Mit geschlossenen Augen sitze ich auf der Bank und lausche der sanften Gitarrenmusik. Mein Atem geht langsam, die Beine habe ich an die Brust gepresst und die Arme um die Knie gelegt. Die Stimme, die an mein Ohr dringt, ist rau und tief. Die Melodie einprägsam genug, dass ich leise mitsummen kann, obwohl ich das Lied nicht kenne. Der Lärmpegel der anderen Menschen, die Rufe, das Lachen, das unwichtige Gerede, ist nicht mehr als ein leises Hintergrundrauschen.
Obwohl es jetzt Abend ist, friere ich noch immer nicht. Eine ältere Frau, die neben mir auf der Bank eine kurze Pause eingelegt hat, beginnt zu klatschen, als das Lied vorbei ist. Ihre Augen leuchten, ihr runzliges Gesicht zeigt ein Lächeln und ihre volle Aufmerksamkeit gilt dem Jungen, der auf der anderen Seite der Einkaufsstraße an der Hauswand steht und sich schüchtern für das Trinkgeld bedankt. Eine Traube an Menschen hat sich um ihn versammelt, junge Leute, alte Leute und alles dazwischen. Ich weiß nicht, wohin mit diesem seltsamen, stolzen Gefühl, das sich in mir nicht so richtig platzieren lässt. Ich warte, bis das Klatschen abnimmt und ein neues Lied beginnt, erst dann kann ich mich wieder voll auf ihn konzentrieren. Ich lege meinen Kopf auf die Knie und lausche. Von mir aus könnte er ewig so weiterspielen.
Es dämmert schon, als die letzten Töne erklingen, das Klatschen langsam abnimmt und sich die Menschenmenge nach und nach auflöst. Jetzt, wo er nicht mehr so belagert wird, kann ich ihn besser erkennen. Er hockt auf dem Kopfsteinpflaster und packt gerade seine Gitarre ein, die eigentlich mir gehört. Ich betrachte ihn eine Weile und verbinde in meinem Kopf die Stimme, der ich eben so lange gelauscht habe mit dem Jungen, der dort kniet. Die letzten Stunden waren wie ein Dämmerzustand. Ich habe mit niemandem geredet, und meine Gedanken waren verschwommen, kaum greifbar. Aber jetzt ist es an der Zeit, wieder aufzutauchen.
Harry steht auf und hält den Gitarrenkoffer in seiner Hand. Ein paar Menschen stehen noch da und sehen ihn an, manche sagen etwas zu ihm und er antwortet mit einem Lächeln. Dann nickt er ihnen zu und macht sich schließlich auf den Weg. Ich hole tief Luft, nehme meinen Rucksack und stehe auf, ducke mich an den Menschen vorbei und folge ihm die Einkaufsstraße entlang. Nach einigen Schritten habe ich ihn eingeholt. Ich strecke meine Hand aus und erlaube mir nicht mal zu zögern. Ich berühre seine Schulter. Er bleibt stehen. Dreht sich zu mir um. Und sieht mich überrascht an.
„Louis!"
Ich grinse. „Hey."
„Was machst du hier?"
„Dir beim Spielen zusehen."
„Achja?" Er scheint verwundert, und ich wäre es an seiner Stelle auch. Er spielt seit Monaten in der Stadt und ich habe ihn nie besucht. Warum sollte ich jetzt damit anfangen?
Bevor ich es mir anders überlege, sage ich schnell die Dinge, die ich am dringendsten loswerden muss: „Du warst toll. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin versetzt habe. Ich habe wahnsinnigen Hunger."
Er lacht. „Was können wir dagegen tun?"
„Tja ... Also da wir uns jetzt hier so zufällig getroffen haben, könnten wir vielleicht ... an einen ruhigeren Ort gehen."
„Einen ruhigeren Ort?"
„Ich habe Bier im Rucksack, falls das deine Entscheidung leichter macht."
Er schnaubt. „Na dann."
Wir setzen uns in Bewegung und die Tatsache, dass Harry sich vollkommen normal benimmt, lässt mich daran zweifeln, dass Zayn ihm etwas gesagt hat. Entweder das, oder Harry ist kein Stück sauer auf mich. Zumindest lässt er sich nichts anmerken. Er fragt sich wahrscheinlich, warum ich so urplötzlich hier auftauche, aber er kann genauso gut denken, dass ich einfach nur ein schlechtes Gewissen habe, weil ich ihn vorhin versetzt habe.
Wir bleiben bei der erstbesten Dönerbude stehen, weil für mehr mein Geld nicht reicht und ich darauf bestehe, ihn einzuladen. Während wir darauf warten, dass unser Essen zubereitet wird, stehen wir an der Wand gelehnt in der kleinen Imbiss-Bude und sehen den einzelnen Gestalten beim Essen zu. „Ich kann auch selbst bezahlen, Lou", flüstert er. „Fühl mal." Er nimmt meine Hand und führt sie in seine Jackentasche. Im ersten Moment bin ich verwirrt, dann ertasten meine Finger unzählige Münzen, die sich dort häufen. Ich sehe ihn ungläubig an. „Du bist ja richtig reich, was?"
Er grinst. „Das meiste ist nur Kleingeld."
Er zieht meine Hand wieder aus der Tasche und für ein paar Sekunden stehen wir dort mit unseren Händen verschränkt. Ich sehe durch den Laden und habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Ohne es wirklich zu wollen, ziehe ich meine Hand aus Harrys lockerem Griff und räuspere mich. „Ich will dich trotzdem einladen. Schließlich habe ich dich vorhin sitzen lassen."
„Genau genommen hast du mich liegen lassen."
Ich sehe Harry an und weiß, dass er mir verziehen hat und sich nur über mich lustig macht. „Sag mal ... Hast du vorhin mit Zayn geredet?"
„Mit Zayn? Nein. Ich habe ihn gar nicht mehr gesehen."
„Also ... hast du nicht mehr lange Zuhause gewartet? Das ist gut, ich wollte dir Bescheid geben, aber –"
„Ich hab bis mittags gewartet", unterbricht er mich.
Ich starre ihn an. „Ernsthaft? Fuck." Ich stöhne und reibe mir über die Stirn. „Tut mir leid. Ich bin wirklich ein miserabler Mitbewohner, was?"
„Das stimmt." Sein Grinsen wird breiter. „Gute Mitbewohner lassen sich nicht gegenseitig hängen, wenn einer nackt im Bett auf den anderen wartet."
Seine grünen Augen sehen mich direkt an und ich spüre ein Ziehen in der unteren Magengegend. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu merken, dass er mir gerade kein schlechtes Gewissen machen will, sondern mit mir flirtet. Meine Wangen beginnen zu brennen. Ich räuspere mich. „Also ... ist Zayn nicht nachhause gekommen?", wechsele ich schnell das Thema.
„Nein."
Ich will gerade antworten, als uns der Mann hinter dem Tresen ruft. Hastig hole ich mein Geld heraus und bezahle das Essen. Harry klemmt sich die warme Tüte mit dem Essen unter den Arm, in der anderen Hand hält er noch immer den Gitarrenkoffer, und gemeinsam gehen wir wieder raus. Der Abend ist noch immer relativ warm für die Jahreszeit.
„Wohin?", fragt er.
„An einen ruhigen Ort", erinnere ich ihn.
Er schnaubt. „Achja."
Wir erreichen eine Gegend, die weniger touristenüberfüllt ist. Die Themse erstreckt sich einige Meter neben uns und ich steuere kurz entschlossen darauf zu. Auf der Wiese neben dem Fluss sitzen vereinzelnd Menschen, reden und trinken. Es ist nicht unendlich leise, aber leise genug, um sich ungestört zu unterhalten. Wir bleiben direkt am Fluss neben einem Baum stehen. Harry legt den Gitarrenkoffer ins Gras und setzt sich drauf, dann klopft er einladend auf den Platz neben sich. Ich setze mich neben ihn. Wir blicken auf das Wasser.
Das Essen ist noch warm und wir schweigen, während wir beide unseren Hunger stillen und dem leisen Plätschern lauschen, sowie den gedämpften Gesprächen hinter uns. Meine Gedanken wandern immer wieder zu Zayn. Warum ist er nicht nachhause gegangen? Wo war er stattdessen? Er hat niemanden außer Harry, bei dem er hätte Frust ablassen können. Aber er ist nicht nachhause gegangen, hat Harry nichts gesagt und auch nicht all meine Sachen vor die Tür gestellt. Ich weiß nicht, ob ich mir Sorgen machen soll. Ich kann einfach nicht einschätzen, was Zayn macht, wenn er wirklich wütend ist.
„Stimmt etwas nicht mit Zayn?", unterbricht Harry nach einigen Minuten die Stille, als wir aufgegessen haben.
„Ich ... weiß nicht genau." Ich fische mein Handy aus meinem Rucksack, aber natürlich hat Zayn mir nicht geschrieben. Ich atme tief ein und zwinge mich, mir keine Sorgen zu machen. Es wird ihm schon gut gehen. Ich stecke mein Handy wieder ein und sehe in meinen Rucksack, der mit Flaschen gefüllt ist. „Oh", sage ich überrascht. „Da verspreche ich dir Bier und lasse dich dann so lange darauf wartet."
Harry öffnet gespielt entsetzt den Mund. „Stimmt. Warum verschwende ich hier überhaupt noch meine Zeit mit dir?"
Ich muss lachen und ziehe ihn am Arm dichter. „Bleib bloß hier. Du bekommst dein Bier." Ich lasse seine Hand nicht los, auch nicht, als ich umständlich die Flaschen mit einem Feuerzeug öffne. Hier im Dunkeln, mit dem Rücken zur Stadt, werden wir nicht so beobachtet wie eben in der Dönerbude.
„Worauf stoßen wir an?", fragt er.
„Auf deine Gesangskarriere", erwidere ich sofort, und auch wenn Harry das ziemlich albern findet, stößt er mit mir an. Während wir die ersten Flaschen leeren, beginne ich, ihm lang und breit zu erklären, warum er unbedingt eine Karriere als Musiker starten sollte. „Du bist definitiv gut genug. Ich meine das ganz ehrlich. Da waren auch eigene Lieder dabei, oder? Dieses eine, etwas schnellere –"
„Sag mal, wie lange hast du mir eigentlich zugehört?"
Ich blinzele verwirrt. „So ... zwei Stunden?"
Er starrt mich an. „Zwei Stunden?"
„Vielleicht auch länger. Ich hab die Zeit vergessen."
„Warum hab ich dich nicht gesehen?"
Ich grinse. „Vielleicht weil du von einer Horde Fans umkreist warst?"
Er verdreht die Augen und lacht. „Du hättest mich ansprechen können, dann hätte ich früher Schluss gemacht ..."
„Ich habe mich nicht gelangweilt, falls du das meinst."
Er schüttelt ungläubig mit dem Kopf. Eine Weile schweigen wir. Ich beobachte seine Mimik. Er sieht auf unsere Hände, die verschränkt auf meinem Knie liegen. „Also ... ich kann mir das nicht so richtig vorstellen", sagt er schließlich.
„Was?"
„Dass du ... mich einfach so gefunden hast, obwohl ich in ganz London hätte spielen können, und dann zwei Stunden gewartet hast ..." Er sieht hoch und unsere Blicke treffen sich. „Was hast du denn davor gemacht?"
„Davor habe ich dich ziemlich lang gesucht", gebe ich zu.
„Und davor?"
„Davor ... bin ich ziellos durch die Stadt gelaufen."
„Und davor?"
Ich zögere. „Davor war ich mit Zayn an der Uni."
Es ist jetzt ruhiger um uns herum. Eine Gruppe hinter uns ist weitergezogen und mit ihnen die Gespräche. Ich weiß, dass Harry weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich räuspere mich. „Willst du noch ein Bier?"
Er nickt und ich öffne wieder die Flaschen, diesmal lasse ich seine Hand dafür los. Wir trinken eine Weile schweigend. Meine Finger sind warm, dort wo sie eben noch seine berührt haben, und ich wünschte, ich könnte alles rückgängig machen, was ich je falsch gemacht hab. Die Stille zieht sich hin. Das Wasser plätschert. „Was ist los?", fragt Harry nach geschlagenen fünf Minuten.
Ich sehe hoch zu ihm. Er rutscht ein Stück näher und legt mir einen Arm um den Rücken. Sein Körper ist angenehm warm neben mir. Hier im Dunkeln, versteckt unter einem Baum, verschwende ich keinen Gedanken daran, dass uns jemand sehen könnte. Harry ist so nah, dass ich seinen Atem höre, und als er seine Stirn gegen mein Gesicht lehnt und mich an sich drückt, vielleicht um mich zu ermutigen, oder einfach, um sich zu wärmen, recke ich meinen Kopf und küsse ihn. Unsere Lippen treffen sich, kalt und trocken. Er schmeckt nach Bier und ich auch und die Versuchung, mich da jetzt reinzusteigern, ist so groß, dass ich mich mit aller Kraft davon abhalten muss. Ich löse mich von ihm. Harry sieht mich an, sein Blick huscht über mein Gesicht.
Ich hole tief Luft und rücke ab. Ich räuspere mich. Dann schwinge ich ein Bein über den Gitarrenkoffer, sodass ich Harry zugewandt sitze und sehe ihm in die Augen. „Ich muss dir was sagen."
„Okay", sagt Harry erstaunlich gelassen. Ich weiß, dass ihn das ganze nicht so schockieren wird wie Zayn. Es ist nicht nur die Tatsache, dass er weiß, dass ich manchmal lüge, sondern auch, dass er nicht so unmittelbar in meinen Lügen verstrickt war wie Zayn. Ich trinke mein Bier mit ein paar schnellen Schlücken leer und reiße mich zusammen.
„Ich war in den letzten Monaten nicht ganz ehrlich und das möchte ich ab heute ändern."
Harry nickt. Er sieht ernst aus, aber nicht überrascht. „Das ... klingt doch gut", sagt er.
Ich merke, wie ich sicherer werde. Die Angst ist nicht so groß wie vorhin. Ich habe das schon einmal heute hinter mich gebracht, und das werde ich auch ein zweites Mal hinkriegen. Ich trommele kurz mit den Fingern auf dem Gitarrenkoffer herum, bevor ich mich überwinde, und diesmal mache ich es schnell und direkt und so, dass es nicht missverstanden werden kann.
„Es gibt zwei Dinge, bei denen ich gelogen habe. Das erste ist, dass ich nicht mehr in die Uni gehe, sondern es Zayn nur vorgespielt habe, damit er keine Fragen stellt. Natürlich lerne ich auch nicht, aber das ... das weißt du ja wahrscheinlich. Ich weiß nicht, ob ich dich was das angeht direkt angelogen habe, aber trotzdem habe ich es dir verschwiegen und ... dafür möchte ich mich entschuldigen."
Ich sehe kurz hoch, aber Harrys Gesicht zeigt immer noch keine Spur von Überraschung, also rede ich weiter.
„Die zweite Sache ist etwas, bei dem ich dir direkt ins Gesicht gelogen habe und das – das war, als wir uns vorgenommen haben, etwas von unserer Liste zu erledigen und ich gesagt habe, ich hätte mit meiner Mutter gesprochen ... was nicht stimmt. Ich rede seit Monaten nicht mehr mit meinen Eltern."
Diesmal rührt sich etwas in seinem Gesicht. Seine Braue zuckt kurz und auch die Gelassenheit um seine Lippen weicht für einen Moment. Ich sehe ganz deutlich, dass er zumindest das zweite nicht geahnt hat. Ich schlage die Hände zusammen und sehe ihm in die Augen.
„Es tut mir leid", sage ich. Die Entschuldigung fühlt sich anders an als vorhin bei Zayn, weil ich diesmal nicht das Gefühl habe, dass mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird. „Das war unglaublich dumm von mir. Ich wollte dir in dem Moment kein Schaden zufügen, sondern mich selbst schützen. Ich wollte nicht, dass du enttäuscht bist."
Er scheint eine Weile nachzudenken. Vielleicht verbindet er gerade einige Puzzleteile, zum Beispiel meine seltsame Reaktion an dem Abend, an dem ich es ihm unbedingt erzählen wollte, und stattdessen über ihn hergefallen bin.
Ich muss nicht ewig auf eine Antwort warten. Er spannt mich nicht so auf die Folter wie Zayn. Sein Mund ist eine gerade Linie, und ich starre darauf, als er spricht. „Okay", sagt er. Er kratzt sich am Hals. „Das ... das ist schade."
Schade. Ich starre ihn an. Meine Hände rutschen unruhig über meine Knie. „Du ... wirkst nicht so überrascht", sage ich vorsichtig.
Harry fährt sich durch die Haare. „Doch ... doch, ich bin überrascht. Bloß ... ich wusste, dass irgendwas faul ist und ich bin froh, dass es jetzt draußen ist. Ich ..." Seine Braue zuckt und ich habe das Gefühl, dass er sich nicht sicher ist, ob er wütend sein soll. „Das mit deiner Mutter, das habe ich nicht geahnt. Also dass du mich an dem Abend angelogen hast."
„Es ... ist mir verflucht schwer gefallen, wie du vielleicht gemerkt hast. Auch wenn das nichts entschuldigt."
Harry verzieht das Gesicht. „Es entschuldigt schon etwas, finde ich. Es ist gut, wenn dir das Lügen schwerfällt."
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich werfe einen Blick auf das dunkle Wasser neben uns und merke, dass meine Hände leicht zittern. Es ist kälter geworden.
„Und es ist gut, dass du jetzt die Wahrheit sagst."
Ich atme tief ein. Mein Blick huscht zurück zu Harry. Harry, der selbst jetzt Gutes in der Situation sucht. Ich schüttele mit dem Kopf. „Das musst du mir nicht anrechnen, es passiert nicht wirklich freiwillig. Vorhin an der Uni hat Zayn mich sozusagen ... erwischt. Ich weiß nicht, wie lange ich euch das ganze noch verschwiegen hätte. Ich ... weiß nicht, ob ich es jemals mit eigenem Antrieb rausgebracht hätte."
Harry schweigt. Ich komme mir unglaublich blöd vor. „Was hat Zayn gesagt?", fragt er nach einer Weile.
Ich raufe mir die Haare und lache humorlos. „Er hasst mich. Er ist stinksauer. Und ich kann's ihm nicht verübeln, ich habe ihn so oft direkt angelogen. Ich ... weiß wirklich nicht, was mich geritten hat."
„Du scheinst uns einfach nicht wirklich zu vertrauen", sagt Harry und ich sehe auf.
„Was?"
Er sieht mich ruhig an. „Du hattest Angst vor unserer Reaktion, oder? Und du hattest Angst, deine Zweifel und Ängste mit uns zu teilen. Sonst hätte es keinen Grund zum Lügen gegeben."
„Das hat nichts mit euch zu tun, ich hätte niemandem die Wahrheit gesagt –"
„Wenn du uns die Wahrheit zugetraut hättest, dann hättest du nicht lügen müssen. Zumindest fühlt es sich so an."
Ich schüttele mit dem Kopf, weiß aber nichts darauf zu sagen. Ich versuche in mich zu horchen. Stimmt das? Vertraue ich ihnen zu wenig? Dachte ich wirklich, dass sie es nicht verstehen würden, wenn ich von Anfang an ehrlich gewesen wäre? Ich ziehe die Brauen zusammen. „Ich glaube, der Grund warum ich gelogen habe, ist nicht, dass ihr etwas nicht wissen solltet, sondern dass ich nicht mit den Konsequenzen leben wollte. Wenn ich euch gesagt hätte, dass ich nicht zur Uni gehe, hättet ihr versucht, mich dazu zu bringen, zur Uni zu gehen. Und genau das wollte ich vermeiden."
Harry lacht und schüttelt mit dem Kopf. „Ich hätte nicht versucht, dich dazu zu bringen, zur Uni zu gehen, Louis. Ich hätte dir geraten, dein Studium einfach abzubrechen. Es ist doch glasklar, dass du das nicht machen willst. Ich hab dich noch nie darüber reden hören, ich weiß nicht mal wirklich, was du überhaupt studierst. Warum verschwendest du so viele Monate und so viel Energie damit, allen Leuten vorzumachen, zu studieren, wenn du einfach komplett damit aufhören könntest?"
Ich starre ihn an. Ein drückendes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus und ich bin für ein paar Sekunden überwältigt davon, wie einfach alles aus seinem Mund klingt. Ich fahre mir übers Gesicht. Es ist wirklich so einfach, oder? „Aber ...", setze ich an. „Aber ich hätte doch irgendwas anderes stattdessen machen müssen. Und ihr hättet versucht, mich dazu zu bringen."
Er zieht die Brauen zusammen. „Hör auf, anzunehmen, was wir tun würden. Genau das ist der Punkt, Louis. Vertrau uns, dass wir dich nicht zu irgendwas zwingen, was du nicht willst. Man kann über alles reden. Und du bist derjenige, der wissen muss, was er tut. Aber glaubst du nicht, dass du dich viel besser fühlen würdest, wenn du Menschen in deiner Umgebung hättest, die dich unterstützen, anstatt Menschen, denen du jeden Tag etwas vormachen musst?"
Ich schlucke schwer. Der ganze Schwindel hat unglaublich viel Anstrengung und Mühe gekostet und auch wenn jetzt alle sauer mich sind, ist diese Last in den letzten Stunden von mir abgefallen. Ich atme tief ein und weiß nichts zu sagen. Harry hat recht. Es ist genauso wie er sagt. Meine Aktion hat nichts bewirkt, außer mir alles noch schwerer zu machen. Ich brauche eine halbe Minute, dann lache ich und raufe mir die Haare. „Gott, Harry. Ich bin ein verfluchter Idiot."
Harry lächelt und als er seine Hand hebt, und mir kurz über den Kopf fährt, zieht sich mein Herz zusammen. Die Tatsache, dass er mich immer noch anlächelt, mich immer noch berührt, obwohl er jetzt über den ganzen Scheiß Bescheid weiß, kommt mir beinahe unrealistisch vor. So viel habe ich nicht verdient.
„Sag mal ... willst du mich gar nicht anschreien oder mir eine reinhauen?"
Harry lacht und schüttelt mit dem Kopf. „Eigentlich nicht, nein. Ich glaube, dass das ganze vor allem dir zugesetzt hat. Nicht Zayn und nicht mir."
Ich sehe ihn an. Ich will nicht, dass er Mitleid mit mir hat, und seine Nettigkeit schnürt mir die Luft ab. Ich atme zittrig aus. „Danke", sage ich. „Man, ich bin so dumm."
„Ja, bist du. Aber vor allem, weil du es dir selbst so verflucht schwer machst." Er grinst jetzt auch und ich kann nicht glauben, dass er mich wirklich angrinst. Eine Flut an Gefühlen strömt durch meinen Bauch und verknotet sich, und ich kann nicht anders, als näher zu rutschen, und Harry an mich zu ziehen. Ich lege beide Arme um ihn und drücke ihn an mich, lege mein Kinn auf seine Schulter, schließe die Augen und atme tief ein. Er erwidert die Umarmung.
„Danke", sage ich nochmal. Seine Hände streichen sachte über meinen Rücken. Er hält mich ganz fest und ich fühle mich allein dadurch unheimlich getröstet. Ich drücke mein Gesicht seitlich in seinen Hals. „Ich hatte Angst, dich auch noch zu verlieren", nuschele ich gegen seine Haut und weil er es nicht versteht, wiederhole ich es.
„Auch?", fragt er. „Du meinst Zayn?"
Ich nicke gegen seinen Hals. Er löst sich sachte von mir. Sein Bein drückt gegen meins und er sieht nach unten. Er überlegt eine Weile und ich warte. Es ist offensichtlich, dass er etwas sagen will.
„Ich glaube, ich verstehe dich ganz gut, weil ich in einer ähnlichen Situation mit Zayn war", sagt er schließlich. Ich sehe ihn verwundert an. „Als ich aus London abgehauen bin und ihm nichts gesagt hab", fügt er hinzu.
„Warum war das eine ähnliche Situation?"
„Weil ich genau wie du Angst hatte, ihm die Wahrheit zu sagen, obwohl er mein bester Freund war. Ich wusste, dass er es verstehen würde, aber trotzdem ... konnte ich einfach nicht. Und auch wenn Zayn das nicht zugibt, glaube ich, dass es ihn verletzt hat, dass ich ihm nicht vertraut habe. Und jetzt das mit dir ... Zayn muss sich so langsam fragen, warum seine Freunde ihn nicht als vertrauenswürdig genug einschätzen, um ihm die Wahrheit zu sagen. Vor allem weil es Situationen sind, in denen er uns eigentlich helfen will. Ich dachte damals, ich wäre komplett allein, ich dachte, niemand würde etwas mit mir zu tun haben wollen, sobald ich mich oute. Obwohl mein allerbester Freund doch direkt da war und mich verstanden hätte. Zayn hätte mich damals vor so viel Übel und Einsamkeit bewahren können, weißt du? Und stattdessen haue ich ab und tauche drei Jahre später einfach so wieder auf. Und diesmal ist es genauso. Anstatt dir helfen zu können, muss Zayn feststellen, dass du direkt vor seinen Augen abgerutscht bist und er nichts machen konnte, weil du ihn nicht gelassen hast. Ich glaube, dass ihn das ganze deshalb so trifft."
Ich schweige. Langsam lasse ich die Worte sacken. Ich habe nie darüber nachgedacht, aber Harry hat recht. Zayn fühlt sich nicht nur belogen, er muss sich auch verdammt machtlos fühlen, weil ich ihm nicht erlaubt habe, mir zu helfen. Weil ich es ihm einfach verschwiegen habe. Und es gibt immer noch Dinge, die wir ihm verschweigen, ohne wirklichen Grund. Es ist so einfach, ihn anzulügen, und das sollte es verdammt nochmal nicht sein. „Fuck", murmele ich. „Ich hab echt Scheiße gebaut."
„Du wolltest niemandem weh tun."
„Das ändert nichts. Ich muss mich nochmal entschuldigen. Ich weiß nur nicht, wie."
„Wahrscheinlich braucht er erstmal Zeit."
Ich stimme Harry zu. Wir fallen in ein unruhiges Schweigen, in dem wir beide unseren Gedanken nachgehen. Die Themse neben uns ist lauter als vorhin, es ist windiger und so langsam wird es wirklich frisch. Ich werfe einen Blick in meinen Rucksack. Ein Bier ist noch da. Für später. Später, wenn ich wieder allein bin und keine Ahnung habe, wo ich hingehen soll.
Als könnte Harry meine Gedanken lesen, fragt er nach ein paar Minuten: „Kommst du gleich mit nachhause?"
Ich schüttele schnell mit dem Kopf. „Lieber nicht. Das wäre nicht fair gegenüber Zayn."
„Ich glaube nicht, dass er dich rausschmeißen würde."
„Nein, aber genau deshalb ist es nicht fair. Er sollte mich nicht bei sich haben müssen, wenn er sauer ist."
Harry sieht mich eine Zeit lang an. „Wo willst du dann hin?"
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht zu meinen Eltern?" Ich sage die Worte und merke in dem Moment, dass sie gelogen sind, bloß um ihn zu beruhigen. „Nein", sage ich schnell und schüttele den Kopf. „Fuck. Sorry. Das war schon wieder gelogen."
Harry sieht sehr ernst aus. „Du kannst nicht die ganze Nacht durch die Straße laufen, Lou."
„Warum nicht? Hast du das nicht früher auch gemacht, nachdem du abgehauen bist?"
Er schnaubt. „Ja, aber ich weiß, wie ich auf mich aufpassen kann."
Ich hebe gespielt beleidigt die Brauen. Harry fährt mit den Händen über seine Jacke und lässt sie dann in seinen Taschen verschwinden. Als ich die Münzen klimpern höre, schüttele ich mit dem Kopf. „Nein, Harry –"
„Zahl es mir zurück. Es reicht auf jeden Fall für ein paar Nächte in einem kleinen Hostel."
„Das kann ich nicht annehmen. Harry. Hör auf –"
Er hört mir gar nicht zu, sondern beginnt, sein ganzes Geld in die leere Tüte zu kippen, die wir vorhin von der Dönerbude bekommen haben. Zwischen den Münzen sehe ich auch einige Scheine. „Ich verdiene mehr Geld als du denkst. Mehr als ich ausgeben kann, glaub mir."
„Mein schlechtes Gewissen ist schon groß genug."
„Jetzt stell dich nicht so an."
„Harry." Ich will das Geld nicht annehmen, aber er greift kurzerhand nach meinem Rucksack und steckt die Tüte einfach rein. Dann nimmt er sich das letzte Bier, das dort noch drin liegt und öffnet es geschickt mit der Kante des Gitarrenkoffers. Er grinst mich an und prostet mir zu. Dann trinkt er. Ich kann nur fassungslos zusehen. Dieser Junge ist unglaublich und ich habe ihn genauso wenig verdient wie ich Zayn verdient habe. Ich seufze ergebend. Plötzlich steht Harry auf. Ich sehe hoch. „Wo willst du hin?"
„Wir suchen dir jetzt ein Hostel und dann gehe ich Nachhause. Mir wird langsam wirklich kalt."
Ich bin kurz überfordert von dem rasanten Stimmungswechsel, aber stehe auch auf. Wir packen unsere Sachen zusammen. Harry steuert eine Richtung an und ich merke, dass er jetzt in seinem Element ist. Wenn es darum geht, in einer Großstadt billig irgendwo zu übernachten, ist er der Profi. Ich folge ihm durch die dunklen Straßen und wir teilen uns das letzte Bier. Er scheint sich sehr sicher zu sein, wo er hinwill. Wir gehen nicht lange. Dicht neben einer S-Bahn-Station erreichen wir schließlich ein Gebäude, in das Harry ohne zu zögern eintritt. Ich habe kaum Zeit, mich umzusehen, folge ihm durch einen schmalen Gang, und als ich die Anmeldung erreiche, ist er schon in ein Gespräch mit einer Frau verwickelt. Der Raum ist dunkel, die Wände brüchig, und die Sofas in der Ecke heruntergekommen. Es geht sehr schnell. Nach kurzer Zeit dreht er sich wieder zu mir um und drückt mir einen Schlüssel in die Hand. Dann führt er mich durch eine Tür und als wir ein kleines, halbdunkles Treppenhaus erreichen, bleibt er endlich stehen.
„Dein Zimmer ist die Treppe hoch und dann links. Du zahlst zehn Pfund die Nacht."
„Kennst du die Frau?"
Er nickt. „Ich hab hier mal gearbeitet."
„Oh", sage ich leicht überfordert. „Cool."
„Wann willst du zurückkommen?"
„Ich weiß nicht. Wenn Zayn nicht mehr so sauer ist. Und dann versuche ich, mich nochmal zu entschuldigen."
Er seufzt leise. Wir lehnen an der Wand und sehen uns an und als keiner mehr was sagt, wird mir klar, dass wir uns jetzt verabschieden müssen. Ich gehe auf ihn zu und schließe ihn in meine Arme und bin unglaublich überfordert von seiner Nettigkeit und unglaublich froh, ihn zu haben. „Danke Harry."
„Ich mach das gern. Ich helfe dir gern. Und Zayn auch. In Zukunft regeln wir das alles zusammen, okay?"
Ich nicke und würde wahrscheinlich anfangen zu heulen, wenn das nicht so peinlich wäre. Stattdessen grabe ich meine Nase in seine Haare und atme ihn ein. Er umarmt mich zurück. Als wir uns nach einer halben Minute voneinander lösen, folge ich einem Instinkt, lehne mich zu ihm und drücke ihm ein, zwei Küsse auf den Mund. Er sieht mich an und im Dunkeln erkenne ich das Lächeln in seinem Gesicht. Ich lasse das alles kurz auf mich wirken, sein Lächeln und seine Augen und seine Locken und will ihn nicht gehen lassen. „Es wird komisch sein, heute nicht neben dir einzuschlafen", murmele ich.
„Mhh ...", macht er zustimmend. Seine Hand rutscht über meine Wange, seitlich zu meinem Hals. Er zieht mich an sich und diesmal ist er es, der mich küsst. Wir stehen dort eine halbe Ewigkeit. Mein Körper wird wärmer, die Anspannung fällt von mir. Heute ist so viel passiert, aber in diesem Moment fühlt es sich unendlich weit weg an. Und obwohl alles vorbei ist, habe ich immer noch Harry bei mir. Ich lehne mich an ihn, tröste mich mit seiner Anwesenheit und spüre die Erschöpfung des Tages in mir hochkommen. In mir kommen die Dinge langsam zur Ruhe. Wir lösen uns sanft voneinander und ich lehne mich an die Wand, sehe ihn müde an. Er sieht zurück. „Weißt du was?", bricht er flüsternd die Stille.
„Hm?"
„Vorhin, als du meintest, dass du mir was erzählen musst ..." Ich sehe auf seine Lippen, während er spricht. „Da dachte ich erst, du willst mir sagen, dass du dich in mich verliebt hast, oder sowas."
Ich starre ihn an. Der Ausdruck schwindet aus meinem Gesicht und genauso die Müdigkeit aus meinem Körper. Stattdessen beginnen meine Wangen zu glühen. Harry grinst leicht und ich glaube, dass das ein Witz ist. Es ist ein Witz. Oder? Plötzlich lacht er. Ich stimme zögernd in sein Lachen ein. „Nein", sage ich mit einem Schnauben und habe kaum Zeit, die Situation zu begreifen, als Harry sich bückt, und den Gitarrenkoffer vom Boden aufhebt.
„Machs gut", sagt er mit einem Lächeln. Ich verdränge das, was in der letzten halben Minute passiert ist und greife hastig in meine Hosentasche.
„Warte. Hier." Ich reiche ihm meinen Wohnungsschlüssel. Er sieht mich fragend an. „Ich brauche ihn momentan nicht", erkläre ich. „Und du hast ja immer noch keinen, obwohl du ein viel größeres Recht darauf hast."
Er verdreht die Augen. „Sag sowas nicht." Trotzdem nimmt er den Schlüssel an. Eine halbe Sekunde überlege ich, ob er ihn vielleicht sogar brauchen wird, weil Zayn immer noch nicht Zuhause ist. Aber das ist Quatsch. Wo sollte Zayn sonst sein?
Wir schweigen uns noch einige Sekunden lang an. Ich räuspere mich. Am liebsten würde ich Harry nochmal umarmen, aber ich lasse es. „Also ... bis bald."
„Lass dir nicht zu viel Zeit."
Ich nicke. Zu meiner Erleichterung zieht er mich nochmal an sich, drückt noch einmal seine warmen Lippen auf meine, bevor er sich mit einem Winken verabschiedet. Er öffnet die Tür zum Hauptraum. „Die Treppe hoch und die erste Tür links", erinnert er mich.
„Danke Harry."
Er nickt und lächelt. Dann geht er. Eine ganze Weile bleibe ich stehen. Ich sehe auf den Zimmerschlüssel in meiner Hand. Die Müdigkeit kehrt zurück und diesmal so heftig, dass ich spüre, wie sich mein Körper verändert. Meine Augen werden schwer, meine Schultern beginnen weh zu tun und ich habe das Gefühl, zehn Jahre schlafen zu müssen. Ich mache mich auf in den ersten Stock, schließe die Tür auf und lasse mich direkt auf das Bett fallen. Ich ziehe die Decke über mich, schließe die Augen und spüre noch, wie mich die Erschöpfung auf die Matratze drückt. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf.
DU LIEST GERADE
you are a home that I want to grow up in
FanfictionLouis' Leben stellt sich auf den Kopf, als unerwartet ein fremder Junge in seinem Zimmer einzieht und sich ab jetzt ein Bett mit ihm teilen soll. Dass Louis Jungs eigentlich mag, aber niemals etwas mit ihnen anfangen würde, erleichtert die Sache nic...