mir um Annie immer noch unendlich leid. Wir waren gut drei Jahre ein Paar gewesen. Da steckte man eine Trennung nicht einfach so weg. Ganz im Gegenteil. Natürlich litt ich darunter, aber hier bei meiner Familie waren diese Probleme alle so weit weg. Für gewöhnlich hätte ich mir auch deutlich mehr Zeit gelassen um mich auf eine neue Liebe einzulassen, doch Marlie hatte diese Zeit einfach nicht mehr. Es war eh alles anders mit Marlie. Marlie war nicht irgendjemand. Ich kannte sie sehr viel länger als Annie.

„Gut geschlafen?“, fragte ich sie, während ich über ihren Oberschenkel streichelte.

„Ja und du?“

Ich hatte kaum ein Auge zugemacht, weil ich Angst vor der Zukunft hatte. Angst, Marlie zu verlieren und Angst, das alleine durchzustehen. Ich hatte Angst meiner Familie die ganze Wahrheit zu sagen und noch mehr Angst es meinen Kindern zu sagen.

„Auch gut“, log ich.

Ich wollte nicht, dass Marlie sich um mich Sorgen machte. Sie hatte schon genug mit sich selbst zu tun. Da sollte sie sich nicht auch noch mit meinen Problemen auseinander setzen müssen.

„Wir sollten es deiner Familie heute sagen“, gab sie nachdenklich von sich und rieb sich verschlafen die Augen.

Sie hatte Recht. Wir würden morgen Mittag schon wieder abfahren und es war wahrscheinlich auch nicht die feine englische Art, es erst kurz vor der Abreise mitzuteilen, um sie dann mit dem Schmerz allein zurückzulassen.

„Heute Abend beim Abendessen?“, fragte ich. „Dann haben wir heute noch einen unbeschwerten Tag.“

„Ja, das denke ich auch“, stimmte sie zu. „Beziehungsweise die anderen werden einen unbeschwerten Tag haben.“

Da hatte sie Recht. Mein Herz schlug mir jetzt schon bis zum Hals, wenn ich nur daran dachte es meiner Familie zu sagen.

Dementsprechend angespannt waren Marlie und ich den gesamten Tag über. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, denn ich wusste genau, was es in meiner Mutter auslösen würde. Für sie würde eine Welt zusammenbrechen. Ihr einziger Sohn auf einmal ein alleinerziehender Vater von zwei Halbwaisen: Welche Mutter würde da keinen Nervenzusammenbruch bekommen? Ich wünschte, dass Dad hier wäre, doch der kam erst in einer Woche aus Singapur wieder. So lange konnten wir nicht warten.

Ich saß mit Marlie, den Kindern und Amy im Garten. Alex und Emma spielten Frisbee. Zoey war mit Poppy spazieren, während Mum sich drinnen um das Mittagessen kümmerte.

„Amy!“, hörte ich es aus dem Haus tönen. „Kannst du bitte den Geschirrspüler ausräumen?“

Sie verdrehte die Augen. Wo war nur meine kleine süße Schwester geblieben? Ich hatte das kleine süße Mädchen deutlich lieber gemocht, als das Teeniemonster, was sie jetzt war. Amy stapfte trotzig ins Haus.

Regentanz - Piper Award EntryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt