30.

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So sehr wir auch versuchen, uns wie blöd zu betrinken, gibt es eine Person, die uns immer einen Schritt voraus zu sein scheint: Zayn. Man hört ihn schon, bevor er einen Raum betritt. Er ist laut, lacht viel, hat ständig einen Haufen Menschen um sich und ist von einer Aura des Sarkasmus umgeben, die niemand außer uns zu bemerken scheint, die aber ganz deutlich seinen neuen Freunden ins Gesicht schreit: Ich finde euch alle scheiße!!

Dennoch scheint er sich in einen Zustand getrunken zu haben, in dem er sich selbst davon überzeugen kann, Spaß zu haben. Manchmal sieht man ihn mit Gigi und ich entdecke eine zuvor nicht dagewesene Vertrautheit zwischen ihnen. Aber selbst darüber kann ich mich gerade nicht freuen. Ich bin zu wütend.

Ich finde mich in einem Teufelskreis wieder: Jedes Mal, wenn ich Zayn sehe, werde ich wütender und trinke mehr, um mich abzulenken. Aber je betrunkener ich werde, desto schwerer fällt es mir, meine Wut zu verbergen. Harry bleibt trotz steigendem Alkoholpegel ruhig und versucht auf mich einzureden, aber ich schaffe es nicht, mich auf ihn zu konzentrieren. Ich bin zu genervt von der ganzen Situation. Ich erinnere mich vage daran, über irgendwas mit Harry reden zu wollen, aber ich weiß nicht mehr, worum es ging. Irgendetwas wollte ich ihn fragen. Irgendetwas habe ich vergessen.

„Weißt du noch auf der Party bei Gigi?", fragt er in mein Ohr und es kostet mich alle Anstrengung, mich in meinem alkoholisierten und emotionalen Zustand genug zu konzentrieren, um ihm zuzuhören. „Als wir uns unter dem Buffettisch versteckt haben, um unsere Ruhe zu haben?"

Wir stehen im Wohnzimmer in einer Ecke und mein Blick schweift immer wieder unruhig durch den gefüllten Raum. „Ja", sage ich mit kratziger Stimme. Das war kurz bevor ich ausgetickt bin, nur weil wir miteinander getanzt haben.

„Hast du Lust, so einen Ort nochmal zu finden?"

Ich runzele die Stirn. So edel ist unsere Wohnung nicht, dass wir hier einen Buffettisch hätten. Jeder Raum ist belegt und es ist erst kurz nach zehn. Wer weiß, wie lange diese Leute noch hier bleiben ... „Und wo?"

Harry rückt von mir ab und sieht sich um. „Hmm, mal sehen", sagt er gut gelaunt. „Unterm Couchtisch sieht es ziemlich eng aus. Aber hinterm Sofa könnte klappen. Wenn wir uns auf den Boden setzen, sieht uns niemand."

Ich hebe die Augenbrauen wie um zu fragen: Ist das dein ernst? Aber Harry grinst nur, nickt und zieht mich auch schon mit sich.

„Entschuldigung", sagt er höflich, als er sich an den Leuten, die auf dem Sofa sitzen, vorbeidrängelt, um über die Lehne zu klettern. Ich folge ihm zögernd und wir werden kurz seltsam angestarrt aber zum Glück interessiert sich niemand genug für uns, um uns weiter zu beachten. Skeptisch betrachte ich unseren neuen Platz. Das Sofa steht etwa einen halben Meter von der Wand entfernt, damit es die Heizungsluft nicht blockiert, dank der es hier kuschelig warm ist. Trotz allem muss ich lachen, als Harry sich auf den Boden setzt, sich zufrieden mit dem Rücken an die Heizung lehnt, seine Füße lässig gegen die Rückseite des Sofas stemmt und einladend auf den Fleck neben sich klopft. Als ich mich neben ihn setze, bin ich nicht mehr so skeptisch. Der Platz ist wirklich nicht schlecht. Wir sind zwar mitten im Geschehen, aber quasi unsichtbar.

„Puh ... Staubsaugen könnte man hier mal", stellt Harry fest und ich verkneife mir ein Grinsen. Trotz meiner schlechten Laune kann ich seine Mühen wertschätzen.

„Wenn diese Leute jetzt bloß noch alle die Klappe halten könnten", murmele ich sehnsüchtig.

„Beschwer dich nicht, du zahlst keine Miete", sagt er neckend und ich lege mir theatralisch eine Hand aufs Herz.

„Autsch. Immer in die Wunde."

Er grinst mich an. „Gehst dir besser?"

„Nein", stöhne ich. Ich lehne meinen Kopf gegen die Heizung und seufze. Und es stimmt. Harry könnte alles mögliche sagen, es könnte mich nicht aufmuntern. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich gerade nicht die beste Partygesellschaft bin, aber der Gedanken an Zayn zieht mich einfach runter. Wenn er heute so eine Aktion abgezogen hat, wird es morgen nicht leichter sein, mit ihm zu reden. Was heißt, dass ich nicht hier bleiben kann, sondern vielleicht wieder weg muss. Wieder ins Hostel oder in eine andere Wohnung. Aber dafür brauche ich Geld. Und dafür brauche ich einen Job. Und überhaupt –

„Hey." Eine sanfte Stimme versucht mich aus meinen Gedanken zu ziehen und ich bemerke, wie angespannt ich bin, wie sehr mein Herz rast. Dieses Panikgefühl kam in letzter Zeit so häufig auf, dass es sich beinahe normal anfühlt. Als ich nicht reagiere, legt Harry eine Hand an mein Gesicht und dreht es zu sich, sodass ich ihn ansehen muss. „Ich hab doch gesagt, du sollst dich auf mich konzentrieren", murmelt er. Ich will mich wegdrehen, aber er hält mich fest, also bleibt mir nichts anderes übrig. Ich sehe in sein Gesicht, in die Augen, in denen sich das schwache Licht reflektiert, betrachte die Struktur seiner Haut, die kleinen Bartstoppeln auf seiner Oberlippe.

„Sorry Harry", murmele ich mit gedrückter Stimme. „Aber mach dir keine Mühe, ich bin einfach mies drauf. Und ich will das nicht an dir auslassen, also ..."

Er verdreht die Augen, als wäre er mir bereits drei Gedankenschritte voraus. „Wetten ich schaffe es, dich abzulenken?"

„Ernsthaft, lass es lieber. Es ist die Mühe nicht wert."

Er sieht mich ein paar Sekunden schweigend an. Dann sagt er völlig zusammenhangslos und sehr ernst: „Ich hab dich vermisst, Louis."

Verwirrt blinzele ich ihn an. „Ich ... dich auch." Das hatten wir ja vorhin schon geklärt.

„Und ich hatte viel Zeit, nachzudenken."

Jetzt bin ich still. Harry sieht mich ganz ruhig an. Und mit diesem einen Satz schafft er es dann doch, mich abzulenken. Während ich warte, dass er weiterredet, dreht es sich in meinem Kopf. Ich stelle ihn mir vor, wie er nachts allein in unserem Bett lag und nicht schlafen konnte und nachgedacht hat. Genau wie ich. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich fällt mir die Nacht wieder ein, als er mich zum Hostel gebracht hat und mir gesagt hat, dass er dachte, dass ich ihm meine Liebe gestehen wollte, als ich mich so komisch verhalten habe. Ich erinnere mich daran, dass ich gelacht und es verneint hab. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt und die warme Heizungsluft macht es nicht besser. Als er nicht weiterredet, räuspere ich mich. „Und ... worüber hast du so nachgedacht?", frage ich vorsichtig.

Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Ich sehe ihm an, dass er merkt, dass er meine Aufmerksamkeit gewonnen hat. „Nicht so wichtig", sagt er und grinst, als ich ihn anstoße.

„Hey, das ist nicht fair. Wenn du mich ablenken willst, dann mach's gefälligst richtig." Erst als ich die Worte ausgesprochen habe und in sein amüsiertes Gesicht sehe, fällt mir auf, wie zweideutig das klang.

Sein Blick huscht über die Sofalehne, wie um sicherzustellen, dass uns wirklich niemand hier unten sehen kann. Man müsste sich schon über die Lehne nach hinten beugen, um uns zu bemerken. Er sieht mich wieder an und ich erwarte, dass er näher rückt und mich küsst, aber stattdessen legt er bloß seine Hand auf mein Knie. „Darf ich dich was fragen?"

„Klar."

Er sieht mich schief an, seinen Kopf an die Heizung gelehnt. „Glaubst du ...", beginnt er und scheint sich kurz unsicher, wie er es formulieren soll. „Also ... Würdest du immer noch ausschließen, jemals mit einem Mann zu schlafen?"

Mir ist plötzlich sehr warm und ich bin mir seiner Hand auf meinem Knie unnatürlich stark bewusst. „Damit kommst du ausgerechnet jetzt?", murmele ich und er lacht. Mein Gehirn funktioniert nicht mehr so gut wie im nüchternen Zustand, aber noch genug, um zu wissen, dass ich dieser Frage in den letzten Wochen erfolgreich aus dem Weg gegangen bin. Auch wenn ich mich um viel gekümmert habe, um das definitiv nicht. Ich spüre ein Gefühl der Überforderung in mir hoch kommen, dasselbe Gefühl, wie wenn Zayn mich früher gefragt hat, ob ich für meine Klausuren lerne, oder wenn meine Mutter mich gefragt hat, wie es mir geht. Das sind diese Fragen, die ich nicht beantworten konnte, denen ich mir nicht stellen wollte. Und auch wenn ich in den letzten Tagen große Fortschritte gemacht habe, bleibt eben diese Frage noch genauso unbeantwortet wie vor einem Jahr. Ich streiche mir über die Stirn. „Keine Ahnung. Bin gerade nicht so in der Verfassung, das zu erörtern", sage ich sarkastisch.

Harry grinst. „Musst du auch nicht." Mit seiner anderen Hand hält er immer noch mein Gesicht und streicht mir jetzt langsam durch die Haare. „Ich habe mir nur überlegt, dass es mir egal wäre ... wenn es so ist."

Ich bin abgelenkt von seiner Nähe und seinen Fingerspitzen, die sachte über meine Kopfhaut streichen und kann seinen Worten nicht richtig folgen. Vielleicht will ich das auch nicht. Ich will nicht nachdenken. Sein Blick huscht abwärts zu meinen Lippen und ich verstehe nicht, warum wir uns nicht schon küssen, warum wir immer noch reden, obwohl wir beide viel zu viel Bier getrunken haben. „Was?", frage ich mit einiger Verzögerung.

Er wiederholt es, aber auch diesmal kann ich ihm nicht folgen. „Es wäre mir gleich", betont er. „Es wäre mir nicht so wichtig." Ich weiß nicht, warum es ihm wichtig sein sollte, weiß nicht, was er meint. Instinktiv lege ich eine Hand auf seine Hand und ziehe sie von meinem Knie ein Stück meinen Oberschenkel hinauf.

„Wolltest du mich nicht ablenken?", frage ich leise. Harry zieht die Augenbrauen hoch und grinst und ich lächele unschuldig zurück.

Dann endlich küsst er mich. Ich spüre, wie sich mein Körper entspannt, wie meine Muskeln nachgeben. Seine Lippen sind trocken und etwas rau und während ich mich ihm völlig hingeben will, ist er sanft, zu sanft. Durch den Griff in meinem Nacken hält er mich auf Abstand, genau so, dass sich unsere Lippen nur ganz knapp berühren. „Wenn du versuchst, mich damit rumzukriegen, hast du das schon geschafft", murmele ich frustriert gegen seinen Mund. Ich spüre seine Brust beben, als er lacht. Seine Hand schiebt sich plötzlich ein ganzes Stück meinen Oberschenkel hoch und rutscht auf die Innenseite, zwischen meine Beine. Ich ziehe scharf die Luft ein. Ich nehme die Partygeräusche kaum noch wahr. Sie sind zu einem Hintergrundrauschen vermischt, unterlegt von dem stärksten Bass, den unsere billige Anlage hervorbringen kann. Ich will mich über Harry beugen, aber noch immer hindert er mich daran, näher zu kommen. „Harry", murmele ich ungeduldig.

Er grinst gegen meinen Mund. „Was?"

Ich verdrehe die Augen. „Hör auf damit."

„Dann bringt mich dazu."

Mein Herz setzt ein paar Schläge aus als ich die Herausforderung in seinem Blick lese. Dann übernehme ich die Kontrolle. Ich wende mehr Kraft an, als ich nach seiner Hand greife und sie von meinem Nacken löse, unsere Finger miteinander verschränke und damit jeden Widerstand zwischen uns auflöse. Ich dränge mich an ihn, drücke meinen Mund auf seinen und stöhne gedämpft, als er seine andere Hand direkt auf meinen Schritt legt. Innerhalb von Sekunden ist mir unerträglich heiß. Ich spüre den Alkohol dadurch, wie empfindlich ich auf seine Berührung reagiere. Ich drücke Harry auf den Boden und beuge mich über ihn. Hier sieht uns niemand. Hier hört uns niemand. Und es ist mir in diesem Moment auch egal. Er keucht zwischen Küssen, zieht mich näher und ich genieße es, ihn wieder an mir zu spüren, nach all den Nächten allein im Hostelbett. Er greift mit der freien Hand wieder in meinen Nacken, aber diesmal, um mich näher zu ziehen. Ich fahre mit meinen Händen durch seine Locken, ziehe leicht daran und erziele die gewünschte Reaktion. Harrys Atem ist ganz nah und laut und wenn ich mich nur auf das Geräusch konzentriere, schaffe ich es, die Dinge um uns herum für einen Moment zu vergessen. Ich denke nicht mehr daran, warum ich hier bin und was heute passiert ist. Ich denke nicht an morgen. Ich denke nur an Harrys Lippen, seine Hände und an die Art, wie er zwischen Küssen nach Luft schnappt.

Bloß ganz entfernt nehme ich zwischen all dem Stimmengewusel eine Stimme wahr, die mir vertraut vorkommt. Aber erst als Harrys Körper sich anspannt und er innehält, werde ich hellhörig. Wir sehen uns an, schweigend, lauschend. Dann spricht er wieder. Zayn. Ganz nah. Er sitzt kaum einen halben Meter neben uns auf dem Sofa und müsste sich nur über die Lehne beugen, um uns hier unten zu entdecken.

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