Kapitel 12

6.6K 684 21
                                    

Marlie

Den ganzen Nachmittag lag ich mit Daniel und den Kindern einfach nur im Bett. Sie kuschelten sich an mich. Besonders Emma ließ nicht eine Sekunde meine Hand los. Ich hatte das Gefühl, dass sie damit verhindern wollte, dass ich sie verließ. Es flossen viele Tränen. Ich hatte vorher erwartet, dass die Kinder mich mit Fragen löchern würden, doch seltsamerweise war das Gegenteil der Fall. Die meiste Zeit waren sie erstaunlich still. Emma hatte das Sprechen sogar komplett eingestellt. Sie sprach einfach nicht mehr und das machte mir große Sorgen. Was, wenn ich nie wieder ihre Stimme hören würde? Ich hoffte, dass es nur eine kurze Phase war und sie bald wieder das Plappermaul sein würde, das sie sonst war. So traurig jedoch die Situation auch war, ich genoss es mit meinen Kindern diesen Nachmittag einfach nur da zu liegen und zu kuscheln.

Am frühen Abend passte mich Helen in einem ungestörten Moment ab.

„Kann ich mit dir reden?“, fragte sie vorsichtig.

„Klar.“

Wir hatten uns noch nicht ausgesprochen. Ehrlich gesagt, hatte ich mit niemandem außer Daniel und den Kindern geredet, seitdem ich aus dem Krankenhaus zurückgekommen war. Helen wusste, dass ich am ersten Tag mit angehört hatte, wie sie mich als geldgierig bezeichnet hatte, doch es war nie eine Entschuldigung dafür gekommen. Sie führte mich in den Garten, wo wir uns auf eine Bank setzten.

„Es tut mir leid“, begann sie. „Es tut mir so unglaublich leid und damit meine ich nicht nur, dass du in dieser furchtbaren Situation bist, sondern ich muss mich für mein Verhalten entschuldigen. Ich habe mich wirklich dumm verhalten und ich muss das richtig stellen, weil ich vieles falsch interpretiert habe. Ich weiß jetzt, dass du von Daniel kein Geld wolltest. Und dass du alles für deine Kinder tust. Du bist ein großartiger Mensch und ich kann mir vorstellen, dass es dich viel Überwindung gekostet hat Daniel darum zu bitten, deine Kinder, die du vier Jahre lang allein erzogen hast, in seine Obhut zu geben. Du hast meinen größten Respekt. Allein schon dafür, dass du dich vier Jahre lang allein um meine Enkelkinder gekümmert hast und sie so tolle Kinder geworden sind. Ich bin dir dafür unglaublich dankbar. Und auch wenn Daniel sehr lange nicht da war, musst du wissen, dass er alles für Emma und Alex tun wird. Er liebt sie und wird ein guter Vater für sie sein. Das sage ich nicht nur, weil er mein Sohn ist, sondern weil er wirklich bereit ist Verantwortung zu übernehmen.“

Sie hielt inne und nahm meine Hand.

„Deine Kinder sind gut aufgehoben bei ihm!“

„Ich weiß“, war meine einzige Antwort auf ihre Rede, die sie mir gerade gehalten hatte.

„Bist du mir noch böse?“, fragte sie verunsichert.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Wahrscheinlich hätte ich in deiner Situation ähnlich reagiert. Du hattest keine Ahnung. Ich mache dir keinen Vorwurf. Also mach dir deshalb keinen Kopf! Versprich mir einfach nur, dass du für Daniel da sein wirst! Ich habe das Gefühl, dass er noch immer nicht wirklich begreift, was bald auf ihn zukommen wird. Er wird dich brauchen!“,

Helen nickte ernst.

„Er ist stark! Er wird das schaffen und natürlich werde ich für ihn und die Kinder da sein.“ Sie hielt kurz inne. „Was ist eigentlich mit deinem Vater? Geht es ihm besser?“

Sie kannte ihn noch flüchtig von früher, wenn sie Daniel mal bei mir abgeholt hatte, doch unsere Familien hatten nie einen engen Draht zueinander gehabt.

„Nein, er hat in den letzten Jahren sehr abgebaut. Chorea Huntington ist eine Krankheit, bei der es nicht wirklich eine Besserung gibt. Bei meinem Vater ist sie bereits sehr fortgeschritten. Er ist bettlägerig und wird zunehmend dement. Es gibt keine Heilung dafür. Ich war vor drei Wochen das letzte Mal bei ihm. Er hat weder mich, noch die Kinder erkannt. Ich habe mich an diesem Tag für immer von ihm verabschiedet. Die Chance, dass ich die Krankheit auch habe, lag bei 50%. Als mein Vater die Diagnose bekam, war das Risiko dementsprechend groß, dass ich es auch habe. Ich habe mich damals sofort testen lassen und war so froh es nicht zu haben. Ich dachte, dass ich ein langes Leben haben würde. Es konnte ja keiner ahnen, dass ich sterben würde, noch bevor ich überhaupt in das Alter kommen würde, in dem die Krankheit ausbricht.“

Regentanz - Piper Award EntryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt