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Ella wunderte sich darüber, dass sie Chloe schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Sie antwortete ihr auch nicht auf ihre Nachrichten. Mila blockte immer ab, wenn sie nach ihr fragte und behauptete, dass sie bei Tim war. Doch es war nun schon eine Woche vergangen und die beiden erschienen nicht in der Schule. Schwänzten sie etwa? Das war eigentlich gar nicht Chloes Art, deshalb machte sie sich ja auch so große Sorgen um sie. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen selbst bei Tim vorbeizugehen, doch bisher brachte sie es nicht über sich.

Sie wählte noch einmal Chloes Nummer, während sie mit dem Handy am Ohr die Treppe hinunterlief, als Mila am Fuße der Treppe erschien. „Mom? Weißt du wann Chloe von Tim zurückkommt?"

Erst als Mila stutze und ihre Augen sich vor Schock weiteten, wurde ihr bewusst was sie da gerade gesagt hatte. Sie hatte sie mit Mom angesprochen, wie peinlich.

Ella wurde augenblicklich rot und nahm ihr Handy hinunter, weil Chloe nach dem zehnten Klingeln immer noch nicht ranging. „Tut mir leid, ich-" Ihr fehlten die Worte und sie starrte beschämt auf ihre Füße.

Mila hatte sich inzwischen gegen die Wand gelehnt und schien mit irgendwas zu kämpfen, von dem Ella nichts ahnen konnte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Auch wenn es ihr peinlich war, sie hatte gehofft, das Mila sich darüber freuen würde, doch sie schien irgendwie bestürzt darüber zu sein und das verunsicherte sie sehr.

„Tut mir leid. Ich wollte gerade rausgehen. Oh Gott. Wird nicht wieder vorkommen, sorry." Ella stammelte etwas vor sich her, während sie sich eine Jacke von der Garderobe schnappte und in Rekordgeschwindigkeit in ihre Schuhe schlüpfte.

Mila sagte immer noch nichts und Ella fühlte sich so einsam wie schon lange nicht mehr. Chloe antwortete nicht auf ihre Anrufe, ihr Vater war tot, Leonora auch und -Mila. Sie war sich nicht ganz sicher, was mit Mila war. Die letzten Wochen hatten sie sich doch ganz gut verstanden. Sie waren zusammen einkaufen gewesen, hatten sich gut unterhalten und Ella hatte das Gefühl sie näherte sich ihr langsam an. Kaum war sie aus der Tür getreten, lief ihr auch schon eine einzelne Träne die Wange hinunter, doch sie wischte sie verärgert weg. Wieso musste sie auch so unglaublich sensibel sein? Sie schlug nun den Weg zu Tims Haus ein, denn sie wollte nun wenigstens wissen, was mit Chloe los war. Gut, dass sie ihr einmal aus dem Busfenster gezeigt hatte, wo Tim wohnte, sonst wäre sie jetzt wahrscheinlich planlos in der Gegend herumgelaufen. Es war auch gar nicht so weit von ihrem zuhause entfernt. Ella schluckte und blickte hinauf in den Himmel, wo ein feiner Nieselregen ihr Gesicht befeuchtete. Sie öffnete den Mund und ließ einige Tropfen hineinregnen. Dann streckte sie ihre Arme zur Seite und drehte sich einmal im Kreis, allerdings erst, als sie sicherstellte, dass auch wirklich niemand in der Nähe war, der es vielleicht sehen könnte.

Als sie damit fertig war, zog sie sich ihre Kapuze tief ins Gesicht, da aus den wenigen Tropfen schnell ein starker Regenfall wurde. Klitschnass kam sie schließlich an Tims Haus an und rettete sich unter das Dach über dem Eingangsbereich. Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich dazu überwand die Klingel zu drücken. Fast sofort, öffnete ihr ein Mann, der wie es schien nur darauf gewartet hatte, dass jemand klingelte.

„Da bist du ja, Junge. Du hast eine Menge-" Erst jetzt erkannte er, dass er keinen Jungen, sondern ein Mädchen vor sich hatte, zumindest beendete er seinen Satz nicht mehr.

Ella schluckte noch einmal und versuchte sich zu sammeln. Sie hatte auf dem Weg hierher einstudiert, was sie sagen wollte, doch es war auf einmal alles weg, als der Mann sie alles andere als höflich musterte.

„Was gibt es denn?" Der Mann blaffte sie an, was es ihr nicht unbedingt erleichterte die richtigen Worte zu finden.

„Ich würde gern mit Chloe sprechen." Ella verschluckte sich daran und lief rot an.

„Wer?" Der Mann runzelte verwirrt die Stirn. „Die gibt es hier nicht. Du musst dich wohl in der Adresse geirrt haben." Schon knallte er ihr die Tür vor der Nase zu, doch Ella war sich sicher, dass sie hier richtig war, also klingelte sie ein weiteres Mal.

Der Mann riss die Tür wieder auf. „Kann ich dann vielleicht mit Tim sprechen?", fragte Ella ihn und war stolz darauf, wie ruhig sie dabei klang.

„Er ist nicht hier. Jetzt geh. Es ist nicht sicher für kleine Mädchen, wie dich, alleine draußen herumzustreunen." Er musterte sie abschätzig und knallte erneut die Tür vor ihrer Nase zu.

Diesmal beließ sie es dabei und machte auf dem Absatz kehrt. Es regnete immer noch und der Wind peitschte ihr die Tropfen nur so ins Gesicht. Nach ein paar Minuten war sie bereits klitschnass, doch sie wollte noch nicht wieder nachhause, denn dort musste sie Mila begegnen und sie wusste nicht, ob sie das konnte. Sie steuerte den Stadtpark an, denn sie wusste, dass es dort eine kleine Hütte gab, unter der sie Schutz vor dem Regen suchen konnte. Es gab dort auch eine kleine Bank aus Holz auf die sie sich bequem hinsetzen konnte. Dort angekommen zog sie ihre Jacke ein wenig fester um ihren Körper, da es doch merklich kühler geworden war. Sie verfluchte sich dafür, dass sie sich keine dickere Jacke mitgenommen hatte, doch sie war in Eile gewesen, als sie das Haus verließ und hatte das Erstbeste genommen, was sie in die Finger bekam. Ella zitterte und versuchte sich abzulenken, in dem sie den Geräuschen des Regens lauschte. Doch ein Druck in der Brust erschwerte ihr die Sache. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. Wo war Chloe? Wo war Tim? Wieso hatte Mila so komisch reagiert, als sie sie Mom genannt hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass es an ihr liegen musste. Ella war sich bewusst, dass es albern klang, doch sie konnte diesen Gedanken nicht mehr abschütteln. Schließlich als es schon dunkel war und der Regen längst aufgehört hatte, machte sie sich auf den Weg zurück. Sie versuchte ihren Haustürschlüssel so leise wie möglich im Schloss herumzudrehen. Vielleicht konnte sie ja unbemerkt nach oben in ihr Zimmer gelangen, doch kaum hatte sie die Schwelle ins Innere betreten, stand Mila auch schon vor ihr.

„Wir müssen reden", sagte sie und kaute dabei nervös auf ihrer Unterlippe.

Ella folgte Mila zögernd ins Wohnzimmer und sah zu ihrem Erstaunen Jamie auf der Couch sitzen, die ihren Zeigefinger an ihren Mund hielt, um ihr zu bedeuten still zu bleiben. Sie schluckte die Worte herunter die ihr auf der Zunge lagen und begnügte sich damit einen verwirrten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Jamie hatte währenddessen ein Blatt Papier zur Hand genommen und begann etwas draufzuschreiben, während Mila sich räusperte.

„Ich muss dir etwas sagen." Mila schielte zu Jamie hinüber, während sie scheinbar darüber nachdachte wie sie am besten anfangen konnte. „Also." Sie zog das Wort absichtlich in die Länge. „Es geht darum." Schon wieder dehnte sie die Wörter, als wären sie Kaugummi.

Schließlich hielt Jamie das Geschriebene hoch, es war gerade groß genug, dass Ella es lesen konnte. Sie wird gezwungen. Glaube es nicht. Spiel einfach mit.

„Ich habe dich nur aus Mitleid bei mir aufgenommen, weil ich das Gefühl hatte, Adam etwas zu schulden." Mila schloss die Augen und schien es wirklich nicht so zu meinen.

Doch eine Stimme in Ellas Kopf, sagte ihr genau das Gegenteil und egal was sie auch tat, sie konnte sie nicht einfach ignorieren. Der Gedanke brannte sich ihr ein und der Druck auf ihrer Brust nahm ihr die Luft zum Atmen.

„Okay." War das einzige was sie herausbrachte, eine Mischung aus Entsetzen und Erstaunen.

Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief wie betäubt hoch in ihr Zimmer um sich ins Bett zu legen. Der Druck schnürte ihr immer noch die Luft ab und drückte sie geradezu fester in die Matratze. Sie konnte sich nicht bewegen und hatte das Gefühl sie verlor die Kontrolle über ihren Körper der ihr nun nicht mehr gehorchen wollte. Lange Zeit konnte sie nicht einschlafen. 

Der SpielmeisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt