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Die Leiche des kleinen Leons wurde am Donnerstag an der Böschung eines Flusses gefunden. Mila war dabei, als einige Leute der Spurensicherung in das seichte Wasser wateten, um ihn an Land zu ziehen. Einige Jugendliche fanden ihn, sie wollten dort ein Picknick veranstalten. Mila betrachtete die Leiche genauer, wobei ihr auffiel, dass um seinen Hals Würgemale zu erkennen waren. Außerdem entdeckte sie Hämatome an seinen Armen, als sie die Ärmel seines Pullovers mit ihren Handschuhen zur Seite schob. Es musste einen Kampf gegeben haben, den Leon verlor. Es war schon Abend, als er in einem Leichensack verfrachtet, den Weg ins Institut für Rechtsmedizin antrat. Mila konnte aber noch nicht aufatmen, denn sie musste Anni über den Tod ihres Sohnes informieren. Es gab nichts schlimmeres, als vor der Tür eines Angehörigen aufzutauchen und die Hoffnung zerstören zu müssen, ihre Lieben jemals lebendig wiedersehen zu können.

Als der Leichenwagen nicht mehr zu sehen war, ging sie nun zu ihrem Auto und stieg ein. Anni lebte eine gute halbe Stunde entfernt, in einem Wohnblock für den sich der Architekt nicht viel Mühe gegeben hatte. Es war einfach nur ein grauer, rechteckiger Klotz mit einigen Fenstern. Auf den Balkonen versuchten Blumen und allerhand Deko dem tristen Gebäude ein freundlicheres Aussehen zu verleihen, doch vergeblich. Mila drückte auf das Klingelschild mit der Aufschrift Clarke und stieß die Tür auf, als ein Surren ankündigte, dass sie geöffnet wurde. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg sie schließlich die Treppen zum dritten Stock hinauf, wo eine völlig aufgelöste Anni schon auf sie wartete.

„Ihr habt ihn gefunden, oder?" Sie hielt sich am Treppengeländer fest und sah sie mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung an.

Mila senkte den Blick und schien Anni zu bestätigen, was sie längst vermutete, denn sie schluchzte gequält auf. Sie stieg die fehlenden Treppenstufen hoch, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein.

„Es tut mir sehr leid. Wir haben die Leiche ihres Sohnes in einem Fluss gefunden."

Mila konnte sich nicht erinnern, wie oft sie schon solch traurige Nachrichten übermitteln musste. Trotzdem meinte sie es immer noch ernst, wenn sie sagte, dass es ihr leidtat. Es half Anni wahrscheinlich nur nicht, ihr Sohn war tot, dass würden Worte auch nicht verändern können.

In dem Moment tauchte ein Mann hinter Anni im Türrahmen auf. Er sah ein wenig, wie die ältere Version von Leon aus, deshalb erkannte sie ihn als David. Auf seinem Gesicht zeichnete sich die Sorge ab, als sein Blick auf Anni fiel. Die beiden warteten wohl schon die ganze Woche auf eine Nachricht, wie Mila es an ihrem Aussehen ablesen konnte. David sah aus, als hätte er sich tagelang nicht rasiert, Augenringe lagen wie tiefe Höhlen unter seinen Augen. Anni wirkte auf Mila sogar noch mitgenommener, denn sie schien sich nicht einmal die Zeit genommen zu haben, um ihre Haare zu waschen, die ihr in fettigen Strähnen an der Stirn klebten. David hatte inzwischen seine Arme um Anni geschlungen und vergrub seine Nase in ihren Haaren.

„Ich lasse sie zwei dann mal allein. Wenn sie bereit dazu sind, rufen sie mich an. Ich muss ihnen dann noch einige Fragen stellen." Mila winkte zum Abschied und machte dann auf dem Absatz kehrt, um die unzähligen Treppen hinunterzugehen.

Als sie unten ankam lief sie noch eine Runde um den Wohnblock herum, um ihren Kopf freizubekommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste eines seiner Kinder zu verlieren. Was wenn Chloe oder Ella etwas zustoßen sollte? Mila schüttelte den Gedanken ab, denn die Angst durfte die Kontrolle nicht übernehmen. Seitdem sie Aarons Leiche auf dem Autopsietisch liegen sah, war sie ziemlich aufgewühlt. Sie wollte wütend sein, doch sie empfand einfach nur Mitleid. Niemand verdiente es zu sterben, selbst er nicht. Zwei Monate lang hatte sie ihre Gefühle verborgen und weggedrückt, es gelang ihr auch, in dem sie sich Hals über Kopf in ihre Arbeit vertiefte. Mila stieg schließlich in ihren Wagen. Es dauerte nur einige Zeit, bis sie endlich losfuhr, da sie gegen die Müdigkeit ankämpfe, die sie zu überwältigen drohte. Schließlich gewann sie den Kampf und startete den Motor. Sie überfuhr fast eine rote Ampel, konnte aber gerade noch rechtzeitig auf die Bremse treten. Mila kniff sich daraufhin in den Arm, als sie bemerkte, dass sie unkonzentriert wurde. Bei grün fuhr sie weiter und erreichte ohne Zwischenfälle die Einfahrt ihres Hauses. Sie stellte den Wagen ab und eilte zur Haustür, die sie mit ihrem Schlüssel entriegelte. Dann betrat sie den Flur und streifte sich die Jacke ab, die sie an die Garderobe hängte.

„Hallo? Ich bin wieder zuhause", rief Mila, während sie sich nun auch die Schuhe auszog.

Ein kurzer Blick auf ihre Uhr, zeigte ihr, dass es 22:13 Uhr war.

„Hi." Ella erschien auf der obersten Treppenstufe.

„Wo ist Chloe?" Mila stellte ihre Tasche nun auf dem Boden ab und überlegte, ob sie sich noch etwas kochen oder lieber einfach eine Stulle essen sollte.

„Sie ist noch bei Taylor. Keine Ahnung, wann sie zurückkommt." Um Ellas Mundwinkel zuckte es kurz.

Mila seufzte und schaute auf ihr Handy, um zu sehen ob Chloe ihr wenigstens Bescheid gegeben hatte. Keine neue Nachricht.

„Hast du schon was gegessen?" Vielleicht würde ihr Ellas Antwort die Entscheidung erleichtern.

„Nein." Ella senkte den Blick, als würde sie sich dafür schämen.

„Soll ich uns etwas kochen? Ich habe heute noch nicht viel gegessen." Mila machte sich bereits auf den Weg in die Küche.

„Ja, gern." Ella war ihr gefolgt und lehnte sich an die Theke. „Kann ich dir irgendwie helfen?"

„Klar, kannst du mir helfen." Mila lächelte sie an.

Mila kramte in den Schränken und schaute dann in den Kühlschrank. „Wie wäre es mit-" Sie holte ein Paket Spaghetti heraus. „Nudeln mit-" Dann holte sie einige Zutaten aus dem Kühlschrank. „Gorgonzolasauce, Zucchini und Schweinefleisch."

„Klingt gut." Ella zuckte nur mit den Schultern.

Mila und Ella schnippelten eine Weile schweigend vor sich hin, bis sie hörten, wie sich die Haustür öffnete. Sie legte das Messer weg und ging in den Flur, um zu sehen, ob es Chloe war.

„Bisd du dasss Milaa?" Ihr Vater zog jedes einzelne Wort in die Länge und torkelte auf sie zu.

„Bist du betrunken?" Sie war gerade noch rechtzeitig an seiner Seite, um ihn festzuhalten, bevor er Bekanntschaft mit dem Boden machte.

„Neinnn." Er kicherte und wollte sich aus ihrem Griff befreien. „Lasss mich loss." Seine Hand schlug nach ihr, doch sie duckte sich darunter hindurch.

„Komm ich bring dich ins Bett. Wir reden morgen darüber." Ihr Vater wehrte sich gegen ihren Griff und war nicht zum Weitergehen zu überreden.

„Mir isst schlechd." Schon hielt er sich die Hand vor den Mund und gab Würgelaute von sich.

„Ins Bad mit dir." Mila hatte nicht wirklich Lust, nachher noch Erbrochenes aufwischen zu müssen, also zerrte sie ihn bis zur Toilette, in die er sich schließlich übergab.

Schon füllte sich der Raum mit dem Geruch von Kotze von dem Mila immer schlecht wurde. Sie öffnete ein Fenster und betätigte die Spüle, nach dem ihr Vater fertig war. Immerhin würde sie nicht noch putzen müssen. Sie half ihrem Vater auf und brachte ihn ins Wohnzimmer auf die Couch, dieses Mal leistete er keinen Widerstand. Mila deckte ihn zu und verließ dann den Raum. Als sie wieder in die Küche kam, tat Ella so, als wüsste sie nicht, was gerade passiert war. Auf einmal spürte Mila die Müdigkeit wiederaufkommen, die ihr fast die Augen zufielen ließ.

Eine halbe Stunde später, war es dann soweit und das Essen stand dampfend in Schüsseln vor ihnen. Eine dritte stand auch bereit, falls Chloe noch nachhause kommen sollte. Mila hatte in der Zwischenzeit versucht sie anzurufen, doch es ging nur der Anrufbeantworter heran. Gerade als sie Gabel und Löffel in die Hand nahm, klingelte es erneut an der Tür. Ella erklärte sich dazu bereit, sie zu öffnen und kam wenig später tatsächlich mit Chloe in die Küche zurück.

„Wieso bist du erst so spät zurück? Ich habe mir Sorgen gemacht." Mila durchbohrte sie mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Du bist doch auch immer erst spät zuhause und du sagst uns auch nie, wann du kommst." Chloe streckte trotzig ihr Kinn vor, was ihr ein hochnäsiges Aussehen verlieh.

„Touché. Möchtest du was essen?" Mila deutete auf den Topf, der auf dem Herd stand.

Chloe schüttelte den Kopf. „Ne, danke. Hab schon."

„Du kannst Taylor morgen Abend zu uns einladen, wenn du möchtest. Ich koch uns dann was Schönes, wenn ich nachhause komme." Mila wollte Taylor endlich mal kennenlernen, denn sie wollte sich mehr Mühe geben, als damals mit Liam.

„Ich frag ihn morgen mal." Chloe zuckte mit den Schultern, holte sich einen Schokoriegel aus dem Schrank und ging nach oben. 

Der SpielmeisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt