Kapitel 22

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Dean

Fasziniert beobachtete ich Cas, wie er mit weißer Kreide eine Sigille auf den Boden malte. Wir hatten uns fieberhaft überlegt, wie wir Gabriel herbeirufen konnten, doch das war sogar für Cas nicht möglich. Aber was nicht unmöglich war, war, einen guten Freund von unserem Erzengel aufzuspüren. Balthazar. Womöglich konnte er uns weiterhelfen. Als er die Sigille fertiggezeichnet hatte, stellte er eine Schüssel in ihre Mitte und sah mich daraufhin nachdenklich an.

„Gib mir deine Hand", forderte er mich auf.

Warum zum Teufel wollte er meine Hand? Wollte er etwa Händchenhalten? Mit hochgezogenen Augenbrauen streckte ich ihm meine Hand entgegen und spürte im nächsten Moment, wie er mir mit seiner Engelsklinge in die Haut schnitt. Autsch!

„Ähm... Cas? Warum tust du das?", fragte Sam leicht skeptisch und beobachtete, mit etwas Sicherheitsabstand, das Schauspiel vor ihm. Das Blut, welches über meine Handinnenseite floss, tropfte langsam in die Schüssel.

„Menschliches Blut", gab der Engel selbstverständlich zurück.

„Ja, klar... warum denn auch sonst", zischte ich sarkastisch und zog meine Hand wieder zurück, als Castiel mir ein Zeichen gab, dass er genug Blut hatte. „Man könnte auch einfach fragen", murmelte ich und drückte ein Tuch, welches mir Sam netterweise zugeschmissen hatte, auf den Schnitt.

„Was ist das denn für ein Zeug?", fragte ich angewidert, als Cas einige Brocken aus seiner Jackentasche holte und in die Schüssel mischte.

„Das ist Myrrhe", antwortete Sam statt dem Engel und sah mich kopfschüttelnd an. Ich zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, mir nicht die Frage zu stellen, warum zum Henker Cas Myrrhe in seinem Trenchcoat hatte.

„Natürlich, das wusste ich", log ich und versuchte zu verbergen, dass ich keinen Schimmer hatte, was dieses wandelnde Lexikon von sich gab.

„Gib mir deinen Flachmann", forderte der Engel mich auf und streckte seine Hand aus. Warum immer ich? Sam war doch auch noch da!

„Weihwasser oder Schnaps?", stellte ich ihn vor die Wahl und grinste kurz, als ich in meine Jackeninnentasche griff und beide Flachmänner herausholte.

„Ich denke kaum, dass er deinen billigen Schnaps meint", neckte mich Sam lächelnd.

„Alter! Das ist kein Billigfusel!", knurrte ich ihn an und reichte dem Engel das Weihwasser, während ich den anderen Flachmann öffnete und genüsslich trank. Cas schraubte das Behältnis auf und schüttete es in die Schüssel, während er anfing, einen henochischen Zauberspruch aufzusagen.

„Zod ah mah rah nah ee es lah mo pah ah hee gee roh sah le eks lah", murmelte er und goss immer mehr Weihwasser in die Schüssel.

Als er die Zauberformel fertig gesprochen hatte, begann der Inhalt der Schüssel zu rauchen und vor sich hin zu zischen. Ich wich etwas zurück und verstaute meinen Schnaps wieder in der Jackentasche. Castiel kniete nun wortlos daneben und blickte in die Schüssel, ehe er scheinbar auf mentalem Wege eine Eingebung bekam. Er kniff die Augen zusammen und riss seinen Kopf herum.

„Gehen wir", sagte er, während er aufstand und zur Tür schritt. Fragend sah ich meinen Bruder an. Was war das denn?

„Cas, wir können noch nicht gehen. Wir müssen zuerst... was machen wir mit ihr?", warf Sam ein und legte seine Stirn besorgt in Falten, ehe er seinen Blick auf Nicky richtete, die mittlerweile seelenruhig auf einem der Betten lag. Sie sah so friedlich aus. Ich hatte sie auf mein Bett gehoben und ihre Augen behutsam geschlossen. Nun wirkte es so, als würde sie schlafen statt tot zu sein und ich musste ihre leeren Augen nicht mehr ertragen.

„Wir können sie nicht einfach hierlassen", fügte ich hinzu und fuhr mir nachdenklich durch die Haare.

„Wir können sie aber auch nicht mitnehmen", erklärte der Engel und blickte mich eindringlich an. Natürlich wusste ich, dass wir sie nicht mitnehmen konnten, doch ich wollte sie nicht einfach zurücklassen.

„Ich bin ganz Ohr für eure Vorschläge", sagte ich und richtete meinen aufmerksamen Blick nun auf die beiden Männer vor mir.

„Wir könnten sie zu Bobby bringen", schlug mein Bruder vor und sah mich schulterzuckend an. Ich überlegte kurz und nickte dann zögernd.

„Cas kann sie zu Bobby bringen und anschließend werden wir Balthazar einen Besuch abstatten", meinte mein Bruder und sah den Engel dabei mit Nachdruck in den Augen an. Dieser nickte bestätigend und zupfte an seinem Mantel.

„Nein", hauchte ich und drehte meinen Kopf wieder zur Leiche. „Ihr zwei geht zu Balthazar und ich bring sie zu Bobby", erklärte ich mit ruhiger Stimme und stand langsam auf.

„Dean, das ist wirklich nicht nötig. Cas kann sie einfach zu Bobby zappen und ist in ein paar Sekunden wieder da und dann..."

„Es ist aber nötig, für mich! Ich bring sie zu Bobby und ihr übernehmt Balthazar, kapiert?", fuhr ich meinen Bruder wütend an und hob dabei die Hand.

„Dean...", fing er an, doch ich unterbrach ihn forsch.

„Ich bin der ältere von uns beiden! Tu gefälligst, was ich dir sage!", befahl ich ihm streng und erntete dafür einen amüsierten Blick.

„Und ich bin der größere, also lass ich mir von dir keine Befehle erteilen", konterte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Alter vor Schönheit, Sammy... Alter vor Schönheit", flüsterte ich und kramte den Autoschlüssel aus meiner Tasche.

„Kannst du überhaupt fahren? Du hast die halbe Whiskyflache geleert und gerade auch einen, nicht gerade kleinen, Schluck von deinem Billigfusel getrunken. Ich denke, es wäre vernünftiger, wenn du dir das nochmal überlegst", meinte mein Bruder besorgt. Vernünftig? Wann war ich denn je vernünftig gewesen?

„Ruft mich an, wenn ihr neue Infos zu Balthazar oder Gabriel... oder was auch immer habt", wies ich sie, ohne auf die Bedenken von Sam einzugehen, an und schritt auf das Bett zu. Im Brautstil hob ich die Leiche hoch und drückte sie so nah an mich, dass ihre blutigen Haare mein Gesicht streiften.

Sam warf mir einen mitleidigen Blick zu, doch er versuchte nicht mehr, mir meinen Plan auszureden. Vermutlich war ihm klar geworden, dass es keinen Sinn hatte, mit mir zu diskutieren. Er kam auf mich zu und half mir mit den Taschen, da ich ja wortwörtlich keine Hand mehr frei hatte. Sam belud den Impala und ich legte Nicky behutsam auf den Rücksitz, während Cas teilnahmslos danebenstand und uns beobachtete. Da es schon recht merkwürdig war, eine Leiche spazieren zu fahren, warf ich eine Decke über sie und hoffte, dass ich nicht in eine Polizeikontrolle geraten würde. Sollte ich doch in eine kommen, dann hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich den Cops diesen Umstand erklären sollte.

„Grüß Bobby von mir", bat Sam und umarmte mich zum Abschied.

„Pass gut auf dich auf und tu nichts, was ich nicht auch tun würde", murmelte ich und drückte meinen kleinen Bruder fest an mich. Er lächelte mich kurz an und bat mich, auch auf mich acht zu geben, ehe er wieder zurück ins Motel ging. Cas und er würden noch das Chaos beseitigen und anschließend Balthazar aufsuchen. Ich hoffte, dass er uns weiterhelfen konnte. Wir mussten Gabriel unbedingt finden, denn er war unsere einzige Chance.

„Danke, dass du das für uns... für mich tust", sagte ich leise zu Cas und kniff dabei die Augen etwas zusammen, da die aufgehende Sonne mich blendete. Der Engel trat an mich heran und legte seine Arme um mich.

„Es gibt nicht viel, was ich nicht für euch, oder für dich, tun würde", erwiderte er und zog mich in eine brüderliche Umarmung.

Ich war ihm so dankbar für seine Hilfe. Nachdem wir uns wieder schweren Herzens von einander gelöst hatten, stieg ich in den Wagen, umklammerte das Lenkrad mit festem Griff und fuhr los. Mit einem zögernden Blick in den Rückspiegel betrachtete ich den verdeckten Körper von Nicky. Der Anblick schmerzte in meiner Brust, doch ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Die Schuldgefühle kämpften sich wieder in mir hoch und ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Augen mit Tränen füllten.

„Es tut mir wirklich so leid, Kleines", hauchte ich und wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. „Wir... ich hätte dich beschützen müssen und niemals zulassen dürfen, dass das alles passiert", murmelte ich und richtete meinen Blick wieder auf die Straße. „Wir biegen das wieder hin, hörst du? Wir holen dich zurück und dann... dann gehen wir in eine Bar und lassen uns volllaufen!", entschied ich entschlossen und nickte zufrieden.

Ja, das war ein guter Plan. Ich, nein, wir alle hatten uns danach wirklich ein ordentliches Besäufnis verdient. Ich warf noch einen letzten Blick in den Rückspiegel, bevor ich mich nur noch auf die Straße vor mir konzentrieren wollte.

„Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzten, wenn es sein muss, aber ich werde dich nicht aufgeben! Ich hol dich zurück... und wenn es das Letzte ist, was ich tue."

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt