Der erste Tag ist sehr ruhig. Die vier weißen Wände, die das winzige Zimmer umrahmen, geben nichts darüber preis, wer schon einmal in ihnen gelebt hat. Egal wie lange ich sie anstarre, sie sehen nicht zurück.
Ich habe das Bett gemacht. Ich habe das Fenster geöffnet. Ich habe geduscht und versucht, mir notdürftig mithilfe eines Kaugummis die Zähne zu putzen. Jetzt sitze ich mit einem Handtuch auf den Schultern auf dem Boden neben dem Bett und öffne meinen Rucksack. Ich krame alles hervor, was ich finden kann, verteile es vor mir und sichte meine Ausbeute.
Ein Handy mit 12% Restakku. Ein Portemonnaie ohne Geld. Ein Schlüssel zu diesem Zimmer. Kaugummis. Kopfhörer. Ein unbeschriebenes Notizbuch. Ein Stift. Und eine Plastiktüte mit einer unbestimmten Menge Geld, das Harry gestern auf der Straße verdient hat.
Ich lehne mich mit dem Rücken gegen das Bett. Von draußen kommt nur wenig Licht ins Zimmer, weil sich vor dem Fenster nichts als eine Gasse und die Hauswand des anliegenden Gebäudes befindet. Ich muss einige Male schlucken, um den Kloß in meinem Hals zu beseitigen, dann betrachte ich die Gegenstände. Dass ich das Notizbuch und den Stift dabei habe, liegt nur daran, dass ich gestern Alibi-mäßig meinen Rucksack für die Uni packen wollte – jetzt erscheint mir das alles unfassbar abwegig.
Ich seufze. Dann greife ich mir die Plastiktüte, öffne den Knoten und zähle fünfundzwanzig Pfund ab. Den Rest rühre ich nicht an, sondern schiebe ihn ganz hinten unters Bett an die Wand. Meine Sachen packe ich zurück in den Rucksack. Ich stehe auf, ziehe mich an und verlasse das Zimmer.
Kurze Zeit später stehe ich an der Rezeption und zahle zwanzig Pfund für zwei Nächte. Vor mir sitzt dieselbe Frau wie gestern Abend und sie lächelt mich an. „Du bist also Harrys Freund?", fragt sie, während sie sich etwas in einem großen Kalender notiert.
„Ja", sage ich, obwohl ich nicht weiß, was genau sie mit Freund meint. Als sie fragt, wie wir uns kennengelernt haben, und ich sage, dass wir zusammen wohnen, habe ich den Verdacht, dass das ganze schon missverständlich klingen kann.
„Das freut mich für euch." Sie lächelt aufrichtig. „Und dass er endlich ein Zuhause gefunden hat, freut mich auch. Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst, Louis. Ich bin meistens hier, und wenn nicht, die anderen sind genauso nett wie ich." Sie grinst und ich grinse zurück.
„Danke." Ich will gerade gehen, als mir etwas einfällt. „Hast du ein Ladekabel?"
Sie hat eins, also gebe ich ihr mein Handy, damit sie es hinter dem Tresen für mich auflädt. Dann verlasse ich das Hostel und kaufe mir beim nächsten Bäcker ein belegtes Brötchen. Ich esse es, während ich ziellos durch die Stadt laufe. Ich weiß nicht, was ich machen soll, aber laufen ist besser, als im Zimmer herumsitzen. Instinktiv schlage ich die Richtung ein, in der ich Harry gestern gefunden habe. Ich suche nicht wirklich nach ihm und ich glaube auch nicht, dass er heute wieder da ist – ich brauche einfach nur ein Ziel. Als ich ankomme, sitzen dort, wo Harry gestern stand, ein paar Tauben, die eifrig den Boden von Brotkrümeln säubern und sich dabei von den vielen Touristen nicht stören lassen. Ich beobachte sie eine Zeit lang, bevor ich weitergehe. Ich denke nicht nach, während ich unterwegs bin. Mein Kopf ist völlig leer. Ich habe nichts mehr zu tun. Nichts mehr zu befürchten.
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Es dauert einige Stunden, bis ich endlich ein Gefühl dafür bekomme, was eigentlich los ist. Es dauert den gesamten Spaziergang, so lange, bis es schon dunkel wird und ich die fünf Euro, die nicht für das Hostel draufgegangen sind, für eine Pommes und eine große Flasche Wasser ausgegeben habe. Erst als ich am Abend hungrig, durchgefroren und mit schmerzenden Beinen in das Hostel zurückkehre, mein Handy von der Rezeption hole und die Treppe zu meinem Zimmer hochgehe, passiert es. Ich halte im Gehen inne und starre auf die Zimmertür. Einige Sekunden warte ich, bis ich den Rest des Weges gehe, eintrete und die Tür schnell hinter mir schließe. Ich starre in das dunkle Zimmer.
Vielleicht ist es das leere Bett, oder der leere Schrank, oder die Plastiktüte in der Ecke, die es endgültig in mir bewirken. Ich lehne mich gegen die geschlossene Tür und warte, während nach und nach die Dinge in eine andere Perspektive rücken.
Stirnrunzelnd wische ich mir die plötzlich schweißnassen Hände an der Hose ab. Es ist genau wie gestern morgen mit Zayn, die Panikwellen, die mich überollen. Ich presse die Augen zusammen und kämpfe dagegen an. Schließlich schaffe ich es, mich zu beruhigen und setze mich, immer noch im Dunklen, an den Schreibtisch. Auf dem Tisch liegt ein kleiner Zettel, auf dem kleingedruckt die Hausordnung geschrieben steht und darunter das W-LAN Passwort. Ich versuche die Buchstaben zu lesen, aber ich muss an Zayn denken, und daran, dass er mir das nicht verzeihen wird. Ich muss an Harry denken und daran, dass ich seine Gutmütigkeit nicht verdient habe. Ich muss an meine Eltern denken und daran, wie es für sie sein muss, wenn der eigene Sohn sich völlig isoliert. Ich muss an meine Schwestern denken, die ihren Bruder seit Monaten nicht gesehen haben, und nicht die leiseste Ahnung haben, woran das liegt.
Dass ich in diesem Moment unfassbar allein bin, ist gar nicht unbedingt das Schlimmste. Es ist die Tatsache, dass ich selbst all die Menschen allein gelassen habe und jetzt mit den Konsequenzen leben muss. Es ist mir zu verschulden, dass ich jetzt hier in diesem Loch wohne und alle anderen an einem anderen Ort sind, an dem ich nicht mehr sein kann.
Ich will Harry anrufen, und ihn fragen, ob er vorbeikommen kann. Dann fällt mir ein, dass er immer noch kein Handy hat. Ich überlege ersthaft, meine Mutter anzurufen, und zu fragen, ob ich bei ihr wohnen kann, aber ich bringe es nicht über mich. Mein Magen fühlt sich leer an, das Brötchen und die Pommes waren nicht genug. Mir ist plötzlich sehr kalt. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und zwinge mich, ruhig zu bleiben, nicht im Selbstmitleid zu versinken.
Klar, Louis, sage ich mir. Ein bisschen Hunger und ein bisschen frieren und schon denkt man, die Welt würde untergehen. Reiß dich zusammen! Eine geschlagene Minute kämpfe ich dagegen an. Ich merke erst jetzt, dass ich noch immer meinen Rucksack aufhabe. Mein Rücken tut plötzlich auch weh, als wäre das nicht genug und ein Teil von mir möchte darüber die Augen verdrehen, der andere hat das starke Bedürfnis, sich hinzulegen. Ich lasse den Rucksack fallen, kicke meine Schuhe in die Ecke neben der Tür und lasse mich kraftlos auf das Bett sinken. Ich schließe die Augen. Jetzt kommt es. Die Einsamkeit überfällt mich, und ich merke, dass ich das jetzt nicht mehr stoppen kann. Du kannst hier jetzt nicht heulen. Und dann: Aber es würde sich so gut anfühlen. Ich atme tief Luft ein und als ich sie wieder ausatme, schaffe ich es gerade noch, mich hinzulegen und die Decke über mich zu ziehen, bevor es nass vor meinen Augen wird. Scheiße. Wann hab ich zuletzt geweint? Ich kann mich nicht erinnern.
Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen und lasse es über mich ergehen. Meine Finger krallen sich in das kalte Bettlaken und immer wieder geht ein Beben durch meinen Körper. Ich lasse alles raus, so lange, bis meine Augen brennen und mein Kiefer schmerzt, weil ich die Zähne zu fest zusammenbeiße und dann krieche ich unter die Decke und versuche, zu schlafen. Es geht nicht. Gestern war ich zu müde, um darüber nachzudenken, aber heute ist mir sehr bewusst, dass neben mir niemand liegt. Ich fahre mit der Hand über das Bettlaken. So langsam hat sich mein Atem beruhigt, aber meine Nase ist verstopft und vereinzelt gehen immer noch Beben durch meinen Körper. Ich bin froh, dass es dunkel ist. Froh, dass mich niemand sehen kann.
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Der zweite und dritte Tag verläuft ähnlich. Ich verbringe den ganzen Tag unter der Decke. Gegen sechzehn Uhr fällt mir ein, dass gestern der Tag war, an dem Harry seinen Vater anrufen wollte, und die Tatsache, dass ich das vergessen habe, und dass ich nicht bei ihm sein kann, macht mich wahnsinnig. Das alles macht mich wahnsinnig. Ich scrolle durch mein Handy, aktualisiere ständig Zayns Instagram, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis: Wie geht es ihm? Wie geht es Harry? Was machen sie?
Mehrmals will ich Zayn anrufen und mehrmals formuliere ich Nachrichten, die ich dann nicht abschicke. Ich drehe mich auf die andere Seite, fluche vor mich hin und reibe mir die brennenden Augen. Erst am Abend bringe ich genug Energie auf, um etwas gegen die Leere in meinem Magen zu tun, gehe runter und hole mir ein paar Sandwiches und ein Getränk, während mein Handy an der Rezeption auflädt. Dann krieche ich wieder ins Bett und versuche erfolglos zu schlafen.
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Am vierten Tag wache ich um Punkt acht Uhr auf, obwohl ich bis nach fünf wachgelegen habe. Ich sehe auf mein Handy, aber nichts hat sich geregt. Ich schließe die Augen wieder und überlege, ob es sinnvoll wäre, mich noch einen Tag vor der Welt zu verstecken, aber ich fühle mich so unwohl, dass ich nicht länger liegen bleiben kann. Meine Kleidung stinkt. Meine Haare sind fettig. Mein Mund fühlt sich trocken und fad an. Ich zwinge mich unter die Dusche und stehe dort eine geschlagene Stunde. Meine Kleidung liegt zu meinen Füßen und ich reibe sie mit etwas Shampoo ein, wasche sie gründlich und hänge sie schließlich über die Heizung. Nackt hocke ich mich auf den Boden und ziehe meinen Rucksack unterm Bett hervor, um mir ein Kaugummi in den Mund zu schieben. Dabei fällt mein Blick auf das Notizbuch. Ich streiche mir unschlüssig durch die Haare. Ich wünschte, ich könnte ...
Mit einem Ruck schlage ich eine Seite auf und beginne zu schreiben, ohne darüber nachzudenken. Ich kritzele eine Liste, eine unfassbar unübersichtliche Liste, aber immerhin sind es Worte und es sind Ziele und es ist alles, was ich nicht aussprechen kann. Als ich fertig bin, stoße ich die Luft aus, die ich die letzten Sekunden angehalten habe. Ich betrachte mein Werk und fühle mich zehn Kilo leichter.
Ganz groß, fast über der ganzen Seite steht: BEI ZAYN ENTSCHULDIGEN. Darunter, etwas kleiner: Mama anrufen. Und schließlich, mit einem krakeligen Fragezeichen versehen: Studium abbrechen?
Ich starre auf die Worte. Je öfter ich den letzten Punkt lese, desto sicherer bin ich mir. Es kam mir nie in den Sinn, aber es ist so, wie Harry gesagt hat. Ich versuche, seine Worte in meinem Kopf nochmal aufklingen zu lassen und sie beruhigen mich, geben mir das Gefühl, dass das hier etwas ist, das ich wirklich machen kann. Warum verschwendest du so viele Monate und so viel Energie damit, allen Leuten vorzumachen, zu studieren, wenn du einfach komplett damit aufhören könntest?
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Den Gedanken beiseite schiebend, fische ich mein Handy vom Bett, öffne meine Kontakte und rufe Zayn an. Mein Herz hämmert. Es klingelt. Mehrmals. Fünf mal. Sechs mal. Sieben mal. Nichts. Ich versuche es nochmal, dann nochmal, es hebt niemand ab. Also verfasse ich eine Nachricht. Ich tippe einfach drauflos, ohne darüber nachzudenken, weil ich sonst nur Gründe erfinden würde, es nicht zu tun. Ich schicke die Nachricht ab und erst dann, als es eh zu spät ist, wage ich es, mir die Worte nochmal durchzulesen.
Zayn, es tut mir leid. Ich bin ein riesiges Arsch aber ich will dich nicht verlieren. Können wir reden? Kannst du mich zurückrufen?
Ich verziehe das Gesicht, denke nicht weiter darüber nach und widme mich wieder meiner Liste. Wenn ich das hier wirklich machen will, dann richtig. Und vor allem in der richtigen Reihenfolge. Ich stehe auf, gehe zur Heizung und prüfe, ob meine Kleidung schon trocken ist. Ich ziehe mir ein Kleidungsstück nach dem nächsten an und schlüpfe in meine Schuhe. Dann nehme ich wieder mein Handy, tippe die Homepage meiner Uni ein und scrolle mich durch die Seite. Irgendwo muss es stehen. Irgendwie muss es gehen. Ich öffne ein Formular, dann noch eins und werde schließlich fündig. Mein Herz hämmert gegen meine Brust. Ich hätte das schon vor Monaten machen sollen. Ich greife nach dem Schlüssel, packe ein paar Sachen in meinen Rucksack und sehe mich noch einmal im Raum um, bevor ich die Treppe herunterlaufe. An der Rezeption sitzt diesmal ein Mann, aber auch der blickt mir schon von weitem freundlich entgegen. „Hey", sage ich etwas außer Atem. „Kann ich etwas bei dir drucken?"
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Es fängt an zu regnen, als ich mich gerade auf den Weg mache. Ich husche in einen Schreibwarenladen und kaufe einen DIN A4 Briefumschlag und eine Briefmarke. Wahrscheinlich könnte ich auch zur Uni fahren und das ganze persönlich in irgendeinen Briefkasten werfen, aber das nicht zu tun, ist mir das Porto wert. Ich stehe seitlich am Tresen der Kasse und der Kassierer sieht überschwänglich hilfsbereit immer wieder zu mir her. „Ich muss nur kurz etwas ausfüllen", sage ich und er nickt und beschäftigt sich damit, die Stifte hinter der Kasse zu sortieren. Ich trage meinen Namen ein, meine Daten. Ein Feld heißt: Grund für Ihre Exmatrikulation. Ich lese mir die Ankreuzmöglichkeiten durch. Endgültiger Abbruch des Studiums. Ich setze ein Häkchen und fühle mich mit jeder vergehenden Minute nervöser, aber auch leichter. Als ich fertig bin, schiebe ich alles in den Umschlag und notiere die Anschrift meiner Uni, die ich von Google ablese. Dann klebe ich meine Briefmarke auf. „Kann ich das bei Ihnen abgeben?"
„Klar!"
„Danke."
Der Mann nimmt mir den Umschlag ab. Ich beobachte, wie er ihn in eine Kiste hinter dem Tresen schiebt, auf der groß VERSAND mit Edding vermerkt ist. Als der Umschlag zwischen unzähligen anderen Umschlägen verschwindet, der Mann sich wieder zu mir umdreht und mich ansieht, lächele ich kurz und nicke. Das war es dann wohl. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Ich sehe zum Fenster. Draußen regnet es jetzt in Strömen. Ich mache einen Schritt in Richtung Tür mit einer Leichtigkeit, die ich seit Monaten nicht gespürt habe. „Auf Wiedersehen!", ruft der Mann mir nach aber ich bin schon aus der Tür. Draußen kommt mir der Regen entgegen. Ich grinse wie ein Idiot in den Himmel und stelle mich mitten auf die Einkaufsstraße. Ein paar Sekunden bleibe ich so, atme einige Male tief durch und schließe die Augen. Dann drehe ich mich herum und biege in die erstbeste Straße ein. Ich brauche einen ruhigen Ort, um zu telefonieren. Wenn ich heute schon ein unmögliches Ding geschafft habe, warum dann nicht noch eins?
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„Louis? Brauchst du Geld?"
Ich verschlucke mich an meinem Kaffee, und huste in meinen Ärmel. Das sind ihre ersten Worte? Ernsthaft? „Nein, eigentlich nicht", sage ich. Ich sitze auf einem Sessel, der bequemer aussieht als er ist, an der Fensterfront eines Cafés. Vor mir auf dem Tisch liegt ein halbes Croissant und eine dampfende Tasse. Die Hand, die nicht das Handy hält, zupft nervös an dem vom Regen feuchten Stoff meiner Jeans. Ich sehe aus dem Fenster und beobachte die dicken Tropfen. „Ich wollte nur reden", sage ich.
Mama, die sonst eigentlich immer mehr als genug zu allem zu sagen hat, ist ausnahmsweise ruhig. Die Sache kommt ihr verdächtig vor und ich kann es ihr nicht übel nehmen. „Aha?", sagt sie resigniert.
Ich räuspere mich. „Ja, weil ... weil ich dich sonst immer so schnell abwimmele, dachte ich, ich melde mich mal. Tut mir leid, dass ich dich nie zurückrufe."
„Ich versuche seit Wochen dich zu erreichen."
„Ich weiß."
Sie seufzt. Dann legt sie los. „Es ist ja schön und gut, dass du viel zu tun hast, aber wenn du vorhast, dich komplett aus unserem Leben zu isolieren, dann würde ich da schon gerne noch ein Wörtchen mitreden. Hast du dir mal vorgestellt, was ist, wenn einem von uns etwas passiert? Herrgott, du würdest es ja nicht mal erfahren, weil du nie an dein Handy gehst!"
Ich schließe die Augen und mir fällt wieder ein, warum ich diese Telefonate immer vermeide. Mama hat es einfach voll drauf, mir in mein Gewissen zu reden. „Ich hoffe es geht euch allen gut", flüstere ich.
„Dein Vater ist ein wenig erkältet, aber ansonsten sind alle fit. Aber jetzt sag mal. Warum rufst du an?"
Ich kaue mir auf der Innenseite meiner Lippen herum. „Ich ...", beginne ich unschlüssig. „Ich wollte dir nur erzählen, wie es mir geht."
Mama schweigt kurz. Ich glaube, dass sie sich das immer gewünscht hat. Von mir zu hören, wie es mir geht. Eine Antwort zu hören auf die tausenden Fragen. Wie war die Schule? Wie war die Uni? Wie geht es dir? Bist du glücklich? „Okay", sagt sie, weniger forsch und ich fühle mich etwas beruhigter. Sie wird mir zuhören und mich danach vielleicht enterben, aber immerhin ist es dann raus.
„Ich habe mich ... in den letzten Monaten ziemlich überfordert gefühlt." Räuspernd rühre ich meinen Kaffee um. „Mit ... dem Studium vor allem."
„Weil du zu viel zu tun hast?"
„Ähm ... nein. Weil ich ... weil ich das gar nicht machen will. Ich hab es schon vor einiger Zeit bemerkt, aber es hat leider etwas gedauert, bis ich die Initiative ergriffen habe. Ich ... hab mich heute aus der Uni ausgeschrieben."
Mama schweigt eine Weile. Dann räuspert sie sich. „Bist du dir sicher?" Sie wartet nicht auf meine Antwort. „Louis, wir dachten, dass du dein Studium sehr ernst nimmst. Und du bist doch jetzt schon fortgeschritten, bist du sicher, dass du es nicht noch zu Ende bringen willst?"
„Ja, sehr sicher", sage ich knapp.
Mama scheint zu überlegen und beginnt, vor sich hin zu murmeln. Die verschwendeten Studiengebühren, die verlorenen Jahre, was wird jetzt?, die ganze Arbeit, die du reingesteckt hast. Ich reibe mir über die Stirn.
„Mama?", unterbreche ich sie. „Ich habe wirklich gut darüber nachgedacht. Mir ging es nicht gut mit dem Studium, und es tut mir leid um die ganzen Kosten, aber es geht nicht anders. Ich werde etwas neues finden und dir davon erzählen, sobald ich Bescheid weiß, okay?"
Sie scheint von meinem Ton überrascht und ich bin es auch. Ich klinge zum ersten Mal seit langem so, als wäre ich mir wirklich sicher. Als würde ich 100% hinter meinen Worten stehen. Und deshalb ist Mama auch nicht sauer. Und fragt auch nicht mehr nach.
„Okay", sagt sie. „Brauchst du Hilfe? Hast du genug Geld?"
Ich muss lachen. „So einfach machst du es mir?"
Sie wirkt entrüstet aber ich höre ein Lächeln in ihrer Stimme. Ich habe beinahe vergessen, wie das klingt. „Na, glaub nicht, dass ich begeistert bin. Deine Schwestern wissen allesamt jetzt schon, was sie später machen wollen und ich weiß nicht, was ich tun kann, um dir die Entscheidung zu erleichtern. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, dass du dich da so schwer tust. Aber meine Güte, es ist nicht das Ende der Welt. Und du bist noch jung. Lass dir bloß nicht zu viel Zeit damit, etwas neues zu finden, klar? Und melde dich öfter. Und such dir endlich eine vernünftige Wohnung!"
„Jaja." Ich muss lachen.
Sie wirkt ebenso erleichtert wie ich und zum ersten Mal wird mir klar, dass sie mich die ganze Zeit nicht bedrängen wollte. Sie wollte einfach nur, dass ich ihr die Dinge erzähle. Wahrscheinlich hat sie immer gemerkt, dass ich nicht glücklich war, dass ich vieles nicht mit ihr teile und sich einfach nur Sorgen gemacht. Sie beginnt, von meinen Schwestern zu reden und ich lehne mich im Sessel zurück. Ich werde ihr nicht alles erzählen. Müttern kann man nicht alles erzählen. Es würde ihr das Herz brechen, zu erfahren, wie sehr ich sie belogen habe und das will ich ihr und auch mir nicht zumuten. Aber ich will sie an meinem Leben teilhaben lassen, soweit es eben geht.
Ich sitze dort eine ganze Weile und beobachte den Regen. Wir telefonieren fast eine Stunde. Als wir auflegen, sacke ich in meinem Sessel zusammen und reibe mir die Augen. Ich fühle mich so glücklich und erschöpft wie lange nicht. So vieles hätte ich mir sparen können. Es ist verdammt nochmal nicht so schwer wie man denkt. Mein Körper bebt weil ich lachen muss und gleichzeitig ist mir schon wieder zu Heulen zumute. Ich vermisse Harry. Ich will jetzt alles richtig machen. Aber für heute habe ich genug gerade gebogen. Ich bezahle meinen Kaffee und mache mich auf den Weg zurück Richtung Hostel in das leere Bett, schweren Herzens, aber mit einer deutlich kleineren Last auf den Schultern.
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you are a home that I want to grow up in
FanficLouis' Leben stellt sich auf den Kopf, als unerwartet ein fremder Junge in seinem Zimmer einzieht und sich ab jetzt ein Bett mit ihm teilen soll. Dass Louis Jungs eigentlich mag, aber niemals etwas mit ihnen anfangen würde, erleichtert die Sache nic...