Kapitel 27

77 3 0
                                    

Nicky

Chaos. In meinem Kopf herrschte nur Chaos. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was hier eigentlich los war, aber ich wusste, dass irgendetwas gewaltig schief lief.

„Crowley, der König der Hölle, hat also unsere Realität verändert?", fragte mein Dad ungläubig und schüttelte dabei seinen Kopf, während er die beiden Männer vor uns anstarrte.

Der größere von beiden, sein Name war Sam, nickte bestätigend und sah mich dabei komischerweise mit so einem mitleidigen Blick an. Wieso glotze er denn so? Mein Kopf schmerzte von den ganzen Infos, die ich gerade um die Ohren geworfen bekam. Das konnte doch nicht alles wirklich passiert sein, oder? Mein Traum war also Wirklichkeit geworden. Na ja, eigentlich war es kein Traum gewesen, sondern die Realität. Die andere, wirkliche Realität und nicht diese, in der ich mich gerade befand. Mein Kopf brummte.

„Alles okay?", fragte Dean und riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf und nickte kaum merklich.

„Also, dieser Crowley, hat unser Leben verändert, weil ich sonst draufgegangen wäre?", fasste ich die Kernaussage zusammen und biss mir dann auf die, mit schwarzem Lippenstift geschminkten, Lippen.

„Er ist scheinbar soweit in der Vergangenheit zurückgereist, damit er deinen Vater davon überzeugen konnte, dich nicht zu einer Jägerin zu erziehen, sondern dir ein normales Leben zu schenken und das eine führte zum anderen und nun... sind wir hier, wo wir eben sind", erklärte Dean etwas holprig und fuhr sich durch die kurzen Haare.

„Und du hast davon gewusst und mir nie davon erzählt?", fragte ich meinen Vater gekränkt. Wie konnte er mir so eine wichtige Information vorenthalten?

„Nicky, ich... es gab keine andere Möglichkeit", seufzte er und legte seinen Kopf bittend zur Seite. „Es tut mir leid, Kleines, aber Crowley hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass es nur so geht. Er hat mir die Zukunft gezeigt und... das, was ich gesehen habe, war einfach nur furchtbar", hauchte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
So kannte ich meinen Dad gar nicht. Er war zwar nie der richtige Obermacker gewesen, aber so sensibel hatte ich ihn noch nie erlebt. Na ja, noch nie war vielleicht auch übertrieben, aber es war auf jeden Fall ein seltener Anblick.

„Und du hast das Jägerleben seit dem Vorfall mit Crowley an den Nagel gehängt?", wollte Sam wissen und richtete sein Augenmerk auf meinen Vater.

„Vor langer Zeit, ja... und ich bereue es jeden Tag", gestand er leise.

„Du scheinst doch hier das perfekte Leben zu führen, warum willst du das hier gegen Monster und Tod eintauschen?", fragte Dean verständnislos und schwenkte seinen Blick zwischen meinem Vater und mir hin und her.

„Die Menschen, die ich nicht gerettet habe, weil ich eben kein Jäger bin! Jedes Mal, wenn ich die Zeitung aufschlage und von einem Tierangriff lese, der offensichtlich kein Tierangriff war, dann kommt in mir dieser Drang hoch, dass ich mir auf der Stelle mein Gewehr schnappen und dieses Monster, oder welches Ding das auch immer ist, töten will. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich mehr tun kann, mehr tun muss. Ist das nicht meine Pflicht als Jäger? Die Unschuldigen und Schwachen vor Monstern zu schützen und zu retten? Das Jägerleben liegt uns einfach im Blut und der Tod ist ein Teil davon. Ich kann nur zu gut verstehen, warum ich in dieser anderen, ursprünglichen Realität den Deal mit diesem Dämon gemacht habe und das Leben meiner Tochter damit gerettet habe. Ich würde es immer wieder tun... na ja... nur eben nicht in dieser Realität", klärte er uns mit lauter, ernster Stimme auf und zum Abschluss schlug er seine Faust auf den Tisch.

Erschrocken über die Lautstärke und auch über die Aussage fuhr ich leicht zusammen. Das waren also die innersten Gedanken meines Vaters. All die Jahre hatte ich keine Ahnung davon. Es verletzte mich, dass er mir nie davon erzählt hatte. Es wäre doch nicht nötig gewesen, diese ganze Last auf seinen Schultern zu tragen. Zumindest nicht allein. Ich hätte ihm doch helfen können. Traute er mir das nicht zu?

Ohne mir noch länger den Kopf darüber zu zermartern, sprang ich vom Stuhl hoch und lief nach draußen auf die Veranda. Ich musste das ganze erst einmal verarbeiten. Kaum war ich ins Freie gestolpert, knallte ich die Tür hinter mir zu und ging einige Schritte zur Seite, nur um mich dann an der Wand hinuntergleiten zu lassen.

Niedergeschlagen lehnte ich meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Ich atmete tief durch und versuchte, meine Gedanken zu ordnen, während die Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmten. Die Minuten vergingen und ich saß einfach nur da, als plötzlich die Wärme auf meinem Gesicht verschwand und ich eine Verdunkelung vor mir wahrnahm.

Ich öffnete die Augen und dachte, dass entweder mein Dad oder einer der anderen zwei Typen vor mir stehen würde, doch dem war nicht so. Ein mir unbekannter Mann mit zerzausten Haaren und beigem Mantel hatte sich vor mich gestellt und versuchte, mich anzulächeln. Die Betonung lag auf versuchte, denn es wirkte sehr gezwungen und es war kein Hauch von Freundlichkeit zu sehen.

„Hallo, Nicky", begrüßte er mich mit ruhiger Stimme.

„Hallo fremder, unheimlich wirkender Kerl", murmelte ich ihn an und hielt mir die Hand vor die Augen, da er einen Schritt zur Seite machte und so die Sonne wieder in meine Richtung schien.

„Du kennst mich nicht", stellte er fest und ging einige Schritte vor mir auf und ab.

Ich nickte nur bestätigend und beobachtete den Kerl genau. Nachdem er fast ein Loch in den Boden gelaufen hatte, blieb er stehen und hockte sich vor mich hin. Ehe ich reagieren konnte, legte er seine Hand auf meine Stirn und eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus.

„Crowley hat ganze Arbeit geleistet", murmelte er zu sich selbst und nahm anschließend seine Hand wieder weg.

„Wer oder was bist du?", fragte ich zögernd wischte mir übers Gesicht. Seine Hand war ganz schön nass gewesen. Ich hoffte, dass der Kerl einfach nur schwitze.

„Ich bin ein Engel", sagte er und blickte mich ernst an. Ein Engel? Na super. Dämonen, Engel, Jäger und ich? Das war wirklich ein beschissener Filmtitel. Leider war es aber kein Film, sondern mein Leben.
Bevor ich noch etwas sagen konnte, wurde die Haustür geöffnet und Dean kam heraus. Als er den Engel sah, wurde aus seinem ernsten Gesicht ein freudiges und er fiel dem Typen beinahe um den Hals. Scheinbar kannten sich die beiden gut. Ziemlich gut sogar.

„Du bist schneller als der Wind, Cas", meinte Dean und drückte den Engel an sich.

„Wenn du mich rufst, komme ich natürlich." Ja, das tat er bestimmt. Stutzig kniff ich die Augen zusammen und blickte zwischen den Männern umher, die sich gerade wieder voneinander gelöst hatten.

„Und warum genau bist du hier?", fragte ich, während ich mich aufrichtete. Die Männer beachteten mich nicht, sondern unterhielten sich weiter.

„Es ist eine Wand", teilte der Engel Dean mit und legte seine Hand überlegend an sein Kinn.

„Eine Wand, hm? Wie kann Crowley eine Wand erschaffen? Ich dachte, nur der Tod hat so viel Macht", zischte Dean und fuhr sich übers Gesicht. „Kannst du sie entfernen?"

„Ja, das kann ich. Aber es wird schmerzhaft", seufzte er und warf mir dabei einen mitleidigen Blick zu.

„Ich geh mal davon aus, dass es für mich schmerzhaft wird und nicht für dich", murmelte ich und verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln.

„Nicky, es ist deine Entscheidung. Wenn du nicht willst, dann ist das auch in Ordnung und ich greif mir Sam und wir zischen auf Nimmerwiedersehen ab. Aber wenn du wissen willst, was für eine besondere Frau du eigentlich warst... bist und wie viele Leben du gerettet und verändert hast, dann mach es", sagte Dean und blickte mich dabei mit einem flehenden Ausdruck in den Augen an.

„Von einer Skala von Haare ausreißen bis lebendig gehäutet zu werden... wie schmerzhaft wird es?", fragte ich zögernd und wandte mich an den Engel. Im ersten Moment sah er mich etwas verwirrt an, doch als sich Dean sein aufkommendes Grinsen nicht mehr verkneifen konnte, lockerte sich auch der Engel ein wenig und schenkte mir sogar ein kleines Lächeln.

„Es ist eine Mischung aus deinen Vorschlägen", sagte er nach kurzer Überlegung und kratze sich am Hinterkopf. Na wunderbar. Das konnte ja heiter werden.

„Und wie... was...", stammelte ich und deutete auf meinen Kopf, in dem sich scheinbar eine Wand befand. Ich konnte mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich in meinem Gehirn eine Mauer befand, aber der Engel würde mich bestimmt nicht anlügen. Engel waren schließlich die Guten, oder?

„Komm, wir gehen rein", sagte Dean und schob mich ins Haus.

Ich hörte die Stimmen von meinem Dad und Sam in der Küche. Sie schienen sich immer noch zu unterhalten und lachten sogar miteinander. Es freut mich, dass sie sich gut verstanden und mein Dad wieder einen Grund hatte, zu lächeln. Im ersten Moment wollte ich Dad über unser Vorhaben informieren, doch ich entschied mich, es nicht zu tun. Ich wollte ihn nicht noch mehr beunruhigen. Dean dirigierte mich nach oben zu meinem Zimmer. Zu dritt betraten wir den Raum Zimmer und der Engel befahl mir, dass ich mich aufs Bett legen sollte.

„Entspann dich einfach", wies er mich an und ich versuchte, so gut es ging, seinen Befehl zu befolgen. Wie sollte man sich denn auch entspannen, wenn einem gleich unsagbare Schmerzen bevorstanden?

„Noch kannst du einen Rückzieher machen", erinnerte mich Dean und verzog seine Lippen zu einem mitleidigen Lächeln. Die Situation schien ihm offenbar auch nicht zu gefallen.

„Würde die Nicky, die du kennst, einen Rückzieher machen?", fragte ich ihn lächelnd und legte den Kopf schief, während ich ihn mit ernstem Blick fixierte.

„Nein, das würde sie nicht", seufze er und setzte sich zu mir ans Bett. Er griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.

„Bringen wir's einfach hinter uns", murmelte ich und schloss die Augen. Ich atmete tief durch und versuchte mir den Rat des Engels zu Herzen zu nehmen und mich einigermaßen zu entspannen. Leider war meine Entspannungsphase nicht von Dauer, denn er legte mir in der nächsten Sekunde seine Hand auf die Stirn und ein stechender, brennender Schmerz durchfuhr mich. Es fühlte sich an, als würde mir jemand heißes Wasser ins Gesicht schütten. Ich hatte das Gefühl, zu verbrennen. Ich schrie vor Schmerzen und wälzte mich hin und her, während sich meine Fingernägel in das Bettlaken bohrten. Dean versuchte, mich festzuhalten und redete beruhigend auf mich ein, doch es brachte nichts. Die Schmerzen waren zu stark.

„Wie lange noch, Cas?", schrie Dean aufgebracht und drückte mich dabei fester in die Matratze.

„Nicht mehr lange."

„Geht das auch etwas genauer?", fuhr er den Engel an.

„Ich bin fertig", meinte er und zog seine Hand zurück.

Kaum hatte er von mir abgelassen, waren auch die Schmerzen weg, doch ich fühlte mich nach wie vor grauenhaft. Ich war immer noch total neben mir und bekam deshalb auch nicht mit, als die Tür aufging und mein Vater zusammen mit Sam ins Zimmer gestolpert kamen.

„Was ist denn hier los?", schrie mein Dad besorgt.

„Wir bringen die Realität wieder in Ordnung", erklärte Dean zähneknirschend. Mühevoll öffnete ich die Augen und blickte in die besorgten Gesichter von den vier Männern.

„Wie fühlst du dich?", wollte Dean wissen und drückte dabei meine Hand leicht zusammen.

„Ging mir nie besser", murmelte ich sarkastisch und drückte ihn leicht von mir weg, um mich aufzusetzen.

„Mach langsam!", wies er mich an und legte seinen Arm stützend um mich.

„Du bist nicht meine Mutter, also sag nicht, was ich zu tun habe", blaffte ich ihn an und fuhr mir mit zitternder Hand durch die Haare.

„Nicky! Was ist denn in dich gefahren? So kenn ich dich ja gar nicht", stellte mein Dad entsetzt fest und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Es hat funktioniert", murmelte Dean überrascht und checkte mich von oben bis unten ab. „Es hat funktioniert! Du bist wieder da! Sam! Hast du das gehört? Sie ist wieder unsere Nicky...unser Miststü... ähm... liebeswertes Mädchen, das wir kennen und lieben!", verkündigte er freudig und zog mich auf die Beine. Er drückte mich an sich und wirbelte mich im Kreis herum.

„Lass mich runter, du Idiot!", lachte ich und schlug ihm leicht auf den Rücken. Ich versuchte, zu ignorieren, dass er mich gerade als Miststück bezeichnen wollte und schlug ihm stattdessen noch einige Male leicht auf den Rücken.

„Und was bedeutet das?", fragte Dad zögernd.

„Das bedeutet, dass nun alles wieder gut wird... nein... gut ist! Es ist alles so, wie es sein sollte. Ende gut, alles gut", rief Dean triumphierend und kniff mir in die Seite, als er mich wieder am Boden abstellte. Nachdenklich legte ich den Kopf zur Seite und dachte über die letzten Worte von Dean nach. War es denn tatsächlich das Ende? Und war es wirklich gut?

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt