21.

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Es ist halb acht. Neunzehn Uhr dreißig. Abends. Der Himmel ist dunkel, die Straße vor mir regendurchtränkt, und die Glasscheibe, die sie und mich trennt, mit unendlich vielen Tropfen besprenkelt. Schon unfair, dass die Zeit vergeht. Eigentlich ist es so unfair, dass ich mich gerne bei irgendjemandem beschweren würde. Ob man die Tage nicht etwas länger machen könnte, zumindest dann, wenn es darauf ankommt?

Mir bleiben noch genau viereinhalb Stunden, bis der Freitag vorbei ist. Viereinhalb Stunden sind 270 Minuten und das sind ... Wie viele Sekunden?

Ich gehe die Rechnung in meinem Kopf durch, weil ich momentan anscheinend der Meinung bin, dass Rechnen eine gute Idee ist, um sich vor der wesentlichen Aufgabe zu drücken. Die Zahlen kreisen durch meinen Kopf, während ich im Café ein paar Straßen von unserer Wohnung entfernt am Fenster sitze und den Regen beobachte. Ich beobachte ihn nicht wirklich. Ich starre eigentlich nur ins Nichts.

Vor mir steht eine große Tasse Kaffee, schwarz, ungesüßt und vor allem unberührt. Der Kaffee hat es mittlerweile aufgegeben, zu dampfen und damit meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und verharrt still und unbewegt, wie eine tiefe, schwarze Suppe. Aber ich sitze hier nunmal nicht, weil ich Lust auf Kaffee und Rechenaufgaben hatte, sondern um den Akt zu vollziehen. Den Akt des Erledigens.

Seit Harry und ich vorgestern den Deal gemacht haben, läuft die Zeit und ich war bisher eher entspannt. Irgendetwas zu finden, was man von der elend langen To-Do-Liste abhakt, kann schließlich nicht so schwierig sein. Im Grunde ist es so einfach, dass man es doch problemlos hinauszögern kann, bis zum letzten Tag, bis zum Freitag, bis nur noch viereinhalb Stunden übrig sind.

Zu meiner Rechten, neben dem Kaffee, liegt besagte To-Do-Liste, oder vielmehr, ein Zettel, der eine To-Do-Liste werden sollte. Bei dem Versuch, über all das nachzudenken, was ich erledigen muss, bin ich allerdings gegen eine Mauer in meinem Kopf gestoßen, an der es kein Vorbeikommen gibt. Stattdessen konzentriere ich mich also auf die einfachste, am schnellsten zu erledigende Aufgabe, die mir einfällt. Die Notlösung sozusagen, jetzt, wo ich nicht mehr so viel Zeit habe: Ich schreibe meiner Mutter eine Nachricht.

Zumindest ist das der Plan. Ein zugegeben ziemlich einfacher Plan. Nichts, was nicht machbar wäre. Ich atme tief ein, löse meinen Blick endlich von der Fensterscheibe und sehe auf mein Handydisplay. In dem geöffneten Textfenster steht momentan: Hallo Mama. Ich habe viel zu tun. Ich hoffe, es geht euch gut. Ich melde mich bald mal wieder. Louis.

Die Worte zu schreiben, war nicht sonderlich schwierig. Ich muss sie nur noch abschicken, meinen Kaffee trinken, meinen Rucksack aufsetzen, bezahlen, und gehen, und kann dann Harry Zuhause erzählen, dass es überhaupt kein Problem war und wir das nächste Mal ruhig etwas Schwierigeres machen können, zum Beispiel einen Job für mich suchen.

Ich bin eine winzige Bewegung meines Daumens davon entfernt, zumindest einen kleinen Teil meiner Sorgen vorläufig nach hinten zu verschieben. Mama wäre beschwichtigt. Sie würde mich erstmal in Ruhe lassen und das Problem wäre so lange pausiert.

Also warum – warum – tue ich mir so verdammt schwer? Ich lasse meinen Atem aus, ein tiefes, genervtes Seufzen, das wahrscheinlich von außen betrachtet ziemlich seltsam wirken muss. Jeder Mensch kann eine Nachricht abschicken. Jedes verdammte Kind kann das. Warum nicht ich?

Ich reibe mir mit der freien Hand über die pochende Schläfe. Vor einem Monat wäre das hier kein Problem für mich gewesen, und jetzt sitze ich hier und muss feststellen, dass die Dinge mit der Zeit vielleicht gar nicht leichter, sondern immer schwieriger werden. Dass alles, was ich heute problemlos bewältigen kann, morgen vielleicht große Überwindung kostet. Einkaufen, zum Beispiel. Was, wenn ich in einer Woche nicht mal mehr einen Supermarkt betreten kann?

Meine Hände sind schweißnass und das Pochen in meinem Kopf kündigt einen Kopfschmerz an, während ich eigentlich über mich selbst lachen will. Das hier ist lächerlich. Ich muss doch nur meinen verfluchten Daumen auf diese Scheißtaste bewegen. Warum ist es so schwierig? Will ich Mama wirklich so dringend ignorieren? Will ich sie so wenig wie nur möglich an meinem Leben teil haben lassen? Oder ist es mehr der Inhalt der Nachricht, der es so schwer macht? Will ich sie nicht mehr anlügen?

Ich nicke unbewusst über den Gedanken, weil er mir sehr logisch erscheint. Ich habe keine Lust mehr, zu lügen. Ich bin es wahnsinnig satt, etwas zu behaupten, das nicht stimmt und mir Geschichten auszudenken. Ihr seit Jahren zu erzählen, wie fleißig ich bin, wie viel ich lerne, wie viel ich zu tun habe – das erscheint mir jetzt unglaublich anstrengend.

Mit meiner ganzen Willenskraft versuche ich, rational zu sein: Wenn ich die Nachricht abschicke, habe ich die Sache hinter mir, muss Harry nicht enttäuschen und kann nachher guten Gewissens einschlafen. Wenn ich die Nachricht nicht abschicke bringt mir das überhaupt nichts.

Das hier ist kein Problem. Das hier ist hundertmal einfacher als Bewerbungen schreiben, oder auf Partys gehen oder Freunde finden. Es ist absolut lächerlich.

Und deshalb musst du jetzt wenigstens diese kleine, lächerliche Aufgabe hinkriegen, du Vollidiot, sagt die Stimme in meinem Kopf. Damit du irgendetwas vorzuzeigen hast.

Meine Hand rutscht von meiner Schläfe über meine Stirn, mein Blick bleibt auf den Bildschirm gerichtet und mein Daumen verharrt in der selben Position. Mein Kaffee ist kalt. Vielleicht, denke ich, wird es irgendwann so schwierig sein zu lügen, dass mir nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Wahrheit zu sagen.


///


Als ich nachhause komme, höre ich Zayn und Harry in der Küche reden. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, schiebe sie in eine Ecke im Flur, lasse meinen Rucksack fallen, atme einmal tief durch und betrete die Küche.

Meinen ersten Instinkt, mich direkt neben Harry zu stellen und meine Hand auf seinen Rücken oder seinen Arm zu legen, ignoriere ich und stelle mich stattdessen neben Zayn vor den surrenden Kühlschrank. Harry und ich tauschen einen kurzen Blick aus, eine Art unausgesprochene Begrüßung, die anders klingt, als die, die wir aussprechen.

„Hi."

„Hey."

Die Stille ist irgendwie komisch. Zayn und Harry sehen mich beide gleichermaßen erwartungsvoll an und ich hebe die Brauen. „Hab ich euch bei irgendwas gestört?" Und als keine Antwort kommt: „Hab ich was verpasst?"

Harry öffnet den Mund, um zu reden, aber Zayn ist schneller. „Du hast alles verpasst."

„Was?"

„Harry hat nächste Woche eine Verabredung."

Blinzelnd sehe ich von Zayn zu Harry, der Zayn gerade in die Seite stößt, und die Augen verdreht. Ich öffne den Mund, suche nach Worten. „Ähm ... Wieso?"

Wieso?" Zayn schnaubt und ich muss zugegeben dass die Frage nicht sonderlich intelligent war. „Die Frage ist: Mit wem."

„Mit wem?", frage ich also.

Zayn mustert mich und lächelt. „Bist du eifersüchtig?"

Ich bin kurz mit der Frage überfordert, weil ich Zayns Sticheleien nicht mehr gewohnt bin. Die letzte Zeit hat er sich damit ziemlich zurück genommen. Anstatt ihm zu antworten, sehe ich Harry an. „Mit wem bist du verabredet?"

„Mit meinem Vater."

„Mit deinem –"

Erst jetzt bemerke ich die offensichtliche Aufregung in Harrys Blick. Seine Wangen sind etwas röter als sonst und seine Augen sehr wach. Natürlich hat er sich an seinen Teil der Abmachung gehalten und seinen Vater angerufen. Er wäre nicht Harry, wenn er es nicht geschafft hätte. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er mir unbedingt davon erzählen will.

„Und?", frage ich.

„Ich erzähl's dir später." Sein Blick ist nicht eindeutig genug, um mir zu vermitteln, ob das Gespräch gut oder schlecht gelaufen ist.

Zayn räuspert sich. „Ich finds wirklich süß von euch, dass ihr zusammen versucht, bessere Menschen zu werden." In seinem Ton schwingt der übliche Sarkasmus mit. „Wie lief's bei dir, Lou? Hast du dir schon nen Job gesucht?"

Ich presse die Lippen zusammen. „Nein."

„Sondern?"

Meine Wangen kribbeln, als die Röte darin aufsteigt und ich merke, dass sie mich jetzt beide ansehen. Ich spüre Harrys Blick noch deutlicher als Zayns und er macht mich auch noch nervöser. Ich kann ihn nur enttäuschen. Ich kann sie beide nur enttäuschen. Ich spüre, wie sich mein Hals zusammenzieht und die Worte daran hindert, herauszukommen. Sorry, ich hab's nicht geschafft irgendetwas zu erledigen, oder Vielleicht nächstes Mal, oder Ich brauche noch einen Tag länger Zeit.

Sie sind meine Freunde. Sie kennen mich. Wahrscheinlich erwarten sie nicht mal eine andere Antwort. Und deshalb gebe ich mir wirklich die größte Mühe, die Worte auszusprechen, aber es scheint, als würde mein Mund jedes Mal die Sprache vergessen, wenn ich zum Reden ansetze. Erst als ich neue Worte im Kopf forme, falsche Worte, öffnet sich meine Kehle für sie. „Ich hab Mama endlich auf ihre zigtausend Nachrichten geantwortet." Nervös hebe ich einen Arm und kratze mich am Nacken, merke, wie mir ein wackliges Lachen rausrutscht. „Keine Ahnung, warum ich mir damit so schwer getan hab. So schlimm war's echt nicht."

Ich bin davon überzeugt, dass sie mir nicht glauben. Meine Mimik und Gestik muss mich verraten. Das Blut steigt in meinem Kopf auf und ich frage mich, wie ich so dumm sein kann, weil mich diese verdammt schlechte Lüge nicht nur auffliegen lässt, sondern auch als Lügner entlarven wird. Ich bin drauf und dran, meine Worte zurückzurufen, alles richtig zu stellen, bevor sie es tun, aber als ich ihre Gesichter sehe, halte ich mich zurück.

„Cool", sagt Zayn und grinst. „Unser kleiner Louis hat gelernt, SMS zu verschicken." Er wuschelt mir durch die Haare und auch wenn seine Worte neckend sind, sehe ich doch so etwas wie Stolz in seinem Blick. Auch Harry lächelt mich an. Sie glauben mir. Wie können sie mir glauben? Ich habe so verdammt schlecht gelogen, ich – ich kann doch nicht nach außen so anders wirken als ich mich fühle. Oder doch? Das ist verrückt. Das ist ...

„Ich freue mich für dich", sagt Harry leise und unglaublich aufrichtig, dass ich heulen könnte. Ich habe gelogen, will ich schreien. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Ich bin viel viel viel schlimmer als ihr denkt.

„Dann fehlt jetzt ja nur noch alles andere. Aber hey, du machst Fortschritte. Ich meine, letztens bist du wochenlang nicht mal zur Uni gegangen ..." Ich blende Zayns Stimme aus und starre stattdessen seinen Hinterkopf an. Er hat sich dem Herd zugewandt und stochert mit der Gabel in der Pfanne herum, in der noch Reste von heute Mittag liegen. Ich sage nichts. Ich kann nicht glauben, dass sie es mir abnehmen. Ich muss ein verdammt guter Lügner sein.


Später, als wir auf dem Sofa sitzen, weil Zayn irgendeine Casting Show gucken will, bin ich unglaublich angespannt und kriege nur mit Mühe mein Bier runter. Ich kann mich weder auf den Fernseher konzentrieren, noch auf die Diskussion meiner Freunde. Stattdessen starre ich nur ins Leere, spüre die brennende Scham und merke förmlich, wie mir das Hochgefühl von letzter Woche endgültig entgleitet. Letzte Woche, als ich einmal mutig war, als es nur Harry und mich und unser Zimmer gab. Ich wünschte, ich könnte mich von der ganzen Welt verabschieden und mich in dieses Zimmer einsperren. Aber der Abend zieht sich hin.

Ich höre mir selbst zu, wie ich mit den anderen über die Sänger im Fernsehen diskutiere, dann darüber, wer nächste Woche das Bad putzen muss und schließlich über Gigi, die Zayns Nachricht bis heute komplett ignoriert hat. Ich bin nicht wirklich anwesend. Als wir endlich ins Bad gehen um Zähne zu putzen und uns für die Nacht verabschieden, hat sich so viel in mir aufgestaut, dass ich Harry kaum in die Augen sehen kann. Ich lege mich ins Bett an die Wand und warte, bis er sich auszieht, das Licht ausmacht, und sich zu mir legt.

Die daraufhin folgende Stille umhüllt uns. So wie jede Nacht rutscht er nah an mich heran. Mein Körper ist verkrampft, meine Arme versteift, und er muss das merken, als er einen Arm um mich legt. Seine Hand rutscht über meinen Rücken. „Alles okay?", flüstert er.

„Ja", presse ich mit Mühe hervor. Die Berührung tut gut. Ich spüre, wie sich die Muskeln entspannen, über die Harrys Hand fährt. Gleichzeitig ist mir völlig klar, dass ich das hier nicht verdient habe. Nichts davon. Weder Harrys Freundschaft noch seine Berührung. Nicht, solange ich mich wie ein Arsch benehme.

Erst als ich seinen Atem auf meinem Hals spüre und die Erwartung in der Stille zwischen uns bemerke, fällt mir wieder ein, dass er mir von seinem Vater erzählen wollte. Dass in seinem Leben, im Gegensatz zu meinem, wirklich wichtige Dinge passieren. Das schlechte Gewissen wird noch größer, als ich merke, dass ich mich kaum auf ihn konzentrieren kann. Ich räuspere mich. „Also?", frage ich und versuche, so natürlich wie möglich zu klingen. „Was sagt dein Papa?"

„Nicht viel", sagt Harry sofort, sodass es offensichtlich ist, dass er die ganze Zeit daran denkt. Er hat sich die Worte schon zurechtgelegt, hat sie Zayn wahrscheinlich vorhin schon erzählt. „Er wollte das nicht am Telefon besprechen. Er wirkte ziemlich überrumpelt. Kein Wunder, wenn der entlaufende Sohn nach drei Jahren plötzlich anruft." Harry lacht leise und freudlos.

„Also kannst du nicht einschätzen, was er denkt?"

„Nicht wirklich. Er könnte wütend sein, er könnte glücklich sein – keine Ahnung. Ich muss es wohl abwarten."

Mein Daumen streicht abwesend über Harrys Rücken. Ich versuche mich auf ihn zu konzentrieren und mich dadurch von meinen eigenen Gedanken abzulenken. Das hat die letzten Male ziemlich gut geklappt. Aber jetzt ist es schwieriger. Mein Kopf ist zu voll. Ich weiß, dass das hier extrem wichtig ist für Harry und trotzdem ...

„Aber er hat mir am Telefon von seiner neuen Freundin erzählt und da bin ich froh drüber. Ich weiß nicht, was ich gesagt hätte, wenn er versucht hätte, mir vorzumachen, dass mit Mama und ihm noch alles okay ist."

„Mhm", mache ich.

„Ich hoffe nur, die neue Freundin ist nicht dabei, wenn wir uns treffen. Zumindest nicht am Anfang. Ich kann mir das noch nicht so wirklich vorstellen ... eine Frau, die nicht meine Mutter ist, mit meinem Vater zusammen zu sehen ..."

In meinem Kopf rauscht es. Ich will für Harry da sein, aber seine Worte erreichen mich nicht und dadurch fühle ich mich umso mieser. Der Wunsch, ihm die Wahrheit zu sagen, ist riesengroß, fast so groß wie die Angst davor. Die Worte liegen mir schon auf der Zunge und wären schon längst herausgesprudelt, wenn ich sie nicht immer wieder runterschlucken würde.

„Papa hat viele Gründe, auf mich sauer zu sein und die meisten kann ich auch nachvollziehen. Dass ich einfach abgehauen bin hat so viel in unserer Familie kaputt gemacht. Aber am meisten Angst habe ich, dass er mich fragt, ob ich immer noch glaube, schwul zu sein. Oder noch schlimmer, dass er davon ausgeht, dass es nur eine Phase war."

Der Klang von Harrys Stimme, die tiefen, ruhigen Töne kommen bei mir an, aber nicht der Inhalt. Mein Blick huscht auf die leuchtenden Zahlen des Weckers auf dem Nachttisch. Es ist halb zwölf. Drei Tage hatte ich Zeit, irgendetwas zu Stande zu bringen, habe es verbockt und dann nicht mal genug Mut, es zuzugeben. Aber eigentlich geht es nicht um diese drei Tage, es geht um die letzten Monate. Und ich habe keine Ahnung, wie lange ich noch so mit mir leben kann.

„Mit Mama ist es genauso. Ich weiß immer noch nicht, was sie darüber denkt. Sie sagt zwar, dass sie mir nicht böse ist, aber ich weiß trotzdem nicht, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr irgendwann mal einen festen Freund oder so etwas vorstelle."

Der letzte Samstag war der einzige Tag, an dem ich kein Feigling war. Und seitdem ... wieder nichts. Ich habe euch vorhin angelogen. Die Worte pochen in meinem Kopf. Das klingt wie: Ich bin nicht der Louis, den ihr glaubt zu kennen. Ich bin ein Lügner. Ich lüge ständig. Du kannst mir nicht vertrauen und du solltest mir diese ganzen Sachen auch gar nicht erzählen, weil ich dir gerade nicht mal zuhöre und es überhaupt nicht verdient habe, dass du mir das anvertraust.

„Ich bin mir einfach unsicher, ob sie nur mit mir reden, weil sie denken, dass ich nicht wirklich auf Männer –"

Ich beobachte seine Lippen, während er redet. In dem schwachen Licht fallen die Kontraste härter und seine Gesichtszüge sehen dunkler aus. Sie Lippen bewegen sich langsam und glänzen ein wenig, als er sich kurz darüber leckt.

„Harry", unterbreche ich ihn.

„Hm?" Er sieht mich im Dunkeln an. Der Wecker zeigt jetzt zwanzig vor zwölf und kurz überlege ich, mein Handy rauszuholen und Mama diese verdammte Nachricht zu schreiben, oder meine E-Mails zu checken oder mich verdammt nochmal von der Uni auszuschreiben, nur damit ich doch noch irgendetwas vorzuweisen habe. Zwanzig Minuten Zeit hätte ich noch. „Ist wirklich alles okay?", fragt Harry.

Nein. Ich schüttele langsam mit dem Kopf. Ich will es ihm erzählen. Jetzt sofort. Alles. Ich werde erklären, warum ich mir keinen Job suche, ich werde gestehen, dass ich seit Monaten nicht in der Uni war, ich werde jede einzelne Lüge ins Detail beschreiben, und dann werde ich mich besser fühlen, viel, viel besser, und er wird es verstehen, weil er Harry ist, und er nett ist und verständnisvoll, selbst bei einem so hoffnungslosen Fall wie mir.

„Ich habe ...", setze ich an. Er wartet. Ist ganz ruhig. Meine Lippen formen das Wort gelogen, aber es kommt kein Ton raus und Harry kann im Dunkeln meine Lippen nicht lesen. Die Uhr zeigt zehn vor zwölf. Ich kann nicht fassen, dass ich, während ich mich selbst so dafür verabscheue, feige zu sein, gleichzeitig immer noch so feige sein kann.

Harrys gerade dunkle Brauen sind ein Stück gehoben, sein Blick ehrlich besorgt, aufrichtig, während ich ihm die letzten zwanzig Minuten nicht einmal zugehört habe. Es muss jetzt raus. Sofort.

„Ich hab gelogen", sage ich. Aber meine Kehle erstickt das letzte Wort. Ich bin so ein gottverdammter Feigling. Ich balle meine Hände unter der Decke zu Fäusten.

„Du hast was?"

Gelogen. Ich habe gelogen. Und ich habe noch zehn Minuten Zeit, meinen Teil unseres Deals zu erfüllen. Ich hebe meine Hand und lege sie in seinen Nacken, dort, wo sein Haaransatz beginnt. Es ist das einzige, was mir einfällt. Schließlich hat es am Samstag auch geklappt.

„Louis?"

Ich bringe unsere Gesichter zusammen und sehe seinen überraschen Ausdruck. Zugegeben, es ist eine etwas seltsame Reaktion darauf, dass er mir von seinem Vater erzählt hat. Aber trotzdem beuge ich mich vor und presse meine Lippen auf seine. Es ist nicht das, was er gerade braucht und auch nicht das, was ich gerade brauche, aber es ist etwas, wovor ich Angst habe und deshalb etwas, für das ich mich überwinden muss. Es ist mein Teil des Deals.

Ich küsse ihn kurz und fest und dann weiche ich zurück und sehe ihn an. Mein Herz rast, aber ich merke, dass es funktioniert hat. Ich fühle mich besser. Ich habe etwas gewagt.

Harry sieht mich ganz ruhig an. Dann verzieht sich sein Mund zu einem leichten Grinsen und er schnaubt. „Okay?"

Ich räuspere mich unschlüssig. „Sorry ... das Timing war mies."

Er schüttelt mit dem Kopf. Wir sehen uns an. Ich glaube, ich sollte wahrscheinlich irgendwas sagen, aber ich will mich nicht erklären. Wahrscheinlich will er es auch gar nicht hören. Er will über seinen Vater reden. Ich schlucke, suche nach Worten.

„War das um mich abzulenken?", fragt Harry.

Jetzt schüttele ich mit dem Kopf. Es war, um mich abzulenken. „Einfach so. Aber ... wenn es hilft, dich abzulenken, bin ich froh."

Er schweigt. Weicht meinem Blick aus. Dann: „Ich hab um ehrlich zu sein schon gewartet, wann du es wieder machst."

„Ich wusste nicht, ob ich darf", gebe ich zu.

„Du darfst."

Er sieht mich jetzt wieder an und ich sehe, dass es eine Aufforderung ist. Erleichtert atme ich aus und rutsche wieder näher. Vielleicht will er auch nicht mehr reden. Vielleicht will er, genau wie ich, einfach die Gedanken vergessen.

Und um Gedanken zu vergessen, ist das hier genau das richtige. Ich spüre, wie mein Kopf frei wird, als wir uns wieder küssen. Diesmal öffnen sich seine Lippen und er küsst mich zurück. Das schlechte Gewissen und der Selbsthass entgleiten mir und ich konzentriere mich ganz auf Harrys warme, raue Lippen, die leichten Stoppeln, die mir ins Gesicht piksen und sein Lächeln, das ich an meinem spüre. Als seine Hand von meinem Nacken über meine Wange rutscht, verziehen sich die quälenden Gedanken in eine hintere Ecke meines Kopfes und ich fühle mich unglaublich erleichtert. Ich muss an nichts mehr denken. Und Harry muss das auch nicht.

Ich versuche mich vollends zu vergessen, jage dem Gefühl nach und bin deshalb eine Spur verzweifelter als das letzte Mal. Der Kuss ist sofort offen und ich spüre, wie mir schnell heißer wird. Ich drücke gegen Harrys Schulter, sodass er sich auf den Rücken dreht und ich mich über ihn beugen kann. Meine Hände verfangen sich in seinen Haaren und als ich an einer Haarsträhne ziehe und er eine Art stöhnendes Seufzen von sich gibt, habe ich plötzlich das Gefühl, noch mutiger sein zu können.

„Harry."

„Hm?"

„Kannst du das ausziehen?" Ich zupfe an seinem T-Shirt und er richtet sich schnell auf. Er zieht sein T-Shirt hoch, schafft es mit einiger Mühe, sich davon zu befreien und als er sich wieder hinlegt, zieht er mich mit sich und küsst mich wieder. Meine Hände zittern leicht, als ich ihn vorsichtig berühre. Seinen flachen Bauch und die leichten Muskeln, die ich unter der Haut ertasten kann. Er küsst mich, seine Lippen geöffnet und als er an meiner Unterlippe saugt, vergesse ich die Zweifel und fahre mit den Händen über seine flache Brust. So langsam sollte ich kapiert haben, dass Harry ein Kerl ist. Und es ist nicht so, als würde er sich ... nicht gut anfühlen.

Ich hocke auf ihm während er mir mein T-Shirt über den Kopf zieht. Dann zieht er mich näher an sich, bringt unsere Körper zusammen. Ich spüre die Hitze jetzt überall. Und ich spüre Harry. Ich spüre ihn mit jeder Zelle meines Körpers. Er seufzt tonlos, als meine Zunge in seinen Mund dringt. Ich liebe es, zu sehen, wie er auf mich reagiert und gleichzeitig überfordert es mich.

Seine nackte Haut an meiner. Sein schneller Atem. Seine Hände, die fest an meinem Rücken liegen und seine heiße Zunge. Die Erwartung in der Luft, mehr zu tun. Mein Herz rast. Als Harry sein Becken hochdrückt und ich ihn direkt an meinem Schritt spüre, wird mir ganz anders.

„Sorry", nuschelt er. Wir tragen nur Boxershorts und ich spüre deutlich an meinem Oberschenkel, dass er hart ist. Mir ist heiß und ich muss atmen, deshalb löse ich den Kuss und lege stattdessen meine Stirn an Harrys. Sein Atem ist schnell in meinem Gesicht. Ich schließe die Augen. Vorsichtig drücke ich mein Becken vor. Die Reibung ist durch den dünnen Stoff viel zu gut spürbar. Ich ziehe scharf die Luft ein und auch Harry keucht kurz auf. „Louis", atmet er.

Er weiß genauso gut wie ich, dass das hier abbrechen muss, bevor es richtig losgeht. Noch einmal drücke ich mein Becken gegen ihn, bloß um es nochmal zu spüren. Aber da ist eine Linie, die ich immer noch nicht überschreiten kann, und deshalb höre ich schließlich auf mich zu bewegen. Noch ein paar Sekunden verharre ich so, genieße das Gefühl unserer Körper, von Kopf bis Fuß vereint, dann atme ich tief aus und rutsche von ihm. Ich sehe ihm an, dass er genauso unbefriedigt ist, wie ich. Wir sehen uns schweigend an und als er plötzlich grinst, muss ich lachen. „Tut mir leid", sage ich, lege meine Hand an seine Wange und küsse ihn nochmal. Alles, was mir vorhin durch den Kopf ging, habe ich komplett vergessen. Es ist, als hätte die Realität in den letzten zwanzig Minuten einfach nicht existiert. Irgendwie hat Harry diese Wirkung auf mich.

„Also wenn du das jetzt jedes Mal machst, wenn ich dich mit meinen Problemen vollheule, weiß ich ja, was ich zu tun hab", sagt er schließlich mit einem albernen Grinsen und ich muss wieder lachen.

„Ich wollte dich vorhin nicht unterbrechen. Du kannst ruhig weiter erzählen."

Harry schüttelt mit dem Kopf. „Ist schon okay. Ich will eh nicht so viel darüber nachdenken, bevor ich ihn treffe. Das macht mich nur verrückt."

Darauf weiß ich nichts zu sagen. Wir warten eine Weile im Dunkeln, bis die Hitze langsam unseren Körpern entweicht. Dann rutschen wir wieder näher zusammen und ziehen die Decke über uns. Harrys Atem ist jetzt langsamer. Ihm beim Atmen zuzuhören reicht als Ablenkung, um nicht wieder über alles andere nachzudenken. Ich schließe die Augen und lasse die Müdigkeit zu. Morgen bin ich ein besserer Freund, denke ich vor dem Einschlafen. Morgen rede ich richtig mit ihm. Morgen höre ich ihm zu. Morgen erzähle ich ihm alles.

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