Scarlett:
Sobald Liv und Leyla mit einem schwachsinnigen Tests der Zeitschrift beschäftigt waren, konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Mary und den Fremden.
Wenige Sekunden lang schaute ich mich in der Seele des Jungen um, bevor ich fündig wurde: Er empfand, gegen die Einschätzungen von Leyla und Liv, nur Freude und Freundschaft, was mich seltsamerweise beruhigte. Marys Freund schien eine fröhliche Natur ohne jeden Hauch von Aggressivität zu sein. „Zu gut, um wahr zu sein. Kann nicht jeder Mensch so ticken?" Dachte ich mir, bevor ich mich wieder auf die Brünette fokussierte. Und... Moment mal, wieso war da nichts? Noch einmal konzentrierte ich meine gesamten Kräfte und schaute in ihre Seele, aber alles, was ich sah, verwirrte mich. Wieso war da ein Nebel? Leicht wie Wolken waberte er um Mary herum, angsteinflößend, aber gleichzeitig beschützend.
Ich schluckte, zitternd folgte mein Blick dem Mädchen und sah, wie sie das Cookieloft durch die dunkelbraune Tür verließ. ES protestierte sofort wieder mit seiner scharfen Stimme: „Du wirst ihr nicht folgen! Hör auf mich, Miststück! Es wird auffallen und zu viel Aufsehen erregen!" Ich schoss den nächsten Gedanken genervt zurück, bevor ich gedanklich erwiderte: „Nein, ich muss mehr wissen!" Die Neugier war eine meiner größten Schwächen und auch jetzt brachte sie mich dazu, aufzustehen, eine Ausrede zu erfinden und das Café mit großen Schritten zu verlassen.
Meine Gedanken rasten hin und her. Auf einmal war die Neue interessanter geworden. Um einiges.
Woher kam sie? Würde sie mir Konkurrenz bei den Jungs machen? Das waren normalerweise meine Standardfragen und wenn dieser Liste an Fragen über sie beantwortet war, hätte mich nichts mehr in ihrer Nähe gehalten, Nachbarin hin, Nachbarin her. Normalerweise. Seit der misslungenen Emotionssuche war allerdings mein Desinteresse gewichen. Das würde kein übliches Frageprotokoll werden, da war ich mir auf jeden Fall sicher. Meine Augen wanderten suchend herum, während eine einzelne Frage in meinem Kopf herumschwirrte, die mich einfach nicht loslassen wollte: Weswegen funktionierten meine Kräfte bei Mary nicht?
Mist, sie war weg! Obwohl bereits die wütende Enttäuschung in mir brodelte, musste ich mich trotzdem beruhigen. „Ruhig Blut, Scarlett." Murmelte ich zu mir selbst. „Du musst ruhig werden." Mein Temperament würde mir in Situation wie diesen nicht weiterhelfen. Deswegen schob ich alle Einwürfe von ES beiseite und konzentrierte meine Sinne darauf, sie zu finden. Wenn sie verflucht war, würde ich sie finden. Wir Verfluchten konnten uns nicht aus dem Weg gehen, egal, ob Dreamjumper oder Nightmarehunter. Der Fluch, der laut Legende ein Magier über unsere Vorfahren gesprochen hatte, beinhaltete neben den Fähigkeiten, Gedanken zu lesen und sich hin und her zu teleportieren –sprich zu „switchen" -, auch die Fähigkeit, andere unserer Sorte zu orten. Und warum es zwei Sorten von Verfluchten mit unterschiedlichen Namen gab? Dazu würde ich später kommen.
Geduldig versuchte ich Mary zu orten, schloss die Augen, flüsterte ihren Namen dreimal, dachte an ihre dunkelblonden Haare, an die graublauen Augen, die mich gestern so unschuldig betrachtet hatten und spürte förmlich, wie ihre Füße in die Erde des Santora Parks eindroschen. Sie rannte, das hieß, sie hatte es eilig. Langsam ging ich ihre letzten Gedanken durch, aber bevor ich sie richtig entziffern konnte, verschwanden sie wieder. Ich hatte mir nur ein paar Wörter gemerkt, ich wunderte mich wieder, wie sie meinen Kräften ausweichen konnte... Egal, was bedeuten „Alex", „Treffen" und „Santora Park"?
Ach, ja ich war echt bescheuert, sie traf anscheinend Alex! Ich kannte die Trulla natürlich nur, weil ich als Schulzicke meinem Ruf alle Ehre machte. Ich kannte jeden einzelnen Schüler, wusste, wie man sie alle um den Finger wickelte. Sie und ihre beste Freundin waren allerdings Ausnahmefälle. Lillian Arrow, Klassenstreberin und zu klug für diese Welt. Ebenfalls Besserwisserin hoch zehn. Alex hingegen hatte eine lockere Persönlichkeit, aber wenn sie einmal über das Tanzen angefangen hatte, zu reden, machte sie Lilly in der Kategorie „Santoras Nervensäge" gleich Konkurrenz. Es überraschte mich nicht, dass die beiden mir nicht gehorchten. Kaum hatte ich die blauen Kraftlinien erkannt, war mir klargewesen warum. Dreamjumper verachteten Nightmarehunter und umgekehrt. An Zusammenarbeit war nicht zu denken, selbst nicht, wenn es darum ging, vor der Polizei wegzurennen, die beide Völkchen jagte.
Ich schüttelte kurz den Kopf und somit meine Gedanken beiseite, Ablenkungen konnte ich mir nicht leisten. Aber zurück zu Mary alias neuer Nachbarin: Es gab nur eine Erklärung für meine Entdeckungen. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Nein, das konnte nicht möglich sein!
Ich konzentrierte mich wieder auf mein Zuhause und fühlte wieder, wie die Energie des Switchens mich umgab, als ich mich rasend schnell durch Zeit und Raum bewegte. Für die, die nicht verstanden hatten, von was ich sprach, erklärte ich es nochmal: Switchen, das nannten wir Nightmarehunter, was die meisten „Teleportation" nennen würden- Es war so ziemlich dasselbe. Irgendein alter Hipster hatte mal in den 70er Jahren den Slang erfunden, da wir mithilfe dieser Eigenschaft den Ort wechselten. Das Wort Wechseln bedeutete im Englischen Switchen und ließ sich schneller aussprechen als Teleportieren, also dauerte es nicht lange, bis das Wort zur Umgangssprache der Verfluchten gehörte.
Zu Nightmarehunter gab es viel zu erzählen. Da ich mir nicht die Mühe machen wollte, ein ganzes Verfluchtenlexikon zu zitieren, fasste ich es kurz zusammen:
Nein, Nightmarehunter waren keine Fabelwesen weder Vampire noch Werwölfe, viel schlimmer, furchteinflößender solltet ihr sie euch vorstellen! Scherz beiseite, wir sahen nicht viel anders als die normalen Menschen aus. Aber Aussehen war nicht alles. Es steckte innendrin, wer man war und vor allem WAS. Ob ich mir aussuchen könnte, was ich war? Die Antwort lautete wie jedes Mal: NEIN, selbst wenn ich es wollte! Und wodurch diese Art von Verwandlung zu so einem Wesen passiert war? Oh Gott, diese Frage würde ich keinem beantworten, es war schon schrecklich genug, dieses Wissen zu besitzen.
Emotionen anderer Menschen und Nightmarehunter zu lesen war ein Bonus zu meinen bereits existierenden Kräften. Warum ich es konnte und woher ich es gelernt hatte, wusste ich selbst nicht so ganz. Ich ging nach dem Motto „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul" und nutzte die Kräfte dazu, um wenigstens etwas Kontrolle über mein Leben zu haben. Apropos Kontrolle...Schluss mit den Selbstgesprächen! Ich musste auf der Stelle mehr über die Verfluchte herausfinden. Warum? Einer der Gründe, warum ich mehr über sie wissen wollte, war dieser: Normalerweise war keiner der Neulinge verflucht. Dazu müsste er oder sie hier geboren worden sein. Na ja, der Nachname Raventhorn klang nicht gerade ausländisch, also musste sie zumindest kanadische Wurzeln haben, oder?
Ich ging ohne einen weiteren Gedanken in mein Haus und dachte: „Ich muss, da nun die Raventhorns eingezogen sind, mehr aufpassen, was ich tue und vor allem, wo ich es tue. Nightmarehunter waren noch nie besonders erwünscht in Santora, aber daran waren wir eigentlich selbst schuld. Die Frage ist: Wann lässt sich unser Stolz, es zuzugeben, überwinden?"
Ich schloss meine Augen und führte eine Mentaldiagnose meines Hauses durch. Mentaldiagnose, das war die Kraft des Feststellens anderer Personen um mich herum. Auch sehr praktisch, wenn man etwas tun wollte, was keiner sehen sollte. Ich war nun in meinem Zimmer und hatte wieder den perfekten Blick in das der Brünette. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie noch keinen so guten Schutz und ich hatte ein paar Sachen bei ihr feststellen können: Mary war ziemlich schüchtern, sie stand nicht gerade als Gefahr dar, jedenfalls nicht zu groß, ich konnte sie ganz leicht kontrollieren, wenn ich wollte, aber Wollen...nein, genau das erregte auch zu viele Aufmerksamkeit und genau das konnte ich nicht gebrauchen. Erst recht nicht von ihr. Ohne es glauben zu wollen, hatte ich schon wieder einen Grund gefunden, weiterhin von ihr fern zu bleiben: Auch sie hatte Kräfte, noch nicht stark, eher schwach, jedoch markierten genau diese Kräfte Mary deutlicher als es ihr lieb war.
Mit jeder neuen Überlegung, wer Mary Raventhorn wirklich sein könnte, bildete sich in mir eine erschütternde Vermutung.
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The Haunted Ones 1: Dreams and Nightmares (GirlxGirl) (GirlxBoy)
FantasyWird aktuell verbessert und umgeschrieben! "Du denkst, dein Leben ist kompliziert? Werde eine von uns und sehe, wie sich dein Leben verändert, bis nichts mehr so ist, wie es einmal war..." Santora, Hauptstadt des furistischen Kanadas, mit über Taus...