Kapitel 22

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Es waren mehrere Tage vergangen, ich hatte mit der Zeit aufgehört zu zählen. Ich hatte viel geschlafen, hatte gehofft, dass die Schmerzen sich verbessern würden, doch noch immer tat meine Seite unfassbar weh bei jeder Bewegung. Körperliche Arbeit konnte ich vergessen, es verlangte aber auch niemand von mir. Ich hatte die Stunden der Einsamkeit und Stille genossen, hatte viel nachgedacht über die vergangene Zeit auf der Lichtung und viel geschlafen.
Zart kam mich ein paar mal besuchen, und ich war dankbar für seine Gesellschaft. Mit ihm war es unbeschwerter, er erzählte mir viel von den anderen Lichtern. Newt hatte ich die gesamte Zeit nur noch einmal gesehen, als er am Abend, vollkommen erschöpft und müde, zu mir in das Krankenzimmer kam, um mich zu fragen, wie es mir ging. Ich hatte Verständnis für seine Abwesenheit, was könnte ich anderes erwarten. Seine Pflichten als zweiter Anführer wurden immer mehr, noch zusätzlich zu den Stunden, die er im Labyrinth verbrachte. Soweit ich wusste, hatte er sich am sein Versprechen gehalten, niemand sonst hatte mich auf etwas derartiges angesprochen oder Andeutungen gemacht. Und doch, ich merkte langsam, wie ich ihn ein wenig vermisste und kam mir dabei lächerlich vor. Wir waren so etwas wie Freunde, nichts weiter. Und doch hatte ich ihm zu verstehen gegeben, dass er sich um mich keine Sorgen zu machen brauchte. "Besser", hatte ich ihm geantwortet. Hatte er gemerkt, dass es gelogen war? Wusste er, wie stark die Schmerzen tatsächlich waren? Ich wusste es nicht, doch sie konnten nichts für mich tun. Was brachte es da, wenn sie Angst um mich hatten?

Ich saß grübelnd, an einen Baum gelehnt, im Wald. Es war Morgens, die meisten Jungen waren noch nicht wach. Für die Lichtung war es ungewöhnlich kalt, der Boden seltsam feucht. Ich hatte die Stille im Krankenzimmer nicht mehr ausgehalten und war langsam in Richtung des Waldes gelaufen. Noch immer war ich wackelig auf den Beinen, so ungern ich es mir auch eingestehen wollte. Nun saß ich hier, den Vögel des Waldes lauschend.
Meine Gedanken kreisten um nichts bestimmtes, ich genoss es einfach hier zu sein.
Bis die Ruhe unterbrochen wurde. Jemand bahnte sich den Weg durch das Unterholz, klar und deutlich hörte ich die Schritte von hinten. Regungslos blieb ich sitzen, vielleicht bemerkte er mich nicht, wer auch immer dort kam. Doch meine Hoffnung sollte nicht zutreffen.

"Rachel?", ich zuckte zusammen bei der Nennung meines Namens. Er hatte die Runde gemacht, was wohl unvermeidbar gewesen war. Ich reagierte nicht. Ich wusste, wer dort mit rauher Stimme meinen Namen gesagt hatte. Und ich wollte ihn nicht sehen.
Die Schritte kamen näher, bis ich spürte, dass der Junge neben mir stand. Er setzte sich nicht und ich sah ihn nicht an. So lange hatte ich ihn nun nicht gesehen, was wollte er jetzt auf einmal von mir?

"Rachel", er wiederholte meinen Namen, diesmal reagierte ich. Ruckartig drehte ich den Kopf. Er stand in einem respektvollen Abstand zu mir dort, die Hände hinter dem Rücken und sah mich direkt an. Seine matten, blauen Augen begegneten meinen und er sah wieder weg.
"Gally", sagte ich monoton. Ich war nicht wütend auf ihn, ich wusste nur nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte. Er antwortete nicht. Nach einer Weile wurde ich ungeduldig. "Was willst du hier?", fragte ich. Fast unmerklich schluckte er.
"Reden", antwortete er. Die Atmosphäre zwischen uns war unangenehm gespannt. Ich antwortete nicht, sondern wartete. Minuten vergingen, fast wäre ich aufgesprungen und gegangen, doch dann fing er tatsächlich an.

"Du wirst es mir vermutlich nicht glauben,", sagte er, "aber es tut mir Leid."
Ungläubig sah ich ihn an. Entschuldigte er sich gerade bei mir? Gally, der mir Wochenlang zu verstehen gegeben hatte, wie sehr er mich hasste, wie sehr er mir misstraute? Ich schüttelte schnaubend den Kopf.

"Seit einem und einem halben Jahr bin ich hier", redete er unbeirrt weiter. "Ein einhalb Jahre. Und kein einziges mal ist in der Box ein Mädchen hochgekommen. Es ist gegen das Muster, es ist falsch, dass du hier bist."
Ich wollte gerade zu einer bissigen Bemerkung ansetzten, dass ich es mir nicht ausgesucht hatte, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. "Ich weiß. Ich weiß, dass du es nicht wolltest. Das habe ich jetzt gemerkt, nachdem... " er brach ab. Einige Momente schwiegen wir. "Ich nehme die Verantwortung auf mich", sagte er schließlich. "Niemand weiß, was tatsächlich passiert ist, aber es ist meine Schuld, dass du gestochen wurdest. Ich wollte nie, dass es so weit kommt, es tut mir leid."
Ich merkte, wie schwer es ihm fiel, diese Worte auszusprechen. So, wie ich Gally kennengelernt hatte, kam er mir nicht wie eine Person vor, die sich einfach so entschuldigte. Ich war nachdenklich. Ich hatte ihm schon längst verziehen, daß wusste ich. Und das seltsamsten war, dass ich ihn sogar ein klein wenig verstehen konnte. Nach so langer Zeit an diesem Ort, wie er, da konnte ich verstehen, dass man misstrauisch wurde. Die Akzeptanz der anderen, wie Newt, Zart, Nick, Bratpfanne und Alby war nicht selbstverständlich. Wer wusste schon, welcher der Lichter genau wie Gally dachte und mich verdächtigte? Gally hatte sich entschuldigt, das war alles, was nun zählte.
"Schon gut", meinte deshalb ich seufzend.
Gally sah mich an. "Danke", sagte er leise, wie beiläufig. Er sah mich noch einmal eindringlich an. Fast hätte ich das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, doch alles, was er tat war sich abzuwenden. Schließlich drehte er sich doch um. "Heute kommt ein neuer Frischling", meinte er. Unsicher, was er mir sagen wollte, erwiderte ich seinen Blick. Konnte es echt sein, dass schon ein Monat vergangen waren? "Wir machen am Abend immer ein Lagerfeuer, bei dir war eine Ausnahme wegen George und- ", er unterbrach sich selbst. "Du bist heute natürlich willkommen, ich... wir... würden uns freuen, wenn du kommst. Nur, wenn du willst, du musst nicht, aber wenn es dir besser geht-".
"-Danke", unterbrach ich ihn. Ein leises Lächeln hatte sich auf meine Lippen geschlichen. Ich bildete mir nichts darauf ein, und doch, als er mit einem letzten Kopfnicken schließlich ging, musste ich mir eingestehen, dass Gally vielleicht doch kein so schlechter Kerl war. Vielleicht.

DESTINY - Newt TMR ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt