Kapitel 7

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Nicky

„Toll gemacht, Nicky. Wirklich großartige Leistung", murmelte ich mir zu. Ich hatte ein Déjà-vu. Gefesselt lehnte ich an einem Baum inmitten einer Lichtung. Ich musste mitansehen, wie Jake eine junge Frau vor meinen Augen zerfleischte.

Es war einfach schrecklich. Ich konnte nichts tun. Tränen flossen über meine Wangen und ich schrie ihn an. Ich flehte ihn an, endlich aufzuhören und stattdessen mich zu nehmen. Ja, ich weiß, nicht gerade das Klügste, das man sagen konnte, aber ich fühlte mich so machtlos. Ich konnte der armen Frau nicht helfen.

Immer wieder sah sie verzweifelt zu mir und ihre Augen, sie waren voller Angst. Als es vorbei war, zerrte er sie weg. Vermutlich wollte er die Leiche irgendwo anders ablegen und dann am nächsten Tag als Officer Bender entdecken und anschließend melden. Ich könnte mich ohrfeigen, dass mir nicht früher aufgefallen war, dass ER ein Werwolf war.

Verdammte Scheiße! Wütend auf mich selbst zerrte ich an meinen Fesseln, doch ich bewirkte nichts. Stunden vergingen und immer noch saß ich allein auf dieser Lichtung. Jake war nicht wieder aufgetaucht. Ich hoffte, dass er sich nicht noch ein unschuldiges Mädchen suchte. Als ich hinter mir Schritte hörte, zog ich scharf die Luft ein. Er kam zurück.

„Daria, mein Schätzchen", säuselte Jake und hockte sich vor mich hin. Voller Verachtung starrte ich ihn an.

„Mein Name ist nicht Daria und ich bin auch ganz sicher nicht dein Schätzchen", ich spuckte ihn an. Er schloss die Augen und atmete tief durch.

„Das hättest du nicht tun sollen...", flüsterte er trocken und schlug mir ins Gesicht. Mein Kopf fiel zur Seite und ich unterdrückte einen Aufschrei. Die Genugtuung wollte ich ihm nicht geben. Ich spürte, wie das Blut aus meiner Nase floss und auf meine Kleidung tropfte.

„Macht dich das an? Kleine Mädchen schlagen?", fragte ich provokant. Als Antwort bekam ich nur ein müdes Lächeln seinerseits. Er erhob sich und entfernte sich einige Schritte von mir.

„Du bist kein kleines Mädchen. Du bist eine Jägerin, nicht wahr?", fragte er und drehte meinen Silberdolch in den Händen. Müsste ihm das nicht Schmerzen zufügen? Ich schluckte leicht und zuckte mit den Schultern.

„Die Antwort dürftest du schon kennen", zischte ich und lehnte meinen Kopf zurück an den Baum.

„Du bist eine schlechte Jägerin, wenn ich das mal so sagen darf", er grinste mich an und deutete auf die Fesseln.

„Und du bist ein Arsch, wenn ich das mal so sagen darf", machte ich ihn nach. Jake lachte kurz und schüttelte den Kopf. „Was hast du jetzt mit mir vor? Bin ich dein Nachtisch?"

Ich versuchte, so mutig wie möglich zu klingen. Auch wenn er ein Werwolf war und wahrscheinlich meine Angst riechen konnte, wollte ich es nicht so offensichtlich zur Schau stellen.

„Nein, ich werde dich nicht fressen", grinsend legte er seinen Kopf schief und leckte sich über die Lippen. Er kam wieder auf mich zu und beugte sich zu mir herunter.

„Der andere Werwolf, den du getötet hast, das war mein Bruder", hauchte er in mein Ohr und im nächsten Moment stieß er das Messer in meinen Bauch.

Schmerzhaft schrie ich auf. Ich kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Ein schier nicht enden wollender Schmerz durchfuhr meinen Körper. Tränen, vermischt mit Schweiß und Blut, flossen über mein Gesicht. Ich war so sehr mit meinen Schmerzen beschäftigt, dass ich erst einige Augenblicke später mitbekam, dass sich dieses Arschloch aus dem Staub gemacht hatte. Er hatte mich hier allein zum Sterben zurückgelassen.

„Reiß dich zusammen, Nicky!", murmelte ich zu mir selbst und versuchte, einigermaßen ruhig zu atmen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick nach unten wandern und bereute es sofort wieder. Das Messer steckte immer noch in meinem Bauch. Mir wurde schlecht.

Krampfhaft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten, doch ich schaffte es nicht. Es tat verdammt weh und ich hatte wirklich Mühe, nicht ununterbrochen zu schreien. Verfluchte Scheiße! Ich würde hier krepieren! Kraftlos lehnte ich den Kopf zurück an den Baum und schloss die Augen. Wenn bloß mein Vater hier wäre. Er wusste immer, was zu tun war und hatte auch noch in der aussichtslosesten Situation einen Plan parat. Genau den bräuchte ich jetzt auch.

„Dad...", murmelte ich schwach. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn, meinen Vater. Ich vermisste ihn. Er brachte mir das Schießen bei und lehrte mir das Spurenlesen. Zumindest hatte er es versucht. Nachdem ich auch beim gefühlt hundertsten Mal einen Bären nicht von einem Hoppel Häschen hatte unterscheiden können, hatte er aufgegeben.

Auch, wenn ich im Fährtenlesen eine absolute Niete war, war er nie enttäuscht von mir gewesen. Ich gab schließlich mein Bestes. Nachdem meine Mutter gestorben war, war ich alles, was er noch an Familie hatte. Und mir ging es nicht anders. Abgesehen von meinem Vater hatte ich niemanden. Niemanden, den ich um Rat, Hilfe oder Unterstützung hätte fragen können.

Umso schmerzhafter war es für mich gewesen, als auch er plötzlich weg war. Einfach weg. Naja, er war nicht einfach weg. Er war tot. Herzversagen, sagten die Ärzte. Bullshit, sagte ich. Ich glaubte nicht an einen Herzinfarkt! Ich hatte das Gefühl, dass da noch etwas anderes war.

Tage, oder sogar Wochen vor seinem angeblichen Herzinfarkt, fing er an, sich seltsam zu verhalten. Er machte Erledigungen und führte elendslange Telefonate mit Menschen, denen er sonst am liebsten eine Kugel zwischen die Augen verpasst hätte. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich geglaubt, dass er sich verabschieden wollte. Aber wusste ich es denn besser?

Womöglich hatte er schon Wochen vor seinem Tod geahnt, dass er sterben würde. Den eigenen Tod so lange vor Augen zu haben, war sicher nicht einfach für ihn gewesen. Allerdings war es auch nicht gerade einfach für mich. Plötzlich hatte ich niemanden mehr und war ganz allein. So wie ich auch jetzt ganz allein war. Gefesselt an einen Baum, mitten im Wald, mutterseelenallein.

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt