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„Dafür wirst du bezahlen, Mila Carter. Ich werde mich rächen. Ich hasse dich!" Sie erwachte mit klopfendem Herzen und richtete sich auf.

Mila griff sich an die Brust und atmete kräftig ein und aus. Es war nur ein Albtraum, kein Grund sich Sorgen zu machen, doch sie schaffte es nicht, sich zu beruhigen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 05:20 zeigte der Wecker in grünen Leuchtbuchstaben an. Seufzend nahm sie ihr Kissen und drückte es sich auf ihr Gesicht. Einige Minuten wälzte sie sich noch von einer Seite zur anderen, bis sie schließlich aufstand und sich ihren Morgenmantel um die Schultern legte. Im Bad betastete sie die Narbe, die sich über ihre gesamte Wange zog. Immerhin war sie kaum zu sehen, da sie langsam verblasste und sich an ihre Hautfarbe anpasste. Man musste schon ganz nah an sie herantreten, um sie überhaupt sehen zu können. Dann machte sie sich auf den Weg in die Küche und brühte sich einen Kaffee auf. Mit der Tasse in der einen und ihrem Handy in der anderen Hand, setzte sie sich an den Küchentisch. Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk und stellte die Tasse auf dem Tisch ab. Kurze Zeit später hörte sie, jemanden die Treppe hinunterlaufen.

„Kannst du auch nicht schlafen?" Chloe ging zum Kühlschrank und schaute hinein, schloss ihn dann aber wieder.

Mila schüttelte nur den Kopf und rieb sich die Augen.

„Ich habe jede Nacht Albträume. Sie lassen mich nicht los." Chloe blieb stehen und starrte auf den Boden.

Sie sah so hilflos aus, so verletzlich. Mila stand auf und breitete die Arme aus, um sie in eine Umarmung zu schließen. „Es wird besser werden."

Doch Chloe schreckte zurück. „Lass mich in Ruhe!"

„Ok, Schätzchen." Sie hielt die Hände in die Höhe und machte einen Schritt zurück.

„Nenn mich nicht so!" Chloe verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie angriffslustig an.

„Ich sehe doch, es geht dir nicht gut. Bist du dir sicher, dass du nicht doch zu einem Psychologen gehen möchtest? Du kannst mit mir über alles reden."

„Mit mir ist alles in Ordnung!" Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte hoch in ihr Zimmer.

Mila blieb allein zurück und bewegte sich für einige Minuten nicht von der Stelle, bis sie sich schließlich wieder an den Küchentisch setzte. Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute auf ihr Handy. Das erste Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, es würde klingeln und sie zu einem Einsatz rufen. Mila hörte erneut Schritte die Treppe hinunterkommen. Diese leiser und zögernder als die vorherigen.

„Oh. Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen." Ella drehte sich um und wollte wieder hochgehen.

„Du kannst gern was trinken." Mila stand auf und holte ein Glas aus einem der Schränke, drehte den Wasserhahn auf und ließ es volllaufen.

Dann reichte sie es Ella.

„Danke." Sie nippte am Glas und nahm schließlich noch einen weiteren Schluck, ehe sie es wieder absetzte, Dabei schaute sie Mila nicht in die Augen.

„Kannst du auch nicht schlafen?", fragte Mila.

„Ne." Ella setzte ihr noch halbvolles Glas ab und beeilte sich wieder nach oben zu kommen.

Mila seufzte, denn egal was sie auch tat, sie kam einfach nicht an Ella heran. Ein Monat war bereits vergangen, nachdem ein Psychologe Aaron in eine psychiatrische Klinik verwiesen hatte. Ein weiterer Monat, seit seiner Verhaftung.

Es klingelte, sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es ihr Handy war. Mit zitternden Händen nahm sie den Anruf an. Es war inzwischen 07.46Uhr.

„Hallo. Agent Carter hier?", sagte sie atemlos in den Hörer.

„Roberts hier. Du musst sofort herkommen. Es geht um einen vermissten Jungen." Durch die aufgeregten Stimmen im Hintergrund hatte sie ihn kaum verstanden.

„Bin gleich da", sagte sie nur und legte auf.

Mila hinterließ Chloe und Ella eine Nachricht und stieg in ihren alten Volvo, um direkt zum Hauptquartier des FBI zu fahren. Agent Roberts erwartete sie bereits, neben ihm eine Frau mittleren Alters, deren Haare zerzaust abstanden. Ihre Augen waren rot umrandet von den Tränen, die sie bereits vergossen zu haben schien.

„Mila Carter." Sie schüttelte der Frau die Hand, die sie neugierig musterte.

„I-ich bin Anni Clarke." Sie lächelte, als sich ihre Hände wieder voneinander lösten.

„Erzählen sie uns, warum sie hier sind. Wir gehen am besten in mein Büro", sagte Mila und forderte Anni auf, ihr zu folgen, in dem sie einfach losging.

Nachdem sie sich auf einigen Stühlen niedergelassen hatten, begann Anni zu erzählen. „Mein Sohn, Leon-" Sie gab einen erstickten Laut von sich. „Er ist schon seit zwei Tagen verschwunden. Wissen Sie, mein Mann und ich sind geschieden. Ich habe ihn am Samstag bei ihm abgeliefert. Es war nicht abgesprochen, mein Sohn wollte einfach mal wieder was mit seinem Dad machen, also habe ich ihn bei ihm abgesetzt und bin sofort wieder los. Ich dachte mit 14 schafft er es, alleine zur Tür. Ich wusste auch, dass David, so heißt mein Mann, zuhause war. Nach zwei Tagen rief er an und fragte, ob Leon die Woche zu ihm kann. Sie müssen sich meine Angst in dem Moment vorstellen, als er mir sagte, dass Leon nicht bei ihm war." Ihre Hände zitterten und sie setzte sich auf sie, um es zu stoppen.

„Haben sie es schon bei Freunden versucht? Vielleicht ist er bei einem von ihnen untergekommen." Mila schrieb sich einige Informationen in ihr Notizbuch, wo sie glaubte sie könnten nützlich sein.

„Ja. Bei allen. Freunden, Verwandten, Bekannten. Nichts." Annis Unterlippe bebte.

„Ok." Mila legte ihr die Hand auf die Schulter und schaute ihr in die Augen. „Wir kümmern uns darum."

„Hoffentlich ist Leon nichts passiert. Hätte ich ihn doch bloß zur Tür gebracht. Ich bin eine schlechte Mutter." Anni senkte den Kopf und hielt sich die Hände vor die Augen.

„Sie sind deswegen keine schlechte Mutter. Gibt es jemanden, den wir für sie anrufen können?", fragte Mila und wechselte ihre Sitzposition.

„David kommt gleich." Anni schniefte und Mila reichte ihr ein Taschentuch, die in einer Box auf ihrem Schreibtisch standen. „Danke." Sie schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.

„Gern. Haben sie ein Bild von ihrem Sohn, dass sie uns geben können?"

„Ja. Ich habe es noch schnell eingesteckt, bevor ich los bin. Dachte, es könnte hilfreich sein." Sie kramte umständlich in ihrer Handtasche, bis sie ein zerknittertes Bild in den Händen hielt. „Hier." Anni reichte ihr das Bild. „Das ist Leon."

„Ein süßer Junge." Leon hatte braune Haare und sah mit seinen feinen Gesichtszügen und den blauen Augen viel jünger aus, als er eigentlich war.

„Ja, das ist er." Anni lächelte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Bitte, finden sie ihn." Ihre Stimme war zu einem leisen Flüstern geworden.

„Wir geben unser Bestes." Sie machte Gebrauch von einer lahmen Floskel. 

Der SpielmeisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt