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Obwohl es schon über zehn Jahre her war, erinnerte ich mich an den brennenden Schmerz in meiner Brust, als wäre es gestern gewesen

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Obwohl es schon über zehn Jahre her war, erinnerte ich mich an den brennenden Schmerz in meiner Brust, als wäre es gestern gewesen. An die Schuldgefühle, die mich monatelang – ja, sogar jahrelang – Nacht für Nacht verschlungen hatten. Manchmal träumte ich immer noch von dem Blut, das sich im Schnee verteilt hatte. Sah immer noch Bilder von ihm, wie er kraftlos auf dem Boden lag und in den Himmel starrte. Bei Recáh, es war die Hölle gewesen. Nicht nur seinen angeblichen Tod mitzuerleben, sondern auch es zu verarbeiten. Und ich glaubte, ich hatte es bis heute noch nicht richtig geschafft.

Dass Nescan nun also lebendig vor mir stand, beförderte mich in einen solchen Schockzustand, dass ich mich kaum rühren konnte. Ich hatte ihn lachen gehört, bevor er dort oben am Treppenabsatz stehengeblieben war – sein tiefes, warmes Lachen, das ich nie im Leben wiedererkannt hätte. Und er sah gut aus, gesund und stark ... die letzten zehn Jahre hatten nicht viel geändert. Nur der dunkle Bartschatten und sein Haar, welches nicht mehr so kurz war wie damals, deuteten darauf hin, dass Zeit vergangen war.

„Ally..." Sein Flüstern breitete sich in der gesamten Eingangshalle aus, hing in der Luft wie dunkle Wolken, kurz bevor es anfing zu regnen. Nur er hatte mich immer so genannt. Das war sein ganz persönlicher Spitzname für mich gewesen. Und ich hatte ihn schon so lange nicht mehr gehört, dass sich beim Klang dieses Wortes alles in mir zusammenzog.

Warum war er hier? Warum lebte er? Und warum hatte ich nichts davon gewusst?

„Hey, atme ...", ertönte ein sanftes Flüstern neben mir, aber da meine gesamte Konzentration auf dem Mann lag, der sich nun auf den Weg nach unten – auf den Weg zu mir – machte, konnte ich nicht mal einordnen, ob es von Eath oder Crave kam.

Nescans braune Augen blickten mich bestürzt an. Nur noch wenige Meter trennten uns von einander. Ich hätte einfach ein paar Schritte nach vorne machen müssen, um ihn zu umarmen, um mich an ihn zu schmiegen und das Klopfen seines Herzens zu hören. Aber ich konnte mich einfach nicht bewegen. Ein unkontrolliertes Zittern hatte meinen Körper erfasst und als mein Bruder den Abstand zwischen uns weiter verkürzte, wurde es stärker. Vorsichtig streckte er eine Hand nach mir aus.

Und dann wusste ich plötzlich, was der Baum der Wahrheit mir hatte sagen wollen. Aber wie hätte ich auch so viel in die wenigen Bilder, die mir der Baum gezeigt hatte, interpretieren können? Dass er noch leben könnte, hatte ich nicht für eine Sekunde vermutet. Nie. Ich hatte schon oft in Gedanken durchgespielt, wie ein erneutes Treffen mit Nescan ablaufen könnte. Wie ich überglücklich auf ihn zurennen und er mich mit Freudentränen in den Augen an sich drücken würde. Wie ich mich fühlen würde, meinen großen Bruder endlich wieder bei mir zu haben. Aber diese Vorstellung hatte sich nie in diesem Leben abgespielt. Dieses Wiedersehen hätte erst nach meinem Tod stattfinden müssen. Nicht heute. Nicht hier.

Und je länger ich ihn ansah, je länger ich versuchte zu begreifen, was gerade passierte, desto größer wurde der Riss in meinem Herzen. Natürlich, ja, ich war überwältigt, ihn zu sehen, zu wissen, dass er nicht tot war. Dass er vielleicht sogar ein glückliches Leben geführt hatte. Aber in diesem Moment drängte sich ein Gedanke mit aller Macht in den Vordergrund: Er hatte mich verlassen. Er hatte nicht versucht, mich zu finden. Oder hatte er? Aber ich konnte einfach nicht glauben, dass es ihm in zehn Jahren nicht hatte gelingen können. Vor allem, weil er offensichtlich nicht auf sich alleine gestellt gewesen wäre, wie mir sein Aufenthalt bei der Königsfamilie der Astóric verriet. Also was hatte ihn verdammt nochmal davon abgehalten, mir wenigstens Bescheid zu geben, dass er nicht irgendwo verrottete?

Riscéa - Schuld und LügeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt