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Früher war Nescan über zwei Köpfe größer gewesen als ich, mittlerweile trennte uns kaum mehr einer

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Früher war Nescan über zwei Köpfe größer gewesen als ich, mittlerweile trennte uns kaum mehr einer. Das war der erste Gedanke, der mir kam, während ich ihm durch das Anwesen folgte. Ich konnte einfach nicht anders, als ihn von der Seite aus anzustarren. Sein kantiges Gesicht, die Narbe über seiner Augenbraue, die ich nicht kannte, seine dichten Wimpern und sein Haar, das ich als Kind immer so gerne durcheinander gebracht hatte. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er neunzehn gewesen. Ein Jugendlicher, der die Verantwortung für ein kleines Mädchen getragen hatte. Jetzt war er erwachsen, ein Mann. Und die Angst, dass wir uns zu fremd geworden waren, um jemals wieder das Verhältnis von früher haben zu können, schnürte mir die Kehle zu.

„Wir sind gleich da", durchbrach Nescan die Stille, die mir gar nicht aufgefallen war, weil es in meinem Kopf so unfassbar laut war. Es war schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es gab viel zu viele Unklarheiten, viel zu viele Geheimnisse und Lügen, die mir das Denken in diesem Moment zur Qual machten.

Einige Gänge und Abbiegungen später blieben wir vor einer weißen Tür stehen, die er auch sofort öffnete. Ein geräumiges Zimmer kam zum Vorschein. Weiße Wände, die mit Blumenmustern geschmückt waren, ein großes Doppelbett mit beiger Bettwäsche, ein kleiner Tisch, ein Stuhl und ein Sessel begrüßten uns. An der Wand gegenüber vom Bett stand auch ein Kleiderschrank, der mehr als nur ausreichend sein würde für eine Person.

„Durch diese Tür gelangst du zum Badezimmer." Mein Bruder deutete auf besagte Tür auf der rechten Seite des Zimmers, welches von der Größe her stark dem ähnelte, das ich bei Thoan gehabt hatte. Bei dem Gedanken an den Glyth durchfuhr mich ein kurzer Stich. Wusste er, dass ich hier war? Suchte er nach mir? Hassten sie mich jetzt alle dafür, dass ich abgehauen war?

Ein Seufzen unterdrückend ging ich langsamen Schrittes zum Bett und legte dort meine Tasche ab – auf dem Boden, ich wollte die Bettwäsche, die so aussah, als hätte man sie noch nie benutzt, auf keinen Fall schmutzig machen.

„Na gut, dann ...", hörte ich Nescan hinter mir zu einer offensichtlichen Verabschiedung ansetzen und drehte mich ruckartig zu ihm um. Mit geweiteten Augen sah ich ihn an, konnte das Unbehagen in seinem Blick erkennen, den Zwiespalt, die Schuld, die mir so vertraut war.

„Dann was?", entgegnete ich. „Willst du jetzt einfach wieder gehen?" Der Vorwurf in meiner Stimme war nicht zu überhören, genauso wenig wie die Bitterkeit.

Er räusperte sich. „Ich wollte dir etwas Zeit geben. Wir können auch später noch-"

„War ja klar, dass du so denkst. Ich brauche keine Zeit, Nescan. Zehn Jahre haben gereicht, glaub mir." Als ich ihm so antwortete, wurde mir gleichzeitig klar, dass ich die Hoffnung aufgeben konnte, jemals wieder die Beziehung zu ihm zu haben, wie ich sie als Kind gehabt hatte. Nicht nur er war erwachsen geworden, auch ich war zu einer Frau herangewachsen, mein Charakter hatte sich geformt, meine Ansichten auf die Welt. Wir hatten uns beide verändert. Und allein das würde es bereits unmöglich machen, dort anzusetzen, wo wir aufgehört hatten.

Riscéa - Schuld und LügeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt