Es ist Nacht. Im Zimmer ist es dunkel. Das Fenster knackt leise unter dem Wind, der von außen dagegen drückt und durch die feinen Schlitze zwischen Fenster und Rahmen dringt ein betrunkenes Lachen von irgendeinem Passanten. Irgendeiner traurige Seele da draußen, die wahrscheinlich gerade den Spaß ihres Lebens hat. Ich atme. Und lausche. Und warte.
Auf dem Rücken liegend scheinen meine Schultern und mein Rücken immer nach wenigen Sekunden den starken Drang zu entwickeln, sich umzudrehen. Während ich mich also nach links auf die Seite drehe, frage ich mich, ob man bei der Hausverwaltung anrufen darf, wenn man gar nicht Mieter einer Wohnung ist. Ja, hallo, in meinem Schlafzimmer ist ein undichtes Fenster. Was? Nein, ich habe keinen Mietvertrag unterschrieben, wieso? Es wäre wahrscheinlich nicht sonderlich überzeugend.
Ich bleibe einige Minuten so liegen, bis sich die verfluchten Muskeln und Sehnen, oder was auch immer für diesen Blödsinn zuständig ist, wieder entscheiden, dass die andere Seite doch viel besser ist. Ich seufze. Drehe mich um. Seufze. Drehe mich wieder um. Und komme zu dem Entschluss, dass es keinen Zweck hat. Es geht nicht. Ich kann einfach nicht schlafen, egal wie lange ich noch die Augen zusammenpresse, versuche meine Atmung zu verlangsamen und Schäfchen zähle. Es geht nicht.
Und es liegt auch gar nicht wirklich an dem undichten Fenster. Das ist schon die ganze Zeit undicht. Die Geräusche draußen haben mich noch nie gestört und auch der leichte Windzug nicht. Ich ziehe die Decke höher über meine Schultern und starre die Wand an. Niemand zieht an meiner Decke. Ist es das schlechte Gewissen, das mich wachhält? Habe ich jetzt doch so viel Chaos in mein Leben gebracht, dass ich von nun an an Schafstörungen leiden werde, bis ich mich entschließe, mit dem Lügen, dem Schwänzen und dem Faulenzen aufzuhören? Niemand zieht. An meiner Decke. Ich seufze. Nirgends ist ein Widerstand.
Ich drehe mich um, bis ich auf dem Bauch liege und die Decke unter mir vergrabe. Niemanden stört es. Ich schlinge meine Arme und Beine darum. Niemand protestiert. Ich überlege, die verfluchte Decke zusammenzuknüllen, als Kissen zu benutzen, sie quer zu legen oder sie verdammt nochmal auf den Boden zu werfen. Ich glaube, wenn ich das mache und sich dann immer noch niemand beschwert, würde ich endgültig durchdrehen. Es ist einfach ... zu viel. Ich seufze. Zu viel Decke. Zu viel Decke übrig. Es ist als würde ich einen viel zu großen Pullover tragen, dessen schichtenweise überflüssiger Stoff an mir herunterhängt. Ich weiß einfach nicht, was ich mit so viel machen soll.
Ich starre die Wand an. Ich seufze nochmal und komme mir mittlerweile ziemlich albern dabei vor. Ich ziehe die Decke über meinen Kopf, bis es zu warm wird und kann mich gerade noch so davon abhalten, ein weiteres mal zu seufzen. Frustriert fische ich mein Handy unter meinem Kopfkissen hervor, um nach der Uhrzeit zu sehen. Kurz vor vier. Ich reibe mir mit den Händen über die Augen, unterdrücke ein gequältes Stöhnen und presse dann mein Gesicht fest in das Kissen, als könnte ich mich dadurch irgendwie bewusstlos machen. Zwecklos. Ich liege nur da, hellwach, und warte.
Ein leises Rascheln lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein tiefes Ein- und Ausatmen. Ich öffne ein Auge, das, was nicht im Kissen verschwunden ist und sehe zu, wie sich der Junge neben mir bewegt. Erst nur ein Arm, dann geht der Körper mit und er dreht sich auf den Rücken. Es ist gerade hell genug im Raum, um ihn zu erkennen, wenn auch wie durch einen Schwarz-Weiß-Filter. Harrys Schultern sind frei und seine Locken kringeln sich auf dem weißen Kopfkissen, und als er sich zu mir dreht, beobachte ich, wie eine Haarsträhne in seine Stirn fällt. Er murmelt etwas. Für einen Moment denke ich, dass er im Schlaf redet, aber dann öffnen sich seine Augen und wir sehen uns an. Er abwartend. Ich überrascht.
„Was?", frage ich, als mir klar wird, dass er gerade irgendetwas zu mir gesagt haben muss.
Ein müdes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. „Ich hab nur Hey gesagt."
„Oh. Hey", murmele ich, immer noch verwirrt, wie ich eben noch vier Stunden lang wachgelegen habe und jetzt plötzlich ein Gespräch führe.
„Ist alles okay?"
„Klar." Ich zucke mit den Schultern, irgendwie überfordert. „Ich meine ... ja."
Er richtet sich etwas auf, gerade genug um seinen Kopf mit seiner Hand abzustützen. „Dafür seufzt du ziemlich viel", sagt er.
„Oh sorry, hab ich dich geweckt?"
„Nein ..." Erst jetzt bemerke ich die tiefen Schatten unter seinen Augen. Harry sieht genauso wach aus wie ich mich fühle. Genauso schlaflos. Vielleicht sogar noch mehr. Wahrscheinlich liegt er jede Nacht so wach und denkt an seine Eltern und hat dann am nächsten Tag trotzdem genug Willenskraft, sich nichts anmerken zu lassen.
Ich beobachte seine ruhigen Augen eine Zeit lang und frage mich, ob er mir davon erzählen würde.„Denkst du nach?", frage ich schließlich.
„Ja", antwortet er einfach nur, ohne näher darauf einzugehen. „Und du?"
Ich zucke mit den Schultern. Ich denke nicht nach. Vielleicht sollte ich nachdenken und vielleicht bin ich auch so unruhig, weil mein Unterbewusstsein weiß, dass ich einiges verdränge, aber davon merke ich bewusst nichts, zumindest die letzten vier Stunden nicht. Mir wird klar, dass ich immer noch halb auf anstatt unter der Decke liege und schüttele innerlich über mich selbst den Kopf. Was? Ich bin ein gewohnheitsliebender Mensch. Ich mag einfach Veränderungen nicht. Und deshalb kann ich eben nicht schlafen, sobald etwas anders ist. Und das mit der Decke ... ist nunmal anders. „Es ist ziemlich ... ungewohnt", sage ich vage und gehe nicht davon aus, dass Harry versteht, was ich meine, aber sein Blick geht an mir herab, huscht über die ungewöhnliche Position meiner Decke und ich sehe in seinen Augen, dass er versteht.
„Ja", sagt er. „Find ich auch." Als hätte er sich gerade daran erinnert, rückt er demonstrativ seine Decke zurecht. „Aber es wird bald Winter und ich dachte, da ist es besser, wenn jeder eine eigene hat."
Ja. Ja, will ich sagen. Ihm zustimmen. Aber ich sage nichts. Genau genommen ist es ziemlich peinlich, dass ich wegen dieser Decke so schlaflos bin, während durch Harrys Kopf richtige Probleme geistern. Wahrscheinlich liegt es gar nicht daran. Wahrscheinlich haben wir einfach Vollmond oder sowas.
Harry mustert mich eine Weile und ich sehe zurück. Der Blickkontakt ist nicht unangenehm, eher vertraut. Wir liegen seit Wochen jede Nacht so nebeneinander. Es ist seltsam, aber diese Nähe ist so normal geworden, dass es mir jetzt so vorkommt, als würden wir unnatürlich weit voneinander entfernt liegen. Sein Blick ist vertraut. Das Geräusch seines Atems ist vertraut. Das einzige, was nicht vertraut ist, ist dieses völlig überflüssige Stück Stoff, das ich jetzt vielleicht etwas zu lieblos unter meinen Beinen hervorziehe und wieder über mir ausbreite. Als Harry plötzlich lächelt, lächele ich verwundert zurück.
„Was ist?", frage ich.
„Nichts." Er grinst.
„Was?"
Sein Grinsen wird breiter. „Ich dachte nur, wenn es dir so wichtig ist, können wir auch wieder unter eine ..."
Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Harry will mich ganz offensichtlich nur aufziehen, aber ich will nicht, dass es so wirkt, als würde ich es brauchen. „Ähm, wegen mir nicht, ich ..." Was will ich eigentlich sagen? „Also ..." Wir sehen uns an und müssen plötzlich lachen. Ich bin zu dieser Uhrzeit scheinbar nicht mehr imstande, richtige Sätze zu bilden. „Also", versuche ich es nochmal. „Du hast die Decke extra gekauft, es wäre doch schade, wenn wir sie nicht benutzen."
„Stimmt."
Wir sehen uns wieder an und sagen nichts und mein Gesicht glüht immer noch, als Harry lacht. Dann rutscht er näher. Ich spüre erst seinen kalten Zeh an meinem Knöchel, dann das Gewicht seiner Decke auf meiner und dann seinen Atem auf meiner Schulter. „Wir stapeln sie einfach", sagt er und damit ist es geregelt und das vertraute Gefühl der letzten Wochen stellt sich wieder ein.
Es dauert kaum eine Minute, bis mein Körper ruhiger wird. Meine Muskeln entspannen sich und die Dinge sind wieder normal. Das Gewicht zweier Decken liegt auf uns und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich so den Winter über schlafen kann. Es würde natürlich auch anders gehen, aber so geht es eben auch. Und daran habe ich mich gewöhnt. Wir schweigen eine ganze Weile, so lange, dass ich mich schon wieder darauf einstelle, endlich einzuschlafen, als Harry wieder etwas sagt.
„Kann ich dich was fragen?"
„Klar", sage ich, ohne zu zögern.
Harry hebt seinen Kopf leicht, um mich anzusehen. Obwohl er größer ist als ich, liegt er immer etwas tiefer und beugt seine Beine so, dass seine Füße trotzdem über meinen sind. „Stört es dich gar nicht?"
Ich sehe fragend zurück. „Was?"
„Dass du dir ein Zimmer mit mir teilen musst."
Ich runzele die Stirn und lache. „Die Frage hat dich bei deinem Einzug nicht sonderlich beschäftigt."
„Du hattest auch keine großen Einwände." Er grinst. Dann sieht er mich nachdenklich an, solange, bis es mir unangenehm ist. Sein Blick ist ein bisschen ernster geworden, aber so als wollte er es nicht richtig zeigen. „Ich weiß, dass ich manchmal echt klammern kann", sagt er plötzlich.
Diese Aussage verwirrt mich jetzt doch genug, dass ich wieder hellwach bin. Ich lache, weil das so absurd ist. „Du klammerst?", frage ich. „Das ist mir neu."
„Naja ..." Harrys Gesichtszüge sind immer noch entspannt und er lächelt auch noch, bloß in seinen Augen ist diese ungewohnte Unsicherheit, die ihn verrät. Mir wird klar, dass ich in Wirklichkeit absolut keine Ahnung habe, was in seinem Kopf vorgeht. Und deshalb überraschen mich auch seine nächsten Worte. „Seit der Sache mit meinen Eltern schon irgendwie, oder? Es hilft mir, wenn ich jemanden neben mir habe, deshalb kann ich schon manchmal ziemlich ... aufdringlich sein. Und du nimmst das einfach hin, deshalb frage ich mich, ob es dich stört ..."
Ich ziehe die Brauen zusammen und versuche nachzuvollziehen, was er mir da sagen will. Er sagt es beinahe so, als hätte er unglaublich viel von mir verlangt, als würde ich ihm die ganze Zeit beistehen müssen ... Klar, er hat viel Körperkontakt gesucht, seit der ganzen Sache. Hätte mich das stören sollen? Denkt er die ganze Zeit, dass er mir irgendetwas abverlangt? Ich betrachte sein Gesicht und versuche, mich in ihn hineinzuversetzen und plötzlich halte ich es für ziemlich wahrscheinlich, dass er nur deshalb die zweite Decke gekauft hat, weil er mir etwas Abstand ermöglichen wollte. Weil er dachte, dass ich das brauche.
Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll, aber der Gedanke, dass er sich nicht nur um seine Eltern Gedanken machen muss sondern auch darüber, wie sehr er mir auf die Nerven geht, gefällt mir überhaupt nicht. Ich schüttele mit dem Kopf, was etwas zusammenhangslos wirken muss. „Okay", sage ich und dann richte ich mich ein Stück auf. Harry sieht mich leicht verwirrt an, macht es mir dann aber nach. Wir setzen uns einander gegenüber in den Schneidersitz. Ich ziehe eine der Decken über meine Schultern, öffne den Mund und weiß nicht, wie ich anfangen soll.
„Okay?", fragt Harry. Er wartet und ich glaube, je länger er wartet, desto deutlicher wird die Unsicherheit in seinem Blick. Ich räuspere mich.
„Okay", sage ich nochmal. „Also, hör zu." Ich sehe ihm in die Augen und will, dass er meine nächsten Worte genau versteht und sich künftig nie wieder um sowas Sorgen machen muss. „Du bedrängst mich nicht."
Harry sieht mich an. Blinzelt. Und nickt. „Okay ..."
Ich kratze mich am Nacken. „Ich meine", fahre ich fort. „Ich glaube wir wissen alle drei, dass ich in dieser Sache ziemlich unbrauchbar bin. Das mit dem Aufmuntern, für dich da sein und so ..."
„Was?", unterbricht mich Harry, ehrlich verwirrt.
„Naja, ich weiß nie, was ich sagen soll, weiß nichts über deine Familie und über dich und kann dir deshalb auch nicht wirklich helfen und ... ich würde gern viel mehr machen. Auf jeden Fall ... bedrängst du mich nicht. Ehrlich, ich bin froh, wenn dir das ein bisschen hilft, wenn ich einfach nur da bin ..."
Harry sieht mich an, erst völlig reglos und kurz befürchte ich, irgendetwas Falsches gesagt zu haben. Dann lacht er plötzlich. „Ein bisschen? Machst du Witze? Du warst die ganze Zeit für mich da, falls du es nicht gemerkt hast."
Ich spüre, wie ich verlegen werde. „Ich hab doch gar nichts gemacht."
Harry lacht kopfschüttelnd. „Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber nicht jeder Kerl würde es zulassen, dass sein Mitbewohner ihm dauerhaft so auf die Pelle rückt. Und glaub mir, Worte hätten nicht mehr geholfen, ganz egal was du gesagt hättest. Du warst absolut nicht unbrauchbar."
Es fühlt sich seltsam an, so von ihm gepriesen zu werden, vor allem wenn man bedenkt, wie wenig ich momentan in meinem Leben auf die Reihe kriege. Das Lob tut irgendwie gut. Ich muss grinsen. „Ich wusste ja nicht, dass du eher der Anfassen anstatt Reden Typ bist."
Er lacht und verdreht die Augen. Wir grinsen uns an.
„Komm her", sage ich dann, hebe einladend einen Arm, sodass die Decke sich wie ein Zelt darunter ausbreitet und ein Platz neben mir entsteht. Harry lächelt mich an, kriecht zu mir und hockt sich neben mich. Ich ziehe die Decke über unsere Köpfe, sodass sie sich wie Kapuzen auf unsere Haare legen, unsere Gesichter frei. Dann greife ich mir ohne groß nachzudenken Harrys Hand. Es ist immer noch sehr dunkel im Raum. Harry lehnt seinen Kopf an meinen. Ich schätze, selbst die Stärksten unter uns, selbst die, die schon ohne eigenen Besitz, ohne Wohnung, ohne Familie in fremden Städten um die Straßen geirrt sind, machen sich manchmal unnötige Sorgen. Ich streiche mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Du kannst mir immer alles erzählen, wenn du willst", biete ich ihm schließlich an. „Und ich ... sitze einfach hier und gebe nutzlose Antworten."
„Das klingt ziemlich gut." Wir schweigen eine ganze Weile, aber ich glaube er denkt darüber nach, was er mir erzählen will. Ich sehe in die Dunkelheit des Raumes vor uns und mir wird klar, wie heuchlerisch es von mir ist, Harry aufzufordern mir alles zu sagen, während ich selbst so viele Dinge verheimliche und in mich reinfresse und alles andere tue als darüber reden. Wie immer wenn ich darüber nachdenke, steigt dieses Unwohlsein in mir auf. Als Harry sich räuspert und redet, bin ich froh, mich wieder auf ihn konzentrieren zu dürfen.
„Ich glaube, es geht mir wirklich etwas besser", sagt er. „Es gibt nur immer noch so viele Dinge, die ich nicht verstehe, vor denen ich Angst habe."
„Was für Dinge? Wovor hast du Angst?", frage ich in einer klassischen Therapeuten-Stimme, die Harry zum Lachen bringt.
„Viele Dinge." Er lächelt und schweigt kurz und lächelt immer noch, als er beginnt, die Liste aufzuzählen. „Dass Mama unglücklich ist und einsam, zum Beispiel. Oder dass sie mich zwar liebt, sich aber insgeheim doch wünscht, dass mein Outing damals nur eine Phase war und ich darüber hinweggekommen bin. Weißt du, wir haben gar nicht darüber geredet als ich bei ihr war und auch am Telefon nicht. Ich hatte Angst, es zu erwähnen. Keine Ahnung, vielleicht denke ich, dass sich, sobald ich damit anfange, einfach alles wiederholt."
Ich nicke langsam, nicht weil ich ihm zustimme, sondern weil ich den Gedanken nachvollziehen kann. Wenn ich seine Mutter kennen würde, könnte ich vielleicht etwas brauchbares antworten.
„Noch schlimmer ist es mit Papa. Ich weiß überhaupt nicht, was er denkt. Ob er wütend ist. Mama war zwar glücklich mich zu sehen, aber mit meinem Vater hatte ich immer noch keinen Kontakt." Harrys Griff um meine Hand wird stärker und wieder überkommt mich der Drang, etwas Hilfreiches zu sagen. Mir fällt nichts ein. „Ich glaube nicht, dass er mir so leicht verzeiht wie sie." Er dreht seinen Kopf zu mir und sieht mich an. Kurz scheint er zu überlegen. „Vielleicht hasst er mich", sagt er dann.
„Das glaube ich nicht", murmele ich, obwohl ich das nicht wissen kann. „Du hast doch gesagt, sie hätten sich gegenseitig Vorwürfe für ihre Reaktionen gemacht. Das heißt, dass sie bereuen, wie sie reagiert haben."
Harry zuckt mit den Schultern. „Vielleicht bereuen sie es, weil ich weggelaufen bin. Vielleicht können sie sich sogar mit der ganzen Sache abfinden, ekeln sich aber insgeheim doch vor mir. Wenn Papa mich nicht fürs Schwulsein hasst, dann vielleicht dafür, dass ich unsere Familie kaputt gemacht habe."
„Das hast du nicht, Harry."
„Irgendwie schon." Er lehnt seinen Kopf gegen meinen und seufzt langsam. „Vielleicht", fährt er dann fort. „Kann ich ihnen aber auch nie verzeihen. Für ihre Reaktion damals. Ich werde einfach niemals verstehen, wie man seinen eigenen Sohn danach beurteilt, wen er liebt. Wie man ... überhaupt irgendwas dagegen haben kann. Das geht nicht in meinen Kopf rein."
Ich starre weiter in die Dunkelheit vor uns. Ich stimme Harry zu mit allem was er sagt, aber gleichzeitig bin ich Teil des Problems, oder nicht? Ich verstehe das alles viel zu gut. Ich verstehe, wie man so denken kann. Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder der Jungen auf, mit denen ich früher meine Zeit verbracht habe. Asoziale, rassistische, homophobe Dorfkinder, die ihre Ansichten wie Gift verbreitet haben, das bis heute Auswirkungen auf mein Leben hat. Ich muss schlucken. „Meine Eltern würden ähnlich reagieren, glaube ich." Ich flüstere die Worte aber weiß, dass sie stimmen.
„Wirklich?" Harry sieht mich an, offenbar genauso überrascht wie ich, dass ich über sowas rede. Ich nicke nur. Er beobachtet mich, erst mein Gesicht, dann huscht sein Blick an mir herunter. Schließlich blickt er wieder auf. „Glaubst du, dass das mit ein Grund ist, warum du so abgeneigt bist, mit einem Mann ..."
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht." Mir ist es wahnsinnig unangenehm darüber zu reden, aber ich habe das Gefühl, dass ich es Harry schuldig bin. „Meine Eltern und einfach die Art, wie ich aufgewachsen bin ... oder vielleicht hat es auch überhaupt nichts damit zu tun. Ich weiß es nicht."
Harry sieht mich immer noch so an. „Wie weit ... würdest du gehen?" Als ich aufsehe bemerke ich, dass jetzt offene Neugierde in seinem Blick liegt.
„Keine Ahnung. Hab's noch nie versucht."
Wir sitzen eine Weile nur so da, die Decke über unseren Köpfen, die Finger ineinander verschränkt. Es ist seltsam, dass ich sonst niemals mit diesem ganzen Thema konfrontiert werde, eigentlich nur, wenn Zayn irgendwelche Witze macht. Aber das zählt nicht. Ich werde so selten damit konfrontiert, dass es leicht ist, zu verdrängen. Manchmal verdränge ich, dass es überhaupt dieses Problem gibt. Manchmal verdränge ich, dass ich nicht so ganz hetero bin, wie ich gerne wäre. Es ist seltsam, jetzt plötzlich wieder darüber zu reden, es fühlt sich beinahe an, als würde es hier gar nicht um mich gehen, sondern um einen anderen Louis, der mit mir nichts zu tun hat. Ich seufze schwer und auch Harry seufzt. Wir gehen unseren Gedanken nach. Es muss mittlerweile nach fünf sein.
Schließlich seufzt Harry nochmal tief und als ich ihn ansehe, hat sich ein Grinsen auf sein Gesicht geschlichen. Ich hebe fragend die Brauen. Er grinst nur weiter und stößt dann spielerisch seine Schulter gegen meine, hält unsere Hände in die Höhe und wackelt damit vor meiner Nase herum. „Also nach meiner Diagnose scheint Händchenhalten für dich klar zu gehen", sagt er in seiner besten Arztstimme und ich muss lachen.
„Da bin ich beruhigt, Herr Doktor."
Er grinst. Sieht mich an, direkt in meine Augen und sein Blick ist albern aber auch irgendwie herausfordernd. Er sieht mein Gesicht gründlich an, meine Wangen, meinen Nase, meine Lippen, dann sieht er wieder in meine Augen. „Sag Bescheid, wenn du noch mehr Tests durchführen willst", sagt er schließlich in einer so übertrieben flirtenden Stimme, dass ich gar nicht glauben kann, dass er das wirklich gesagt hat. Sobald die Worte draußen sind, beißt er sich auf die Unterlippe und muss scheinbar über sich selbst lachen. „Oh mein Gott, vergiss das sofort wieder."
Ich kann nicht anders, als mit ihm zu lachen, auch wenn ich für eine Sekunde nicht sicher war, ob er das erst meinte oder nicht. Ich würde wirklich gern damit aufhören, mich zu fragen, ob er auf mich steht, aber manchmal macht er es mir nicht leicht. „Wie soll ich sowas vergessen?", frage ich lachend, nur um ihn noch mehr aufzuziehen.
„Vergiss es. Bitte." Er lacht immer noch und ich kann selbst in diesem schwachen Licht sehen, dass sich seine Wangen dunkel gefärbt haben. Er schüttelt über sich selbst den Kopf, während er sich von mir löst. „Versuchen wir nochmal zu schlafen?"
Ich schnaufe belustigt. Ist es ihm so peinlich, dass er jetzt nicht mehr reden will? Eine angenehme Wärme breitet sich in meiner Brust aus, bevor ich ihm zustimmte und wir uns nebeneinander legen. Wir stapeln die zwei Decken über uns und rutschen eng zusammen. Wir schweigen. Der Wind drückt immer noch gegen das Fenster aber ich höre keine Stimmen mehr von draußen. Harrys Körper ist warm neben mir.
„Du hast mir wirklich viel geholfen. Auch wenn du es nicht merkst", murmelt Harry, nachdem schon einige Minuten vergangen sind. Ich lächele. Es fühlt sich ungewohnt gut an, etwas richtig gemacht zu haben. Ich schließe die Augen. Seine Locken kitzeln meine Wange. Die Müdigkeit brennt in meinen Augen, aber ich bin froh, dass wir geredet haben. Vielleicht schaffe ich es irgendwann doch noch, ihm mehr davon zu erzählen, was durch meinen Kopf geht. Das ist mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe.
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you are a home that I want to grow up in
FanfictionLouis' Leben stellt sich auf den Kopf, als unerwartet ein fremder Junge in seinem Zimmer einzieht und sich ab jetzt ein Bett mit ihm teilen soll. Dass Louis Jungs eigentlich mag, aber niemals etwas mit ihnen anfangen würde, erleichtert die Sache nic...