Kapitel 6

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Das Geräusch war Ohrenbetäubend und jäh hielt ich mir die Ohren zu. Ich wirbelte herum, von wo das Geräusch kam und stellte mit entsetzen fest, dass es von den gewaltigen Mauern wiederhallte. Sie bewegten sich.
Wie erstarrt beobachtete ich, wie sich die Mauern auseinanderschoben. Das war doch unmöglich! Wie konnte es sein dass sich diese massiven Steinblöcke bewegten! Was ging hier vor sich? Instinktiv ging ich einige Schritte auf die Mauern zu, wurde aber abrupt von hinten an der Schulter festgehalten. Ich zuckte heftig zusammen, denn es war die angeprellte Schulter, die ich George zu verdanken hatte. Wütend drehte ich mich um und löste mich aus dem Griff.
"Entschuldige", Newt war mir hinterhergelaufen, "aber das solltest du besser lassen. Schau!"
Sein Blick wanderte wieder zur Mauer. Die beiden Jungen, ich war mir nun ganz sicher, dass George einer von ihnen war, rannten auf die sich öffnenden Mauern zu und wurden kurz darauf vom Dunkeln des Labyrinths verschluckt. Fassungslos sah ich ihnen nach. War nicht die Regel niemals das Labyrinth zu betreten? Was taten sie denn?
"Läufer", sagte Newt leise. "Jeden Morgen, wenn sich die Tore öffnen, laufen sie hinein und suchen nach einem Ausgang. In der Nacht verschieben sich die Mauern, du hast die Geräusche sicherlich gehört. Niemand hat je eine Nacht dort überlebt. Das ist das Wichtigste, was wir hier tun. Nur darum geht es". Die Bitterkeit in seiner Stimme war unüberhörbar. "Sie sind die Besten der Besten. Minho, das ist ihr Hüter, hast du eben gesehen zusammen mit George, den du ja bereits kennst. Er ist einer von denen, die am Längsten hier sind."
"Wie lange geht das schon so?", fragte ich leise. Eine Weile antwortete er nicht. Wir standen auf der großen Fläche, hinter uns der Wald und vor uns die riesigen Mauern, die nun vollständig offen waren.
"Zwei Jahre. Einige sind schon zwei Jahre hier.", er besann sich und sprach wieder normal. "Als ich sagte, du wirst jeden Beruf ausprobieren, meinte ich nicht die Läufer. Für dich gelten die Regeln wie für jeden anderen auch, also geh niemals dort hinein, hast du das verstanden?".
Er sah mich ernst an, und ich zweifelte nicht an der Wichtigkeit dieser Regel. "Ja", bestätigte ich.
Ein paar Sekunden standen wir noch da, bis ich die Stille erneut unterbrach. "Warum bist du dann nicht Läufer?", fragte ich unvermittelt. Erstaunt sah er mich an und ich hatte schon das Gefühl zu viel gefragt zu haben, doch dann grinste er, was aber ein wenig gequält aussah. "Bin ich doch", sagte er nur.

~*~

Newt war schweigend mit mir zurück  gegangen und hatte Alby Bescheid gesagt, dass der Rundgang beendet war. Dieser hatte mich Zart zugeteilt, dem Hüter der Hackenhauer. Zart war ein blonder, hochgewachsener Junge, der ganz nett wirkte. Er war nicht so ernst oder wortkarg wie Newt, weshalb das Arbeiten im Garten sogar teilweise Spaß machte. Ich hatte die Aufgabe bekommen, bei den Beeten, nicht weit entfernt von der gewaltigen Öffnung, das Unkraut zu jäten. Es war keine schwierige Arbeit, aber eine langwierige. Ich beeilte mich nicht sonderlich, sondern arbeitete konzentriert vor mich hin und erlaubte meinen Gedanken abschzuschweifen. Die Läufer suchten also nach einem Ausgang, der vielleicht gar nicht existierte. Ich hatte noch gut die Bitterkeit in Newts Stimme in Erinnerung, als er mir sagte, wie lange manche schon hier waren. Ich hatte mich nicht getraut ihn zu fragen, wann er hergekommen war. Die Läufer hatten sich den ganzen Tag bisher nicht mehr blicken lassen. Liefen sie etwa den ganzen Tag dort im Labyrinth herum? Ich nahm mir vor jemanden zu fragen, doch Zart war gerade nicht in der Nähe und sonst kannte ich niemanden, außer Newt, den ich aber ganz bestimmt nicht fragen würde denn er war ebenso verschwunden. Er war mir ein Rätsel, wenn er ein Läufer war, warum war er nicht im Labyrinth, wie die Anderen? Hatte er sich etwa freiwillig gemeldet mir die Führung zu geben, oder hatte Alby es angeordnet? Es machte keinen Sinn sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Immer wieder dachte ich an den Zettel, der nicht mehr in meiner Tasche war. Was wohl darauf gestanden hatte? Und wo war er jetzt? Wenn ihn jemand gefunden hätte und er wichtig gewesen wäre, hätte ich das warscheinlich mitbekommen. Hoffte ich zumindest.

In einiger Entfernung sah ich ein paar Jungen zu, die gerade den Zaun an der Hinterseite des Bluthauses reparierten. Gally war unter ihnen, blickte jedoch kein einziges Mal zu mir herüber.
"Willst du mit zum Essen kommen?", fragte mich jemand von hinten. Ich erschrak ein wenig, blickte jedoch nur Zart entgegen, der mich freundlich ansah. Dankbar stand ich auf und ging mit ihm zu den  provisorischen Tischen, an denen schon einige saßen. Die Gespräche verstummten, als wir näher kamen. Ein unwohles Gefühl machte sich in mir breit, ich wäre hier fehl am Platz, doch schon hatten sich alle wieder abgewand. Ich hoffte, das würde sich mit der Zeit legen, schließlich war ich tatsächlich erst seit ungefähr einem Tag da. Bratpfanne gab mir etwas von seinem, diesmal wesentlich appetitlicher aussehenden Essen und ich wollte mich schon allein an einen Tisch setzten, als Zart sich mir gegenüber setzte.
"Und, wie gefällt dir die Arbeit bis jetzt?", fragte er.
"Ganz gut", antwortete ich vage. Mit einem Grunsen fügte ich hinzu: "Es ist ein wenig langweilig um ehrlich zu sein, aber es geht". Zart grinste. Gespielt entrüstet sagte er: "Wie bitte? Langweilig?". Ernster fügte er hinzu: "Man gewöhnt sich dran. Mit der Zeit wird es besser, glaub mir."
Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange er schon hier war, fragte aber nicht.

Wieder an meinem gewohnten Platz am Beet widmete ich mich wieder meinem Unkraut. Ich war schon weit gekommen und Zart sah zufrieden aus. Die Jungen am Zaun gegenüber waren auch fertig und ich beobachtete sie, wie sie einpackten. Es dämmerte schon ein wenig und der Abend brachte kühle Luft in die Lichtung.

Ein plötzlicher Ruf, der die Stille durchzuckte lies mich aufhorchen. Und dann sah ich sie.

DESTINY - Newt TMR ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt