34.

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Um 19:55 huschen Harry und ich leise aus unserem Zimmer, durch den aufgeräumten, sauberen Flur und betreten das Wohnzimmer.

„Wow", kommentiert Harry meine Putzaktion.

„Sogar hinterm Sofa", grinse ich. Harry lächelt und ich versuche an die guten Erinnerung, die wir hinter dem Sofa gemacht haben, zu denken, nicht an die schlechten. Von Zayn fehlt bisher jede Spur.

Wir setzen uns hin und ich greife nach der Fernbedienung, um den Fernseher anzumachen. Auf dem Bildschirm flackern bunte Cartoons auf. Mit etwas Glück können sie und auch die Tatsache, dass wir gleich billiges Essen bestellen wollen, dass wir unsere Beine auf den Couchtisch legen werden, dass wir völlig fertig und verkatert sind, dazu beitragen, die Spannung aus der bevorstehenden Aussprache zu nehmen. Es ist ein Versuch, eine Umgebung zu schaffen, die lässiger gar nicht sein könnte.

Wir drehen den Fernseher leise, lassen uns in die Lehne sinken und warten. Ich bin froh, dass Harry dabei ist. Er muss nichts sagen, aber ich hoffe, dass er wie ein schlichtender Ruhepol zwischen mir und Zayn wirken kann. Jemand, der sich nur dann einmischt, wenn er merkt, dass sich das Gespräch gerade in die falsche Richtung entwickelt. Und der dazwischen gehen könnte, falls einer von uns dem anderen eine reinhauen will. Vorausgesetzt Zayn taucht überhaupt auf.

Um 20:11 legen wir unsere Füße auf den Couchtisch. Um 20:19 stupst Harry meinen Fuß mit seinem an und ich stupse zurück. Um 20:36 legt er seinen Kopf an meine Schulter. Um 20:58 knurrt mein Magen. Ich seufze, beuge mich vor, und greife nach meinem Handy.

„Was willst du essen?"

Wir bestellen zur Sicherheit Zayns Lieblingsessen mit. Vielleicht taucht er ja noch auf. Nachdem ich die Bestellbestätigung erhalten habe, lehne ich mich wieder zurück und wir überbrücken die Wartezeit, indem wir mal den leise gedrehten Zeichentrickfilm verfolgen, uns mal einfach nur schweigend aneinander lehnen. Ich spüre die Vertrautheit zwischen uns, aber noch immer habe ich das Gefühl, sie nicht verdient zu haben. Ich drifte gerade in meine Gedanken ab, als es klingelt. Von Zayn fehlt immer noch jede Spur.

Harry rappelt sich auf, um das Essen zu holen und ich setze mich etwas gerader hin. „Vielleicht ist er gar nicht da", überlegt Harry, als er kurze Zeit später mit Plastiktüten bepackt zurück ins Wohnzimmer kommt. „Vielleicht hat er bei Gigi gepennt."

„Seine Schuhe stehen im Flur."

„Ich glaube er hat mehr als ein paar Schuhe."

Ich verdrehe die Augen und Harry grinst. Er kommt zurück, setzt sich seitlich aufs Sofa, sodass er seine kalten Füße zwischen meinen Rücken und die Lehne klemmen kann, während er erst mein dampfendes Essen auspackt und mir reicht, dann sein eigenes. Harry öffnet seine Plastikbox, aus der der unverkennbare Geruch nach Erdnusssoße und Curry strömt. Ohne Umschweife beginnt er, gekonnt mit den Stäbchen den Reis aufzupicken.

Ich verdränge den Wunsch, noch länger zu warten. Klar, Zayn kann jeden Moment aus seinem Zimmer kommen. Dann ist das so. Und wenn er nicht kommt, dann ist das auch okay. Dann eben morgen. Ich habe schließlich beschlossen, zu kämpfen und nicht aufzugeben und das wird sich nicht ändern, nur weil er mich nochmal versetzt. Und um ehrlich zu sein ... habe ich einen Mordshunger.

Wir machen uns über das Essen her und gehen unseren eigenen Gedanken nach. Gegen zehn stehe ich auf, um Zayns Essen in den Kühlschrank zu legen. Ich greife nach meinem Handy und schreibe ihm eine SMS: Essen steht im Kühlschrank, wenn du Hunger kriegst. Wir sind im Wohnzimmer.

Als ich zurück komme, hat Harry sich eine Sofadecke genommen und sie auf seinem Schoß ausgebreitet. Mit wachen Augen beobachtet er das Geschehen im Fernsehen. Ich muss lächeln, schließe die Wohnzimmertür und setze mich wieder zu ihm. Als ich mich gerade entspanne, hören wir plötzlich ein Geräusch.

Harry sieht mich an. Ich greife nach der Fernbedienung und mache den Ton ganz aus. War da etwas? Wir halten den Atem an. Wir hören es beide. Die Dielen im Flur quietschen. „Ich wusste, dass er da ist", flüstere ich. Wir verfolgen das Geräusch. Es kommt der Wohnzimmertür immer näher. Es wird lauter. Und dann ... wieder leiser.

Harry runzelt die Stirn. „Ich glaube, er ist in der Küche", flüstert er. Und tatsächlich. Wir hören den Kühlschrank. Das Rascheln einer Plastiktüte. Der Kühlschrank knallt zu. Dann wieder Schritte. Wieder kommen sie näher. Und dann ... Wieder Zayns Zimmertür.

Ich blinzele verwirrt. „Hat er gerade ..."

Harry nickt und vollendet meinen Satz. „... das Essen genommen und ist dann wieder zurück in sein Zimmer gegangen."

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Auch Harry kann es sich nicht verkneifen. Wir müssen lachen. „Ich hasse diesen Kerl." Ich schüttele grinsend den Kopf. „Ist das jetzt ein Fortschritt oder eine Niederlage?"

Harry schnaubt. „Naja, immerhin hat er das Essen angenommen."

Wir machen es uns wieder bequem, machen den Ton des Fernsehers wieder lauter. Immer wieder bilde ich mir ein, ein Geräusch zu hören, aber niemand kommt. Gegen halb elf lasse ich mich tiefer in die Lehne sinken. Es ist spät. Er wird nicht mehr kommen. Und das ist okay. Ich drehe meinen Kopf zu Harry. „Nächstes Mal dann", sage ich.

Er sieht mich an. „Bist du enttäuscht?"

Ich schüttele mit dem Kopf. „Ich versuchs einfach morgen nochmal. Kein Problem." Und zu meiner Überraschung meine ich das auch so. Ich strecke mich und lege einen Arm um Harry. „Und? Was machen wir heute noch?"

Er zuckt mit den Schultern. „Auf jeden Fall nicht schlafen. Ich bin verdammt wach. Ich hab den ganzen Tag verpennt."

„Ich auch. Wollen wir rausgehen?"

Harry hebt eine Augenbraue. „Wow ... erst räumst du auf, dann willst du raus?"

Ich grinse und streckte meine Arme, lasse meine Muskeln knacken. „Ich bin ein neuer Mensch."

Harry schnaubt. Ich sehe ihn an. Grinse. Wie um es ihm zu beweisen, stehe ich auf und ziehe ihn gleich mit hoch. Harry stöhnt. „Aber ich hab so viel gegessen."

„Umso wichtiger ist ein Spaziergang! Zieh dich an!"

Harry schüttelt den Kopf, grinst aber und verlässt ohne Widerworte das Wohnzimmer. Bloß um es noch zu toppen, und weil ich ab jetzt ein super Mitbewohner bin, schüttele ich die Sofadecke auf und ordne alles wieder schön an, bevor ich ihm folge.


/////


Es ist kalt, aber die frische Luft tut gut. Der Mond ist halbvoll und schaut zwischen zwei Hochhäusern hervor, als wir ziellos in Richtung Stadtmitte laufen. Harry hat seine Hände in seiner Jackentaschen vergraben. Genau wie er fühle ich mich sehr wach.

Noch immer bin ich mir nicht ganz sicher, ob zwischen uns alles wieder gut ist. Aber Harry wirkt nicht sauer. Wir benehmen uns wie immer. Es ist nicht seltsam. Und für den Moment kann dieses neue gute Gefühl, das ich seit der Aufräumaktion spüre, mich von den Sorgen abhalten. Vielleicht habe ich mich wirklich verändert.

Wir gehen durch eine Seitenstraße, am Park entlang, vorbei an einem alten Kiosk und einem Fahrradladen. Die Lichter in den meisten Häusern sind aus, aber die Straßenlaternen werfen Licht in die Nacht.

Plötzlich fällt mir etwas ein. Abrupt bleibe ich stehen und stutze. Harry dreht sich zu mir um und runzelt die Stirn. „Was ist?"

„Oh Gott."

„Was?"

Ich muss lachen und Harry kommt auf mich zu, ein verwirrter Ausdruck im Gesicht. Ich sehe ihn an und schüttele den Kopf. Ich kann nicht aufhören zu lachen.

Er wird immer ungeduldiger, aber mein Lachen ist ansteckend. „Jetzt sag schon. Was ist?"

„Ich hab die ganze Zeit vergessen, es dir zu erzählen."

Er hebt beide Brauen und sieht mich erwartungsvoll an. Aber ich kann nicht sprechen, weil ich so lachen muss. „Was ist los?"

Es braucht knapp eine Minute, bis ich die Worte wiedergefunden habe. „Ich hab mein Studium abgebrochen!", platzt es aus mir heraus und ich kann nicht fassen, dass ich es vergessen habe. „Vor Tagen schon. So richtig, offiziell mit Formular und allem. Ich wollte es dir persönlich sagen, aber dann war die Party und alles." Ich grinse und spüre, wie mich Stolz erfüllt. Stolz ... Was für ein ungewohntes Gefühl.

Harry wirkt für einen Moment sprachlos, dann lacht auch er. „Oh ... wow."

„Und ich hab meine Mutter angerufen", ergänze ich. „Eigentlich wollte ich mir auch ... einen Job suchen oder so, aber das habe ich noch nicht geschafft." Mein Lächeln wird etwas schwächer, als ich mich frage, ob ich wirklich schon überhaupt irgendwas geschafft habe. Wow, Louis, ganz toll. Du hast dein Studium abgebrochen. Und jetzt?

Doch Harry zieht mich in seine Arme. „Das ist toll, Louis. Und ein großer Schritt. Der Rest kommt nach und nach, du musst dir keinen Stress machen." Und, als hätte er meine Gedanken gelesen, fügt er hinzu: „Ich bin stolz auf dich."

Ich spüre, wie ich mich entspanne und die Bedenken sich verflüchtigen. Ich lasse mich für eine ganze Weile in seine Umarmung fallen, schließe die Augen und genieße die Wärme seines Körpers. Als wir da so stehen, eng aneinander gedrückt, und er mir so gut tut, er für mich da ist, zieht sich meine Brust zusammen. Ich räuspere mich. „Ich bin auch stolz auf dich", sage ich leise.

Harry lacht. „Warum das?"

„Weil du deinen Vater angerufen hast." Ich merke, wie er sich anspannt. Er sagt nichts, also rede ich weiter und sage genau das, was ich letzte Nacht hätte sagen sollen. „Und weil du ihm von uns erzählt hast, obwohl du wusstest, wie er reagieren könnte. Das erfordert eine Menge Mut. Dein Vater sollte nur wieder in dein Leben treten dürfen, wenn er dich akzeptiert wie du bist. Du bist dir treu geblieben. Deshalb bin ich stolz auf dich."

Langsam entspannt sich Harrys Körper in meiner Umarmung. Er lehnt sich an mich, sein Atem wird ruhiger. Er sagt nichts. Ich kenne ihn so nicht, so still, so ganz ohne Worte. Aber vielleicht liegt das daran, dass ich immer derjenige war, dem die Worte gefehlt haben, und er derjenige, der reden musste. Jetzt, das hoffe ich zumindest, konnte ich ihm wenigstens einmal die Worte abnehmen.

Wir stehen dort eine halbe Ewigkeit, dann löst er sich langsam von mir, nimmt meine Hand und zieht mich weiter. Er sagt immer noch nichts. Meine Brust fühlt sich schwer an, aber nicht weil ich bedrückt bin, sondern weil da so viel ist und es ist gut und ich habe das Gefühl, dass das hier wirklich funktionieren könnte.

„Warum guckst du so?", fragt Harry, nachdem wir einige Minuten schweigend weitergegangen sind. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich ihn die ganze Zeit von der Seite angesehen und kaum auf den Weg geachtet habe.

„Nur so", sage ich. Wir gehen einen Bogen und nehmen einen anderen Weg zurück, als den, den wir gekommen sind. Die ganze Zeit über halten wir uns bei der Hand. Mein Herz schlägt ungewöhnlich laut und ich weiß nicht warum. Oder vielleicht weiß ich es, aber ich will den Gedanken noch ein bisschen hinauszögern.

Es ist jetzt alles gesagt. Es gibt nichts Unausgesprochenes mehr zwischen uns. Wir fangen nochmal neu an, bei null. Morgen rede ich mit Zayn, und wenn nicht, dann übermorgen. Aber ich bin zum ersten Fall wirklich zuversichtlich. Irgendwie wird das schon alles klappen, früher oder später. Noch nie im Leben habe ich mich so stark, so mutig gefühlt, wie jetzt.

„Louis", sagt Harry mit etwas Nachdruck. „Du starrst."

Ich sehe in seine fragenden Augen und lächele unschuldig. „Sorry. Ich bin nur in Gedanken." Wir sind jetzt nicht mehr weit von unserer Wohnung entfernt. Noch zweimal abbiegen. „Ich hab nur an Zayn gedacht."

„Machst du dir Sorgen?"

Ich schüttele den Kopf. „Ich dachte nur, dass es vielleicht gut ist, dass er heute nicht gekommen ist. Weil ich bevor ich mit ihm rede, etwas mit dir besprechen will." Ich suche nach Worten in meinem Kopf und unterdrücke den Teil in mir, der noch immer den Schwanz einziehen will. „Ich dachte, dass wenn ich mit ihm rede, ich ihm gerne die ganze Wahrheit sagen würde. Also ... alles."

Wir gehen noch einige Schritte, bis meine Worte bei Harry ankommen. Dann bleibt er stehen. Er sieht mich an, die geraden Brauen leicht gehoben, als könnte er gar nicht glauben, dass ich dieses Thema wirklich freiwillig anspreche. Er legt den Kopf etwas schrägt. „Du meinst ..."

„Nur wenn das okay für dich ist."

Er nickt langsam. Natürlich ist es okay für ihn. Er hat es schließlich selbst seinem Vater erzählt. Und irgendwie wusste ich es schon lange. Dass das hier, dieses Ding zwischen uns, bereits viel weiter gehen würde, wenn es nach ihm ginge. Wir schweigen. Die Frage brennt mir auf der Zunge. Was genau soll ich ihm denn über uns erzählen? Ich würde sie zu gerne stellen. Ihn die Worte sagen hören. Und wahrscheinlich würde er es auch tun. Er ist mutig genug. Er würde sagen, dass er mich mag und gerne mit mir zusammen sein würde. Insgeheim weiß ich das, obwohl ich die Signale immer so gut ignoriert habe.

Aber ich will ihn nicht fragen. Diesmal will ich Verantwortung übernehmen. Diesmal will ich es zuerst sagen. Ich will kämpfen und die Entscheidung treffen, den schwierigen Teil übernehmen. Ich hole tief Luft und zwinge mich, den Blickkontakt zu halten. „Wenn das okay ist, würde ich Zayn gerne sagen ...", beginne ich und unterdrücke die Nervosität in meiner Stimme, „... dass wir zusammen sind."

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