Kapitel 19

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Daniel

Nach der Beerdigung war Laura mit mir und den Kindern sofort zu Marlies alter Wohnung gefahren.

Ich war erschrocken, als ich sah, wo Marlie die letzten Jahre verbracht hatte. Die Wohnung befand sich in einem riesigen, heruntergekommenen Häuserblock. Im Hausflur stank es bestialisch. Es war eine Mischung aus Urin und Zigarettenrauch. Die Wände waren mit Graffiti vollgesprüht und alles war voller Dreck. Die Treppengeländer wollte ich lieber gar nicht erst anfassen. Das hier war definitiv nicht die beste Wohngegend von Manchester und schon gar keine Umgebung für meine Kinder. Bei Dunkelheit wollte ich mich hier lieber nicht aufhalten. Ich konnte mir schon vorstellen, wie dann die Junkies aus ihren Löchern krochen und die Nutten am Straßenrand standen. Mir war ja eigentlich bewusst gewesen, dass Marlie nicht viel Geld zur Verfügung hatte, doch ich hatte keine Ahnung gehabt, mit wie wenig sie wirklich hatte auskommen müssen. Das ließ mich unglaublich schulig fühlen, denn ich hatte die letzten Jahre im absoluten Reichtum gelebt, während sie mit unseren Kindern so hausen musste. Das hier war ein einziges Dreckloch und die Vorstellung, dass meine Kinder und Marlie hier hatten wohnen müssen, rief große Schuldgefühle in mir hervor.

Die Wohnung war im fünften Stock und es gab keinen Fahrstuhl. Allein das mit zwei kleinen Kindern jeden Tag zu bewältigen, war schon eine Wahnsinnsleistung. Und dann auch noch alle Einkäufe nach oben schleppen. Wie hatte sie das nur gemacht?

 Die Kinder rannten vor. Das hier war ihr Zuhause. Als Kind hätte mir so ein heruntergekommenes Haus Angst gemacht, doch Alex und Emma schienen sich hier wohl zu fühlen. Sie kannten es nicht anders und erst jetzt verstand ich, warum sie am ersten Tag so über mein Haus gestaunt hatten. Das war für sie eine komplett andere Welt gewesen. An der Wohnungstür fielen mir sofort Einbruchspuren auf. Irgendjemand hatte versucht sie aufzubrechen, war aber gescheitert.

Laura schloss die Tür auf und ich betrat die Wohnung. Es war erstaunlich. Das hier drinnen war das komplette Gegenteil zu dem Saustall draußen. Es war alles ordentlich und stilvoll eingerichtet. Nur eine dünne Staubschicht hatte sich abgesetzt. Es sah aus, als hätte Marlie erst gestern die Wohnung verlassen.

Man konnte sich hier richtig heimisch fühlen, wenn man mal vergaß, wie es außerhalb der Wohnung aussah. Sofort fielen mir unendlich viele Fotos im Flur auf. Auf den meisten waren Emma und Alex abgebildet. Es war komisch zu wissen, dass Marlie, als sie das letzte Mal die Wohnung verlassen hatte, noch nicht einmal gewusst hatte, wie ich auf die Kinder und die Todesnachricht reagieren würde. Ob sie damals geahnt hatte, dass sie nie mehr zurückkommen würde?

„DADDY! Guck, das ist unser Zimmer!“, rief Alex, der gerade in einem Raum verschwand.

Ich folgte ihm. Zugegebenermaßen war es eher eine Kammer als ein Zimmer. Das waren geschätzt nicht mehr als 10m². Etwa die gleiche Größe wie mein Kleiderschrank. Es passte gerade so ein Hochbett hinein. Dann waren da noch ein kleiner Schrank, der vollgestopft war mit Spielsachen, ein kleiner Tisch, auf dem Stifte verteilt waren und ein riesiger Teddybär. Das war alles. Mehr passte auch nicht hinein.

„Den haben wir beim Losen auf dem Rummel gewonnen!“, erzählte Emma stolz und begrüßte den Bären mit einem Kuss. „Er heißt Jones.“

Marlie hatte sich wirklich Mühe gegeben das Zimmer schön zu gestalten. Die Wände waren bunt bemalt und an dem winzigen Fenster klebten viele kleine Schmetterlinge. Es war mit Liebe eingerichtet worden.

Laura führte mich dann ins Wohnzimmer. Die Küche war hier gleich integriert. Auch dieser Raum war nicht sonderlich groß. Es gab eine Couch, einen Tisch, eine Kommode mit dem Fernseher darauf, eine ziemlich wuchtige Schrankwand und die Küchenecke. Das war es.

Regentanz - Piper Award EntryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt