12.

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Nach der Sache mit dem Alkohol und dem Gespräch mit seiner Mutter, ist Harry wie ausgewechselt. Es ist, als wäre das ganze Drama nie passiert. Er kocht wieder. Geht wieder in die Stadt, um etwas Geld zu verdienen. Er redet nicht mehr davon und wenn man ihn darauf anspricht, lächelt er und sagt, es wäre schon okay so wie es ist. Und nachts, wenn ich gegen seinen Rücken starre und seinem ruhigen Atem lausche, bin ich mir zwar nicht ganz sicher, ob er wirklich schläft oder stundenlang wachliegt, aber er lässt sich nichts anmerken. Gar nichts. Er hat das Problem völlig aus der Welt geschafft.

„Verdrängung", sagt Zayn, als ich ihn auf dem Weg zur U-Bahn danach frage. „Damit kennst du dich doch auch prima aus." Er hebt wissend die Brauen und um meinem Ruf gerecht zu werden, gehe ich nicht mal darauf ein.

„Er verdrängt es ziemlich gut", meine ich nur. „Ich hätte es lieber, wenn er darüber reden würde ..." Ich sehe zu, wie hinter dem Fenster die Wände des U-Bahn-Schachts an uns vorbei rauschen. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob Reden wirklich helfen würde. Ich weiß ja doch nie, was ich sagen soll, wenn er etwas erzählt ... Ich seufze. Ich bin in sowas absolut unbrauchbar.

„Warts einfach ab." Zayn steigt eine Station später aus, weil er arbeiten muss und ich winke ihm noch durch die Glastür, bevor ich mich auf einen der freien Sitze setze. Ich sehe aus dem Fenster und fahre weiter in Richtung Uni, bis die nächste Station angesagt wird. Dann steige ich aus, überquere den Bahnsteig und nehme die nächste U-Bahn zurück nachhause, von wo ich gekommen bin.

Ich weiß. Ja, verdammt, ich weiß, wie das jetzt klingt und ich wünschte, ich könnte es abstreiten, aber es ist leider genau so wie ich es sage und das schon seit einer Woche: Ich steige morgens in die U-Bahn und fahre wenn nötig bis zur verdammten Uni. Ich gehe sogar mit Zayn in das verfluchte Gebäude und dann, wenn er abbiegt, um zu seinem Seminar zu gehen, drehe ich einfach wieder um. Ich drehe um und fahre wieder nachhause. Und der einzige Grund, warum ich überhaupt die Wohnung verlasse, ist damit Zayn denkt, ich würde zur Uni gehen. Ich kann nicht anders. Es fühlt sich beinahe ... physisch unmöglich an, einen dieser verdammten Vorlesungssäle auch nur zu betreten.

Ich spüre, wie mein Gesicht vor Scham rot wird und presse es gegen das kühle Fenster. Seit Harry nicht mehr so wirkt, als würde er meine Hilfe brauchen und ich nicht mehr meine gesamte Konzentration darauf setzen kann, für ihn da zu sein, bin ich wohl oder übel dazu gezwungen, mir wieder über meine eigene Existenz Gedanken zu machen. Ich wollte nicht lügen. Ich wollte wirklich nicht lügen. Anfangs wollte ich nur ein bisschen die Wahrheit verschleiern und zufällig immer dann aus dem Haus gehen, wenn ich zur Uni sollte, nur damit sie es denken. Aber als Zayn mich dann letzten Montag direkt gefragt hat, ob ich in der Uni war, musste ich einfach lügen. Wenn sich der einfache Weg direkt vor der Nase auftut, kann man eben nur noch schwer wieder umdrehen. Vor allem wenn das Umdrehen bedeuten würde, alle zu enttäuschen.

Ich steige an unserer Haltestelle aus und laufe das kurze Stück zurück zur Wohnung. Der Herbst neigt sich langsam dem Ende zu. Es wird immer kälter. Ich schließe die Tür auf, gehe das Treppenhaus hoch und bin froh, die Wohnung leer vorzufinden. Harry muss schon in der Stadt sein. Lustlos lasse ich mich auf dem Sofa fallen, stelle den Fernseher an und blättere durch eines der vielen Bücher, die Harry überall rumliegen lässt. Irgendwelche hohe Literatur, die mir zu kompliziert ist. Ich seufzte nochmal und reibe mir mit der Hand über die Stirn. Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, rufe ich schließlich meine Schwestern an, eine nach der anderen und lasse sie mir von ihren Leben erzählen, sage ihnen, dass es mir gut geht und verspreche ihnen, sie bald mal wieder zu besuchen.


///


„Wie war die 12 Uhr Vorlesung?", fragt Zayn beim Abendessen mit der üblichen gelangweilten Miene, bevor er sich eine Gabel Kartoffelbrei in den Mund schiebt.

Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt, bekomme kurz eine minimale Panikattacke und für eine Millisekunde habe ich das Gefühl, schon aufgeflogen zu sein, aber als ich meine eigene Stimme höre, die ruhig und absolut entspannt klingt, weiß ich, dass sie mir jedes Wort glauben. Ich selbst hätte mir jedes Wort geglaubt. „Referate wie letzte Woche. Echt ätzend. Dieser Typ, der immer Karohemden trägt hat vorgetragen und für ein zehn-Minuten-Referat bestimmt zwanzig Folien Präsentation mitgebracht."

Zayn lacht. „Was fürn Vogel."

„Ja." Ich lache auch und kratze mich am Nacken.

Zayn schiebt den Rest Essen mit dem Finger auf seine Gabel, dann in seinen Mund und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Er sieht von Harry zu mir und zurück. „Freut mich, dass ihr alle wieder auf die rechte Bahn gelangt seid. Lou geht wieder in die Uni. Harry zaubert wieder Essen–"

„Ich zaubere es nicht, es ist viel Arbeit", unterbricht Harry ihn, nur um dann selbst unterbrochen zu werden.

„– und geht sogar wieder auf die Straße. Wer weiß Jungs, bald fangt ihr an, Miete zu zahlen."

Ich stochere in meinem Essen herum. Das schlechte Gewissen brennt unangenehm in meiner Brust und ich sage nichts.

Harry, der bereits mit dem Essen fertig ist und, ein Bein auf den Stuhl gezogen, vor einer dampfenden Tasse Tee sitzt, lächelt plötzlich. „Apropos." Nein, er lächelt nicht nur, er strahlt Zayn förmlich an. „Ich geb dir bald eine erste Zahlung. Ich habe ... ganz schön was zusammengesammelt." Wieder diese Grübchen auf seinen Wangen. „Es läuft ziemlich gut."

Zayn hebt die Augenbrauen und stützt seinen Kopf auf seiner Hand ab. „Wird etwa noch ein Popstar aus dir, Styles?"

Harrys grinst wie ein kleiner Junge, der gelobt wird, weil er etwas richtig gemacht hat. Dann fallen mir wieder seine Schultern und die Linie seines Kieferknochens in den Blick, die alles andere als kindlich wirken, sondern kantig und männlich. „Vielleicht", murmelt er, teils verlegen, teils ziemlich stolz.

„Wir müssen dich mal in der Stadt besuchen und dir beim Spielen zusehen", sage ich mit vollem Mund, froh, dass ich mich auf Harry konzentrieren, und dabei meine Lüge vergessen darf.

„Ich wette, er hat schon eine kleine Fangemeinde." Zayn reibt sich grinsend das Kinn. „Ich kann's mir richtig vorstellen. Eine Gruppe kleiner Mädchen. Wenn die wüssten, dass du auf Schwänze stehst." Ich verschlucke mich am Essen, Harry grinst nur und Zayn sieht mich an. „Du musst nicht jedes Mal wie eine Jungfrau halb ersticken, wenn jemand das Wort Schwänze sagt, Louis."

„Hab ich doch gar nicht." Ich verdrehe die Augen. „Ich hab nur zu viel auf einmal in den Mund genommen."

Zayns Grinsen wird nur breiter. „Ah", macht er. „Zu viel auf einmal im Mund, klar."

„Ja, zu viel Essen, du Grundschüler und jetzt halt die Klappe."

Harry lacht und in seinem Lachen steckt keine Spur Traurigkeit. Es ist verblüffend, wie gut er das macht. Später, als wir abwaschen, stehen wir gewohnt nah beieinander, während Zayn aufräumt und dabei irgendein Lied pfeift. Harry und ich sagen nichts, aber unsere Blicke treffen sich manchmal und ich frage mich wie so oft, was in seinem Kopf vorgeht. Wahrscheinlich verdrängt er die Dinge wirklich, genau wie ich. Der Unterschied zwischen ihm und mir ist bloß, dass er genug Disziplin hat, sein Leben trotzdem in den Griff zu bekommen. Und ich ... ich lasse mich einfach schleifen und sinke immer tiefer. Während ich eine Pfanne abtrockne, kommt mir dieser vertraute Gedanke: Was ist eigentlich mein verdammtes Problem? Und ich weiß wie immer keine Antwort.


///


Die Tage vergehen und für eine Weile fallen wir zurück in die wohlbekannte Routine. Morgens stehen wir auf, putzen uns die Zähne und manchmal frühstücken wir zusammen. Wir fahren U-Bahn und sobald ich allein bin, drehe ich wieder um. Die Uni fühlt sich nicht mehr an wie ein Ort, an dem ich irgendetwas erreichen könnte. So als wäre dieses ganze Studentendasein überhaupt nicht mehr in meinem Sinn. Während den Kursen, die Zayn und ich zusammen haben, denke ich mir irgendwelche Gruppenarbeiten oder Zahnarzttermine aus, wegen denen ich nicht kommen kann, und so schaffe ich es, nicht aufzufliegen. Zumindest vorerst.

Nicht, dass ich Zuhause sonderlich viel zu tun hätte. Ich verbringe unnötig viel Zeit damit, im Internet zu surfen, fernzusehen, oder einfach nur herumzuliegen und darauf zu warten, dass die anderen zurück kommen. Wenn sie dann da sind, ist es zwar nicht mehr langweilig, aber trotzdem irgendwie beschwert, weil ich so viele Lügen im Kopf hab. Und wenn Harry und ich allein sind, ist alles ... naja, anders.

Ich liege wieder mit einem seiner Bücher im Bett und kämpfe mich durch das zweite Kapitel, als er aus der Dusche kommt und dabei leise eine Melodie singt. Noch dazu ziemlich gut. Ich hebe die Brauen und sehe auf. „Wow."

„Hm?" Er dreht sich um und seine nassen Locken kleben in seinem Gesicht. Er trägt nur ein Handtuch um die Hüften und ich muss blinzeln, um nicht hinzusehen.

„Du singst echt gut."

Er lacht, als wäre es gar nichts und beginnt, in seinem Rucksack nach Klamotten zu suchen. Selbst nach all den Monaten hat er sein ganzes Hab und Gut immer noch in seinem Rucksack, anstatt es zu meinen Sachen in die Schränke zu legen. Als könnte er jederzeit wieder abreisen. Er müsste nur seinen Rucksack aufsetzen und gehen. Mehr wäre es nicht. Während er nach einem frischen T-Shirt sucht, beobachte ich, wie ein Wassertropfen knapp unter dem Handtuch an seinem Bein herabläuft.

Ich räuspere mich. „Nein, echt. Das war gut." Ich weiß selbst nicht, warum ich mich so darauf versteife, obwohl ich kaum etwas von seinem Gesang gehört habe. Wahrscheinlich weil ich ihm eine Freude machen will. Ich klappe das Buch zu und setze mich auf. Ich will nicht, dass er die Dinge verdrängt und nur für sich allein traurig ist. Und ich will auch nicht, dass er in naher Zukunft seinen Rucksack packt und geht, deshalb gehe ich an ihm vorbei zu meinem Schrank und öffne ihn. Zugegeben, sonderlich Platz für mehr Klamotten ist da nicht. Ich stapele meine T-Shirts über die Pullover, so dicht, dass sie den oberen Rand des Faches berühren und stopfe noch ein paar einzelne Socken daneben, bis das oberste Fach frei ist. Da bin ich eh immer nur auf Zehenspitzen rangekommen.

„Hey –" Harry ist sichtlich verwirrt, als ich ihm den Rucksack vor der Nase wegziehe und beginne, ihn auszuräumen.

„Das wird höchste Zeit", erkläre ich.

„Die Hälfte von den Sachen ist schmutzig!", protestiert er und macht Anstalten, mir die Sachen wieder wegzunehmen.

Ich grinse. „Dann riech besser mal dran." Ich werfe ihm eines der T-Shirts zu und er fängt es gekonnt und hält es sich an die Nase. Dann verzieht er sein Gesicht so übertrieben, dass ich lachen muss.

„Ach komm, so schlimm kann's nicht sein." Ich habe noch nie gemerkt, dass Harry auch nur ansatzweise unangenehm riecht.

„Willst du mal riechen?" Harry grinst und kommt auch schon näher, das T-Shirt in der Hand, etwa auf meiner Augenhöhe. Ich versuche auszuweichen, muss auch lachen, und als ich flüchten will, greift er nach meinem Arm. Sein Griff ist stark an meinem Handgelenk. Ich wedele halb angewidert, halb lachend mit dem freien Arm, und als er mir das T-Shirt direkt ins Gesicht drückt, schreie ich gequält auf.


„Du bist so eklig!" Meine Stimme ist gedämpft von dem Stoff. Erst als ich einatme, merke ich, dass das T-Shirt überhaupt nicht stinkt. Es ist frisch gewaschen und riecht nach Zayns verdammten Lavendel Waschmittel. Harrys Lachen wird nur noch lauter, als er mein verwirrtes Gesicht sieht. „Tsk", mache ich grinsend, reiße ihm das T-Shirt aus der Hand und falte es zusammen, bevor ich es (auf Zehenspitzen) in das obere Fach lege. Wir beginnen, seine Sachen zu sortieren. Ein Haufen Schmutzwäsche, der Rest ins Fach. Als wir fertig sind, ist Harrys Haut trocken und seine feuchten Haarspitzen kringeln sich an den Enden. Er zieht sich eines der T-Shirts über und frische Boxershorts und ich sehe dabei angestrengt gegen die Wand.

Später sitze ich auf dem Bett und tue so, als würde ich etwas für die Uni machen, indem ich auf meinen Laptop starre und in Wirklichkeit nur die Dateien auf meinen Desktop in unnötige Ordner und noch unnötigere Unterordner sortiere. Ich habe gut 60 ungelesene Mails und alles in mir sträubt sich, auch nur eine davon zu lesen. Harry liegt neben mir und liest sein Buch. Schließlich klappt er es zu und beginnt, mir darüber zu erzählen. Ich bin dankbar für die Ablenkung, höre ihm zu und versuche, schlaue Fragen zu stellen. „Die Zombies sind natürlich nur eine Metapher für die Außenseiter", sagt er gerade und dann fällt sein Blick auf den Laptop auf meinem Schoß und er stockt in seiner Erzählung. „Oh, sorry. Du hast zu tun, oder?"

„Achso, nein. Ich ... mach nichts wichtiges." Das klingt zu undiszipliniert, also füge ich noch hinzu: „Ich hätte schon was zu tun, aber das kann ich auch später machen."

Harry scheint etwas sagen zu wollen, kaut sich aber stattdessen auf der Unterlippe herum. Das ist untypisch für ihn. Ich mustere ihn neugierig. Sein Blick ist irgendwo auf meiner Schulter, eher verträumt als dass er wirklich hinsehen würde und dennoch muss ich plötzlich wieder daran denken. Der Gedanken kommt immer wieder ganz unerwartet und jedes Mal könnte ich über meine eigene Arroganz die Augen verdrehen, wie in der Nacht nach dem Gespräch mit seiner Mutter, als ich mir plötzlich eingebildet hatte, er würde etwas von mir wollen. Es ist dieses typische Denken von Jungs, dass sobald sie einen schwulen Kerl kennenlernen, sich einbilden, er würde auf sie stehen. Ich schüttele gedanklich mit dem Kopf.

„Übrigens", sagt er plötzlich überschwänglich und sein Gesicht erhellt sich. „Ich hab eine Überraschung für dich!" Ich beobachte ihn, wie er aufsteht und sich über eine Papiertüte beugt, die neben dem Schreibtisch steht.

Ich runzele die Stirn. „Ist es eine neue Zimmerpflanze?", frage ich, weil mir nichts besseres einfällt. Er lacht und sieht mich über seine Schulter an.

„Nein. Warum? Willst du eine?" Ich muss lächeln. Zayn hätte an dieser Stelle sowas gesagt wie Du lässt doch eh alles sterben was grün ist und Blätter hat, aber Harry scheint noch an mich zu glauben, oder sich zumindest damit abgefunden zu haben, dass er immer die Pflanzen gießt.

„Man kann nie genug Pflanzen haben!", verkünde ich. Harry holt etwas aus der Tüte und stellt sich gerade hin. In seinem Gesicht liegt ein begeisterter Ausdruck. Und in seinen Händen hält er ...

Eine Decke. Groß und weiß und unbezogen. Es macht Sinn. Wir sind zwei erwachsene Männer und brauchen zwei Decken. Für einen kurzen Moment bin ich sprachlos. Nicht, dass ich irgendwie enttäuscht wäre oder so, ich bin nur überrascht, weil nie die Rede davon war. Aber ... es macht Sinn.

„Cool!", rufe ich deshalb, klappe den Laptop zu und setze mich auf. Wir räumen das Bett frei und machen uns daran, die Decke zu beziehen. Das Bett sieht zum ersten Mal aus, als würden in diesem Zimmer wirklich zwei Menschen leben. Es ist nicht mehr nur mein Zimmer, in dem er für kurze Zeit wohnt, sondern unser Zimmer.

Harry grinst und lässt sich auf dem Bett fallen und ich starre auf seinen Rücken. Wenn er wirklich auf mich stehen würde, hätte er kaum freiwillig dafür gesorgt, dass wir nachts nicht mehr gezwungenermaßen aneinanderkleben müssen, oder? Im Grunde ist es ja auch völlig egal. Ich hab andere Dinge, um die ich mir Gedanken machen sollte. Ich klettere neben ihn ins Bett und will schon wie gewohnt unter seine Decke schlüpfen, stoppe mich aber im letzten Moment und ziehe die neue, schwere Decke über mich. Sie ist kalt und fühlt sich ungewohnt frisch an. Ich drehe mich auf die Seite, starre auf Harrys Rücken und versuche zu schlafen.

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