Fourty-One | Spiegel der Wahrheit | XLI

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PoV. Leo

Ich starre das Meer an. Im Dunkeln sieht es aus wie heißer Teer, der sich der Schwerkraft beugt. Der Mond glitzert hell auf dem Gischt und verleiht dem ganzen eine geisterhafte Note. Die Pinien und Palmen sind erstarrt, als wären sie gefroren. Doch all das sehe ich nicht wirklich. Ich habe geträumt. Ich habe alles geträumt. Was passiert ist. Meine Erinnerungen haben sich zusammengefügt. Das verdrängte kam zurück. Und ich weiß nun, was passiert ist. Ich kann es so deutlich vor mir sehen, als wäre es gestern. Ich sehe diese Räume. Diese Menschen. Diesen Lichtstreifen. Die Tür, den Gang...

In einem einzigen Traum habe ich alles nochmal durchlebt. Ich schlage mit einer Faust gegen die Glaswand des Dachbodens, vor der ich stehe. Was haben sie mir nur angetan? Was haben sie den anderen Omegas angetan? Diese verdammten Alphas! Diese schrecklichen Menschen! Ich sehe nach oben. Der Mond ist eine dünne Sichel. Und doch ist er so hell, dass jedes Objekt in Nikitas akribisch gepflegten Garten einen langen Schatten wirft. Ich wende mich vom Fenster ab und stapfe leise die Treppe hinunter, bedacht Nikita nicht zu wecken. Als ich im Wohnzimmer ankomme fällt mir jenes Bild ins Auge.

Vorsichtig tapse ich durch die Dunkelheit. Der Weihnachtsbaum riecht ungewohnt. Doch ich ignoriere ihn. Das Bild ist fast gar nicht zu erkennen. Ich kneife die Augen zusammen, um Nils' Gesichtszüge zu erkennen. Es ist, als würde ich in einen Spiegel schauen. Es ist, als würde ich mich selber sehen. Und auf einmal verstehe ich den unendlichen Schmerz, den Nikita gefühlt haben muss. Der Gedanke, dass Nils in einem dieser Lager sein könnte, in denen ich auch war. Die ständige Ungewissheit, das ständige Warten auf gar nichts. Und natürlich Silverstones Schmerz. Ich sehe zu Boden. Dann wieder hoch. Ich streiche sanft über den Rahmen des Bildes.

Ein junges Paar wurde so gewaltsam zerrissen. Es ist schon interessant, wie viele Schicksaale von den Entscheidungen von Jessie Harvey vergiftet wurden. Ich schüttle den Kopf und wende mich der Terrassentür zu. Sachte öffne ich sie und trete in die angenehm milde Nachtluft. Die Wellen rauschen nur leise. Man hört keine Grillen zirpen. Kein Wind rauschen. Es ist still, ruhig, ausgependelt. Und doch tobt in mir ein Krieg. Ein Krieg, dessen Oberfläche ich eigentlich nur als Visionen und Albträume kannte. Wie ein See, in dem ein Ungeheuer wohnt. Doch irgendjemand warf einen Stein hinein.

Ich trabe zur Mauer auf der anderen Straßenseite und setze mich darauf. Der Mond ist mir gegenüber. Er strahlt eine merkwürdige Verbundenheit aus. Als würde er mir etwas sagen wollen. Etwas, dass nur ich wissen kann. Etwas, das mit meinem tiefsten inneren Verknüpft ist. Doch ich kann nicht genau sagen, was es ist. Ein ungewöhnlich kalter Schauer fährt meinen Rücken herab und ich fröstle kurz. Dann ist die Wärme zurück. Ich drehe mich um und sehe Nikitas kleines Häuschen an. Wer hätte gedacht, dass in diesem Haus einmal die größte Tyrannin und Verbrecherin der Zeit aufwachsen würde?

...

PoV. Scott

Ich liege in meinem Bett und starre die Decke an. Mein Kopf brummt. Wie ein Insektenschwarm kreisen die Gedanken unaufhörlich. Jason und Rae, mein Vater... der große Rat, Alypolis, Leo. Ich schlage mir die Hände vor das Gesicht und setze mich wieder auf. Ich kann nicht schlafen. Der Mond ist nur eine dünne Sichel. Sein trübes Licht dringt seit gefühlten Jahren endlich noch einmal durch die Wolkendecke, die unermüdlich Schnee fallen lässt. Ich drehe mich ruckartig um und befehle mir innerlich, endlich zu schlafen. Doch nach zwei Sekunden richte ich mich wieder auf.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett und lasse mich auf den Boden sinken, um Liegestütze zu machen. "Du hast Verlustängste", zische ich den Boden an. "Bla bla, ich bin Jason, ich weiß alles", zische ich weiter zwischen den einzelnen Belastungen. Nach fünfzehn Liegestützen lasse ich mich komplett zu Boden sinken. Meine Muskeln könnten deutlich mehr, doch gibt mir das Gefühl der Anstrengung keine Befriedigung dieses furchtbar stechenden Gefühls. "Du musst es akzeptieren", äffne ich Jennys Stimme nach. Dann schüttle ich den Kopf und richte mich auf. Normalerweise würde ich jetzt Jason anrufen. Doch der Typ kann mich mal. Soll er weiter mit Rae Spaß haben.

Different Worlds 🔁 | BoyxBoy OmegaverseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt