Epilog

9.8K 863 229
                                    

13 Jahre später

Alex

„Meinst du Mummy wäre stolz auf uns?“, fragte Emma als sie den Blumenstrauß auf das Grab unserer Mutter legte.

„Ja, natürlich“, sagte ich etwas überrascht von der Frage.

Auch wenn ich meine Mutter hauptsächlich nur aus Erzählungen von Dad, meinen Großeltern und meinen Tanten kannte, so wusste ich, dass sie stolz auf uns gewesen wäre.

„Überleg dir das mal, als sie so alt war wie wir, hatte sie schon zwei Kinder. Das könnte ich mir gar nicht vorstellen“, gab Emma nachdenklich von sich und wischte mit einem Tuch die Schrift auf dem Marmor sauber, sodass man wieder alles lesen konnte.

Marlene Cohen

*28.09.1993

†27.08.2014

„Was wir für uns selbst tun stirbt mit uns. Was wir für andere tun und für die Welt ist und bleibt unsterblich.“

 „In letzter Zeit wünsche ich mir immer öfter sie mal wiederzusehen. Ich kann mich kaum noch an sie erinnern. Klar, es gibt Videos und so, aber das ist nicht dasselbe“, sagte sie mit abwesendem Blick.

Ich war überrascht von Emmas Emotionalität, die sie gerade ausschüttete. Auch wenn wir Zwillinge waren und die Leute immer dachten, dass wir die Gedanken des jeweils anderen lesen konnten, hatten wir nicht das engste Verhältnis. Wir kamen gut miteinander aus, aber wir hatten verschiedene Interessen und Freundeskreise. Es war selten, dass wir mal ganz offen über unsere Gefühle sprachen.

Wir setzten uns auf das frisch gemähte Gras vor das Grab. Außer dem Gezwitscher der Vögel und dem Rauschen der Bäume war nichts zu hören. Es war wirklich idyllisch hier. Wir waren extra hergefahren, weil Mum heute 34 Jahre alt geworden wäre.

„Ja, ich kann  mich auch kaum erinnern. Dieses Jahr ist auch noch der letzte Brief dran, den wir zum Geburtstag bekommen. Es ist irgendwie komisch, dass es in Zukunft keinen mehr geben wird. Das war immer das Beste am Geburtstag, fand ich.“

„Ja“, schmunzelte Emma zustimmend. „Ich hab den Brief früher immer unters Kopfkissen gelegt. Ich dachte, dass Mummy ihn wirklich an meinem Geburtstag geschrieben hat und von ihrer Wolke aus herunter gelassen hat.“ Wir mussten beide lachen. „Weißt du noch, wie wir am Bahnhof beide abhauen wollten und nur du es geschafft hast, weil ich erwischt wurde? Ich weiß noch genau, dass ich in den Zoo zu den Papageien wollte und du zu Tante Laura. Wir haben es Dad nie erzählt, dass wir eigentlich zusammen abhauen wollten“, erzählte sie nun sentimental.

„Sei froh, dass Julia dich damals zurückgehalten hat. Ich weiß noch, dass ich eine Scheißangst hatte, besonders als ich in diesem Bahnhof allein war. Ich hab’ mir die Augen ausgeheult. Und als mich dann noch so ein Penner angesprochen hatte, wo denn meine Eltern sein, dachte ich, dass ich sterben müsste“, erzählte ich.

Das war damals wirklich beängstigend für mich gewesen, aber heute konnte ich darüber lachen.

„Was glaubst du, was ich für eine Angst hatte, als ich erfahren habe, dass die Polizei dich sucht? Da habe ich mich gar nicht mehr getraut gehabt die Wahrheit zu sagen“, entgegnete sie amüsiert.

„Dad hatte es echt nicht einfach mit uns“, stellte ich etwas mitleidig fest.

 „Und Annie auch nicht! Besonders wenn sie immer erzählt, wie wir am Anfang auf sie reagiert haben oder in den ersten Monaten, als Luke geboren war und ich am Rad gedreht habe, weil ich keinen Bruder sondern eine Schwester gewollt hatte. Das tut mir im Nachhinein so leid. Sie ist die beste Ersatzmutter, die ich mir vorstellen kann.“

Das war sie wirklich. Sie hatte nie einen Unterschied zwischen uns und Luke gemacht.

 „Was meinst du, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn Mum noch leben würde? Wenn ein Wunder geschehen wäre und sie geheilt worden wäre?“, fragte Emma nun wieder nachdenklicher.

Das war eine schwierige Frage, die ich mir selbst auch schon oft gestellt hatte. Doch ich hatte nie eine Antwort darauf gefunden.

„Ich weiß nicht. Meinst du, dass unser Leben so viel anders verlaufen wäre?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden es nie erfahren, aber ich bin manchmal schon neidisch auf Luke, dass er eine richtige Mum hat und wir nicht.“

Ich nahm Emma in den Arm, denn sie wurde gerade sehr emotional, was für sie ungewöhnlich war. Schon seit Jahren hatte sie vor meinen Augen nicht mehr geweint.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte ich besorgt, denn meine Schwester schien anders als sonst. Sie gab gern die Starke, doch im Moment wirkte sie auf mich sehr zerbrechlich.

Emma zögerte kurz und räusperte sich, was bei ihr immer ein Zeichen für Nervosität war.

 „Ich habe neulich den Abschiedsbrief von Mum gefunden“, gestand sie. „Dad hat ihn aufbewahrt.“

„Was? Ich wusste nicht einmal, dass einer existiert“, gab ich erschrocken von mir.

„Ich bis dato auch nicht. Es war so traurig ihn zu lesen. Gleichzeitig habe ich mich ihr aber so nah gefühlt. Seitdem vermisse ich sie einfach unglaublich. Sie hat in dem Brief geschrieben, dass Dad dafür sorgen soll, dass wir sie nicht vergessen sollen. Und sie hat auch geschrieben, dass sie kurz vor ihrem Tod zu uns gekommen ist. Sie hat uns umarmt und gesagt, wie sehr sie uns liebt. Das war unsere letzte Begegnung mit ihr und sie hat geschrieben, dass sie hofft, dass wir es nie vergessen werden. Aber ganz ehrlich: Ich kann mich daran nicht mehr erinnern und das zerbricht mir irgendwie das Herz. Ihr schien dieser Moment so unglaublich wichtig zu sein. Wir haben über vier Jahre mit ihr zusammen verbracht und unsere Erinnerungen an sie sind fast Null. Das ist so traurig!“

Ich herzte sie nun noch ein wenig fester.

„Vielleicht können wir uns an den Moment nicht mehr erinnern, aber ich weiß, dass sie uns geliebt hat und das weißt du auch. Darauf kommt es doch an! Und wir haben sie auch nicht vergessen!“

„Ja, ich wünschte einfach, dass wir sie richtig kennen würden.“

Traurig nickte ich. Dann erhoben wir uns und gingen zwei Schritte weiter nach links und legten dort den zweiten Blumenstrauß ab. Hier war unsere Oma begraben worden. Sie hatten wir nicht kennengelernt und auch keinen wirklichen Bezug zu ihr. Dad hatte nie viel über sie erzählt, weil er selbst kaum etwas wusste. Unser Opa war auch schon vor vielen Jahren gestorben. Er bekam den dritten Blumenstrauß, denn auch sein Grab war hier, direkt neben unserer Großmutter.

Einen Blumenstrauß hatte Emma noch in der Hand. Sie ging zu dem Grab, das auf der rechten Seite von Mums war. Dort platzierte sie den letzten Strauß.

Daniel Riley

*17.07.1993

†31.08.2024

„Leben heißt nicht zu warten bis der Sturm vorbei gezogen ist, Leben bedeutet zu lernen im Regen zu tanzen.“

Regentanz - Piper Award EntryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt