Chloe lud gerade all ihre schweren Bücher in ihrem Schließfach ab, als jemand sie plötzlich am Arm packte, genau dort, wo der blaue Fleck bereits verheilt war. Ihr Herz klopfte, als sie sich umdrehte, in der Erwartung, Aaron zu sehen.
„Taylor, erschreck mich doch nicht so." Sie wischte sich die schwitzigen Hände unmerklich an ihrer Jeans ab.
„Kommst du mit in die Cafeteria?", fragte er und ließ ihren Arm schließlich los.
„Ich komm gleich nach." Chloe zwang sich zu einem Lächeln.
Sie hoffte, er würde bei ihr bleiben, doch er zuckte nur mit den Schultern und verschwand bald darauf zwischen den herauseilenden Schülern. Das letzte Buch landete in dem Spind, ehe sie ihn schloss und sich dagegen lehnte. Chloe machte die Augen zu und versuchte ihr wild rasendes Herz zu beruhigen. Als sie die Augen wieder öffnete, wurde sie von einem Schwindel erfasst, der sie fast von den Füßen riss. Dann holten sie die Bilder ein. Aaron, wie er sie am Arm packte. Aaron, wie er sie gegen die Wand schleuderte. Aaron, wie er ihre Mutter vergiften wollte. Aaron, wie er ihrer Mutter die Wange aufschlitze. Aaron, wie er ihr das Messer an die Kehle hielt. Aaron, wie er sie als Geisel nahm. Sie nahm eine Hand und presste sie gegen ihre Stirn, doch dadurch verschlimmerte sie nur die Kopfschmerzen. Jemand ergriff ihre Hand und zog sie in eine Umarmung. Es stoppte die Bilder, die auf sie einprasselten. War Taylor zurückgekommen? Chloe schluchzte auf und löste sich aus den Armen, die sie festhielten.
„Schön, dass du zurückgekommen bist-", sagte sie. „Tim?", fügte sie noch hinzu, als sie bemerkte, dass gar nicht Taylor vor ihr stand.
„Bin ich etwa nicht gut genug?" Er wackelte mit den Augenbrauen und brachte sie so zum Lachen.
Sie boxte ihm spielerisch gegen den Oberarm. „Aua. Gehen wir in die Cafeteria?", fragte er schließlich.
In dem großen Saal angekommen, schlängelten sie sich zwischen Tischen, Stühlen und Schülern vorbei, um sich für das Essen anzustellen.
„Ich habe so großen Hunger." Tim zog eine Grimasse und tätschelte sich seinen Bauch.
„Du hast gerade in Bio gegessen, weil du es nicht mehr bis zur Pause geschafft hast." Chloe schob ihren Rucksack, den sie auf dem Boden abgestellt hatte mit dem Fuß an, um die Reihe weiter aufzurutschen.
„Das haben meine Muskeln schon verbrannt." Er hob die Arme im rechten Winkel an und tat so, als würde er seine Oberarme küssen.
„Idiot." Chloe biss sich auf die Lippe, um ein aufkommendes Lachen zu unterdrücken.
Sie kamen an die Reihe, bestellten und setzten sich anschließend mit ihren gefüllten Tablets zu ihren Freunden. Chloe rutschte auf den Platz zwischen Ella und Taylor.
„Da bist du ja endlich." Taylor legte ihr besitzergreifend den Arm um die Schulter und drehte ihren Kopf zu ihm, um sie zu küssen.
Sie ließ es geschehen, war aber nicht wirklich bei der Sache. Das was im Flur passiert war, beschäftigte sie immer noch. Taylor hatte inzwischen begonnen ihren Hals mit seinen Lippen zu berühren. Schon waren die Bilder von Aaron wieder da, denn er gelangte an die Stelle, die seine Klinge einst berührte. Sie keuchte auf und sprang vom Stuhl auf. Ihr Keuchen schien aber ein kleiner Schrei gewesen zu sein, denn als sie sich umsah, bemerkte sie unzählige Augenpaare, die den Blick auf sie richteten.
„Was guckt ihr alle so?", rief sie und verließ die Cafeteria und rannte zur Mädchentoilette, wo sie sich in einer der Kabinen einschloss.
Ihr war übel und sie beugte sich über die Kloschüssel, trotzdem konnte sie sich nicht übergeben. Sie gab nur einige Würgelaute von sich und gab es dann auf. Zitternd lehnte sie sich gegen die Trennwand zur Nebentoilette, bis sich ihr Schritte näherten.
„Chloe?", fragten drei Stimmen.
Sie antwortete nicht, vielleicht, weil sie keine Kraft mehr hatte, vielleicht gehorchte ihr die Stimme nicht mehr. Eigentlich wusste sie es in dem Moment selbst nicht so genau.
„Wir treten alle Türen ein, wenn du uns nicht antwortest!" Amy hämmerte gegen eine der Kabinentüren, wie um ihre Aussage zu bekräftigen.
Chloe stand auf und entriegelte die Tür, die sie dann einen Spalt breit öffnete. Kurze Zeit später drängten sich Ella, Amy und Tim zu ihr in die Kabine.
„Ist doch eigentlich ganz gemütlich hier." Amy machte es sich im Schneidersitz auf der zugeklappten Toilette gemütlich.
„Du hast gut reden, du machst dich hier doch so breit. Wir haben gar keinen Platz." Tim versuchte sich schmaler zu machen, indem er seine Arme näher an seinen Körper zog.
Chloe blieb stumm und drückte sich mit ihrem Rücken fester an die Wand.
„Möchtest du reden? Wir hören dir zu." Amy beugte sich mit ihrem Oberkörper nach vorn und blickte ihr in die Augen.
„Ich weiß nicht. Er ist einfach überall in meinem Kopf." Sie griff sich mit beiden Händen in die Haare. „Ich halt das nicht mehr aus."
„Können wir was für dich tun?" Tim legte den Kopf schief.
„Behandelt mich einfach normal. Ansonsten wäre eine Umarmung nicht schlecht." Chloe zwang sich dazu zu grinsen und merkte, wie sie sich etwas beruhigte.
„Gruppenkuscheln!", rief Amy und schubste alle zusammen.
„Danke." Chloe sah sich in der Kabine um. „Wo ist eigentlich Taylor?"
Tim verzog kurz das Gesicht, bei der Erwähnung seines Namens. „Rede am besten selbst mit ihm, wenn ihr euch seht."
Nach der Schule stiegen Ella und Chloe zu Taylor in den Wagen.
„Sag mal, spinnst du? Wie konntest du mich nur so vor allen bloßstellen? Schüler haben mich angesprochen und gefragt, was ich dir angetan habe." Er schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad.
„Tut mir leid." Chloe ließ die Schultern sinken und schaute aus dem Fenster.
„Das sollte es auch. Weißt du wie peinlich das für mich war?" Er hupte, da ein anderes Auto ihm die Vorfahrt nahm. „Vollidiot", rief er und schlug erneut auf sein Lenkrad ein.
„Das mit Aaron nimmt mich halt ziemlich mit." Sie zerrte an einem Stück Haut neben ihren Fingernägeln.
„Reiß dich halt eben zusammen. So schwer kann das doch nicht sein." Er bog in ihre Einfahrt ein und hielt schließlich an.
Die Haut löste sich und hinterließ ein Pochen an der Stelle. Einmal fuhr sie noch darüber und brachte es so zum Bluten, was sie nicht einmal bemerkte.
„Danke fürs nachhause bringen." Chloe stieg aus und winkte Taylor, der die Geste jedoch nicht erwiderte
Sie sah ihm hinterher, wie er die Einfahrt rückwärts hinausfuhr und schließlich um eine Ecke verschwand.
„Der Typ ist ein Arsch." Ella hatte bereits ihren Hausschlüssel herausgesucht und die Tür aufgeschlossen.
„Nein, stimmt doch nicht." Sie starrte auf ihren Finger hinunter und bemerkte erst jetzt das Blut. „Wie schaffst du es eigentlich so stark zu bleiben? Ich meine, dein Vater und Leonora wurden vor deinen Augen ermordet", platzte es aus ihr heraus.
„Glaub mir, es geht mir nicht besser als dir. Ich habe einfach gelernt vor anderen, meine wahren Gefühle zu verbergen", sagte Ella nachdenklich und schaute dabei auf den Boden.
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Der Spielmeister
Mystery / ThrillerInfo: Dies ist ein zweiter Teil. Um alles verstehen zu können, solltet ihr "Der Wahrheitsfinder" gelesen haben. „Aaron ist tot. Er wurde erhängt in seiner Zelle gefunden." Mila ließ vor Schreck fast ihr Handy fallen, als sie die Worte hörte. Dann...