"Verdammte Sch..."
Fluchend umklammerte ich meinen Finger, auf den ich gerade mit einem Hammer eingeschlagen hatte. Klasse. Nun hatte ich es zwar geschafft, sämtliche IKEA-Möbel ohne großartige Zwischenfälle aufzubauen, aber an einem Nagel in der Wand sollte es scheitern.
Extra vorsichtig setzte ich erneut an. Mit noch immer pochendem Finger, aber einem Gefühl von Stolz und Vorfreude hob ich die Leinwand vom Boden auf und hängte sie an den Nagel. Mit einem zufriedenen Lächeln trat ich ein paar Schritte zurück und bewunderte das Gesamtwerk.
Meine neue Wohnung konnte sich echt sehen lassen. Die Möbel stammten alle aus meinem alten Zimmer bei meinen Eltern, was nicht schlecht war, denn so – zumindest hoffte ich es – würde mich das Heimweh nicht allzu heftig überkommen. Gut 500 Kilometer trennten das Haus meiner Eltern in Leipzig von meinem neuen Zuhause in Ludwigshafen.
Nach dem Abitur hatte ich ein Jahr mit Work-And-Travel in Nord- und Südamerika verbracht. Anschließend hatte ich eine Ausbildung in der Krankenpflege begonnen, allerdings bald gemerkt, dass dieser Beruf doch nichts für mich war. So hatte ich mich noch einmal umorientiert und einen Studienplatz in Mannheim angenommen, mir ein schickes Studentenwohnheim im benachbarten Ludwigshafen gesucht und meine sieben Sachen gepackt.
Inzwischen bereute ich diese Entscheidung etwas. Ich kannte hier niemanden, war das erste Mal im Leben komplett auf mich allein gestellt und die Zugfahrt nach Hause dauerte hin und zurück gut acht Stunden, weshalb ich von vielen Besuchen in die Heimat wohl absehen würde.
Ich ließ mich, erschöpft von einem Tag voller IKEA-Aufbauanleitungen, auf mein Bett fallen. Ich zog den Pizzakarton zu mir heran und verschlang das letzte Stück der Schinken-Salami-Pizza, die ich mir vorhin bestellt hatte. Jetzt, wo ich nichts mehr zu tun hatte, kam Nervosität in mir auf. Morgen war mein erster Tag an der Uni, und obwohl ich versuchte, ruhig zu bleiben, machte ich mir alle Sorgen, die man sich in dieser Situation nun einmal macht: würde ich nette Leute kennenlernen? Oder am Ende diese seltsame Person sein, die in der Ecke steht und mit der niemand reden will? Würde ich überhaupt den Hörsaal finden? Was, wenn ich schon am ersten Tag merkte, dass ich viel zu dumm für's Studieren bin!?
Nachdem ich meine Sachen für den nächsten Tag gepackt hatte, kuschelte ich mich in mein Bett. Es war erst April, aber schon warm genug, um mit gekipptem Fenster schlafen zu können. Irgendeiner meiner neuen Nachbarn hörte Musik. Nach langem hin- und herwälzen schlief ich schließlich ein – immernoch nervös, aber auch mit einer freudigen Erwartung an den nächsten Tag.
* * *
Die erste Woche an der Uni ging überraschend positiv vorbei. Ich hatte den Hörsaal mühelos gefunden, die Professoren wirkten nett und auch die ersten Vorlesungen überforderten mich nicht. Darüber, die einzige zu sein, die keine Freunde findet, hätte ich mir weniger Gedanken machen können. Ich traf unheimlich viele nette Leute. Die Beste von allen war meine Nachbarin, Nesrin: sie war im selben Studiengang wie ich und schien meine Seelenverwandte zu sein. Absolut eine Wellenlänge.
Wir hatten uns am zweiten Tag kennengelernt. Ein Typ – ich glaube, er heißt Benjamin oder Sebastian oder so – hatte mich zwischen zwei Vorlesungen angesprochen.
"Hey, du bist Lisa, oder?"
"Hi, ja! Du studierst auch Psychologie hier, richtig?"
"Genau, sind Kommilitonen, haha". Er hatte sich eine weißblonde Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und seinen Arm anschließend auf der Armstütze meines Stuhles abgelegt. Vielleicht irrte ich mich, aber die Art, wie dadurch sein durchtrainierter Oberarm und seine fette Rolex für mich kaum zu übersehen waren, machte für mich den Eindruck, als würde er diesen Move öfter bringen.
"Ich dachte mir, ich muss dich einfach ansprechen. Hast du Lust, mal essen zu gehen?"
"Oh, okay, klar", hatte ich etwas lustlos geantwortet. "Meinetwegen gleich nachher, also ich gehe sowieso zum Mittag in die Mensa, mit ein paar Leuten, kannst gerne mitkommen..."
"Was? Nein, haha."
Er hatte immer noch meine Armlehne in Beschlag genommen. Die ganze Art, wie er sich zu mir lehnte, dabei sichtlich seine Muskeln anspannte und überheblich lächelte, ließ mich nun sicher sein, dass er sowas hier öfter machte. Man soll ja nicht zu schnell über Menschen urteilen, aber 'Fuckboy' war trotzdem das erste, was mir durch den Kopf schoss.
"Ich meine abends. Du und ich. Zusammen ausgehen. Ich kann dich mit dem Auto abholen, und ..."
"Oh!", hatte ich ihn unterbrochen und schrill aufgelacht. "Ooooh. Ähm, nee, sorry, lass mal."
Ich hatte wieder gelacht, eher, um die unangenehme Situation zu überspielen, nach außen hin (so sagte mir Nesrin später) wirkte es allerdings wohl, als hätte ich mich über den armen Jungen lustig gemacht, denn er hatte seinen Arm von meinem Stuhl entfernt, pikiert "Alles klar, dann eben nicht" gemurmelt und war verschwunden. Eine Reihe vor mir hatte sich grinsend ein hübsches Mädchen mit dunklen Haaren umgedreht.
"Dem hast du es aber gegeben, Mashallah! Stehst wohl nicht auf hübsche Typen?"
"Ich steh nicht so auf 'Prince Charmings', nein", hatte ich entgegnet, woraufhin sie über die Stuhlreihen zum Platz neben mir geklettert war.
"Ich feier dich. Hi, ich bin Nesrin. Ich glaube, wir sind sogar Nachbarn, hab dich letztens Kisten hochtragen sehen."
"Lisa – und wenn wir Nachbarn sind, kann ich ja mal rüberkommen. Dann muss ich deine Musik nicht mehr durch die Wand hören."
Sie hatte gelacht und wir hatten uns ein bisschen über Prince Charming und andere Belanglosigkeiten unterhalten. Seitdem hatten wir jeden Abend in ihrer oder meiner Wohnung gemeinsam gekocht. Ich bin sehr froh, Nesrin als Freundin gefunden zu haben – nicht nur wegen dem, was danach auf mich zukam.
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Alles, was ich seh', bist du
Fanfic"Wollen beide frei, aber nie alleine sein" (Fan-Fiction zu Apache 207)