Nicky
„Es tut mir leid, dass ich euch so lange nicht besucht habe", flüsterte ich schuldbewusst und starrte mit leerem Blick auf den Grabstein vor mir. „Aber jetzt bin ich ja hier und ich hab euch etwas mitgebracht", hauchte ich und versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Vorsichtig stellte ich den Rucksack, welchen ich mir um die Schulter geworfen hatte, auf den Boden und hockte mich davor. Mit einem Surren öffnete ich den Reißverschluss und holte eine kleine Blechdose heraus. Als ich die Dose in meiner Hand hielt, schmunzelte ich kurz.
„Weißt du noch, als du mir dieses hässliche Ding zum zehnten Geburtstag geschenkt hast?", fragte ich und fixierte den grauen Stein. Siebenundzwanzig Tage nach diesem Geburtstag war meine Mom bei einem Autounfall gestorben.
Ich versuchte, nicht an dieses traumatische Ereignis zu denken und legte stattdessen meinen Kopf in den Nacken, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Fast automatisch legte ich eine kurze Pause ein und es schien so, als würde ich auf eine Reaktion warten. Natürlich wusste ich, dass es absolut sinnfrei war, eine Unterhaltung mit einem Stein zu führen, aber ich hatte das Bedürfnis, noch einmal zu meinen Eltern zu gehen, bevor ich... na ja... wirklich zu ihnen ging.
„Ich war echt sauer auf dich, Mom. Du wusstest, dass ich mir ein Pony gewünscht habe und was hab ich bekommen? Eine Blechdose... eine verdammte Dose aus Blech", schluchzte ich leise und lehnte mich beinahe kraftlos an den Grabstein. Damals war ich so enttäuscht gewesen. Ich konnte nicht verstehen, warum ich kein Pony haben durfte, aber dafür eine blöde Dose bekam.
„Ich war so verdammt sauer auf euch, dass ich fast drei Tage nicht mit euch gesprochen hab", erinnerte ich mich zurück und schluchzte erneut auf. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die nassen Augen.
„Es tut mir so leid, dass ich so eingeschnappt war, aber damals war mein größter Wunsch einfach ein Pony", rechtfertigte ich mich traurig und zwang mich zu einem kleinen Lächeln.
„Aber stattdessen hab ich das hier bekommen", flüsterte ich und tippte demonstrativ auf die Dose. „Ich hab immer noch keine Ahnung, warum du mir das geschenkt hast, aber ich hab jetzt eine gute Verwendung dafür gefunden", erklärte ich beinahe etwas stolz und öffnete sie.
„Das sind Schokoladenkekse, eure Lieblingskekse", hauchte ich. Ich legte zwei Kekse neben mich auf die Graberde und schob mir einen dritten Keks in den Mund.
„Und meine Lieblingskekse sind es auch", nuschelte ich mit vollem Mund.
Nachdem ich mich noch einige Minuten mit dem Grab unterhalten und dabei fast alle Kekse aufgegessen hatte, erhob ich mich. Ich klopfte mir die Kekskrümel und auch die Graberde vom Körper. Das Vibrieren meines Telefons, welches sich in meiner hinteren Hosentasche befand, ließ mich kurz die Augen verdrehen.
„Ich muss jetzt leider los. Die Arbeit ruft... oder besser gesagt ruft Dean schon zum dritten Mal an", klärte ich meine Eltern auf. „Oh, ich hab euch ja noch gar nichts von ihm und seinem Bruder erzählt", stellte ich überrascht fest. Ich stemmte die Arme in die Hüfte und versuchte, mich an unser erstes Treffen zu erinnern.
„Also, wir haben uns in Montana kennengelernt und... ach, wenn ich so darüber nachdenke, dann sind die Details eigentlich nicht so wichtig..." Ich kratzte mich am Kopf und fasste den Entschluss, ihnen besser nichts von der Entführung und auch nicht von den anderen negativen Ereignissen zu erzählen, welche ich mit oder auch durch die Brüder hatte.
„Ihr würdet sie mögen", stellte ich fest und ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen. „Sam ist eher der ruhige Typ und scheint immer einen guten Rat auf Lager zu haben. Außerdem ist er ein wandelndes Lexikon und er könnte neben dem Jagen locker als Haarmodel arbeiten."
Ich musste bei dem Gedanken, dass Sam als Haarmodel arbeiten würde, kurz schmunzeln. Dean würde das sicher gar nicht gefallen. Ach, Dean.
„Und Dean... na ja... ist eben Dean. Er hat noch einen größeren Dickkopf als ich und obwohl er immer den coolen Draufgänger spielt, denke ich, dass tief in ihm drin ein kleiner Softie steckt" Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht und warf noch einen letzten Blick auf die Kekse, welche ich auf das Grab gelegt hatte. „Ich muss jetzt wirklich los, aber wir werden uns ja bald sehen..." Mit diesen Worten verabschiedete ich mich vom Grab meiner Eltern und machte mich auf dem Weg zu den Jungs.
Als ich am Greenside Motel ankam, schaute ich mich flüchtig um. Ich konnte weder die Brüder noch ihren schicken Wagen sehen. Verspäteten sie sich vielleicht? Ich zog mein Handy aus der linken Gesäßtasche und stellte fest, dass ich vorhin recht gehabt hatte. Dean hatte wirklich versucht, mich zu erreichen. Ich drückte einige Male auf dem Display herum und hielt mir das Handy ans Ohr. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ihn zurückzurufen, steckte ich das Telefon wenig begeistert wieder zurück.
Ich näherte mich der Rezeption und begrüßte den Empfangsmitarbeiter mit einem kurzen Kopfnicken. „Haben hier zwei so Typen eingecheckt? Der eine ist ziemlich groß und hat braune, längere Haare und der andere..."
„Redest du mit mir?", unterbrach mich der Mann mit einem rauchigen Klang in der Stimme. Verwundert hob ich die Augenbrauen und sah mich um.
„Mit wem sollte ich sonst reden, Sie Taxi-Driver für Arme!", blaffte ich ihn an und verschränkte genervt die Arme. Was hatte der denn geraucht? Der schmierig aussehende Mann erhob sich von seinem Holzstuhl und sah mich eindringlich an.
„An deiner Stelle würde ich lieber schnell verschwinden, Süße", hauchte er und ein wirklich unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase.
Es roch nach verfaulten Eiern und ich fühlte mich an meine Schulzeit zurückerinnert, als wir im Chemieunterricht experimentiert hatten. Ich wich einige Schritte zurück und hielt mir den Ärmel meiner Jacke vor, damit ich seinen ekligen Mundgeruch nicht mehr einatmen musste.
„Also, haben Sie die beiden Männer jetzt gesehen oder nicht?", wiederholte ich meine Frage und hoffte nun inständig, eine Antwort zu bekommen, damit ich mich schnellstmöglich verziehen konnte.
„Ich werde mal in meinen Notizen nachsehen", murmelte er gelangweilt und fing an, in Zeitlupentempo in seinem karierten Notizbuch zu blättern.
Angespannt legte ich meine freie Hand auf meinen Rücken und umklammerte meine Waffe, welche ich in meinem Hosenbund versteckt hatte. Innerlich zählte ich bis zehn und hatte mir vorgenommen, ihn zu erschießen, wenn er mir nach Ablauf der Zeit nicht endlich eine Antwort geliefert hatte.
„Das Pärchen, das du suchst, ist in Zimmer 11 einquartiert und wünscht, nicht gestört zu werden", erklärte er mir und rückte dabei seine Hornbrille zurecht.
„Scheinbar sind es ihre Flitterwochen", fügte er grinsend hinzu und zwinkerte mich dabei an.
Pärchen? Flitterwochen? War das etwa ihre Tarnung? Wow, also ich hätte von ihnen wirklich mehr erwartet.
„Und wo kann ich dieses Zimmer finden?", fragte ich wenig beeindruckt von seiner nicht gerade charmanten Art.
„Ah, ich verstehe... du bist die Frau für... naja... besondere Leistungen", kicherte er und begutachtete mich nun von oben bis unten.
Dachte dieses Ekelpaket etwa, dass ich eine Nutte war?! Entsetzt über seine Worte schüttelte ich den Kopf und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.
„Eine Frau für... was zum Teufel reden Sie da?", fauchte ich ihn an und griff nun doch wieder nach meiner Waffe. Ich schlug sie demonstrativ auf den Empfangstresen und starrte ihn wütend an. „Sie werden mir nun auf der Stelle den verdammten Schlüssel für dieses beschissene Zimmer 11 geben!", befahl ich ihm. Obwohl er von meiner Waffe und auch von mir wenig beeindruckt schien, reichte er mir den Schlüssel und zeigte mir mit einer kurzen Handbewegung, wo sich das besagte Zimmer befand.
„Geht doch", murmelte ich und verschwand mit schnellen Schritten zu Zimmer 11.
„Sam! Dean!", schrie ich und klopfte an der Zimmertür. Als ich keine Antwort bekam, steckte ich den Schlüssel ins Schloss und stieß die Tür auf.
„Ich komm jetzt rein", warnte ich sie vor und trat ein. Scheinbar war keiner hier. Ich schloss die Tür hinter mir und sah mich neugierig um. Auf dem Tisch, welcher sich in der Mitte des Raumes befand, lagen einige Zeitungsartikel und Notizen zu unserem Fall. Nun war ich mir sicher, dass es sich um das Zimmer von Sam und Dean handelte. Ich setzte mich an den Tisch und fing an, mir die verschiedenen Artikel durchzulesen. Irgendwie musste ich ja die Zeit überbrücken, bis die Winchesters endlich eintrafen.
Ein Ruckeln an der Tür ließ mich von den Notizen aufsehen. Endlich! Die Tür wurde geöffnet und Sam stolperte herein. Dicht gefolgt von Dean. Als er mich sah, legte sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. Er schmiss seine Tasche in die Ecke, drängte sich an seinem kleinen Bruder vorbei und kam auf mich zu.
„Dean, es ist schön, dich zu sehen!", lächelte ich und wurde im nächsten Moment in eine Umarmung gezogen. Er drückte mich so fest an sich, dass ich Angst hatte, zu ersticken.
„Ich bekomm keine Luft, Dean", presste ich hervor und schob ihn von mir weg. „Ihr werdet nicht glauben, was dieser eklige Typ von der Rezeption zu mir gesagt hat! Er dachte, ich sei eine Nutte und ihr zwei seid scheinbar in den Flitterwochen, also herzlichen Glückwunsch zur Vermählung!"
Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus und ich kicherte vor mich hin. Der Gedanke, dass die Brüder in Wirklichkeit ein Pärchen waren fand ich einfach zum Brüllen. Doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Keiner der beiden machte auch nur den Anschein, ihren Gesichtsausdruck zu verändern. Dean biss sich auf die Lippen und vermied es, mich anzusehen.
„Was ist hier los?", fragte ich unsicher und wandte mich nun auch an Sam. Dieser lehnte an der Tür und sah mich entschuldigend an. Was ging hier bloß vor?
„Nicky, es tut mir so leid", flüsterte Dean und griff nach meinem Arm. Ich schüttelte ihn ab und blickte ihn kopfschüttelnd an.
„Was tut dir leid? Dean, was ist hier los?", fragte ich mit einem drängenden Unterton in der Stimme.
„Du sollst wissen, dass wir auf deiner Seite stehen und dich nur beschützen wollen", mischte sich nun auch sein Bruder ein und hob beschwichtigend seine Hand. Wovon redete dieser Schwachkopf?
„Ihr macht mir Angst", gab ich leise zu und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Ein energisches Klopfen an der Tür ließ mich noch unsicherer werden. Wer könnte das sein? Noch ein Jäger?
„Nicky, es tut mir so leid", hauchte Dean erneut und ich konnte sehen, wie er sich verkrampfte.
Er gab Sam ein Zeichen, die Tür zu öffnen und stellte sich neben mich. Gerade als ich ihn nochmals fragen wollte, was zum Teufel hier eigentlich los war, öffnete Sam die Tür und Crowley stolzierte herein. Mir fiel beinahe die Kinnlade runter und ich griff instinktiv nach dem Hexenbeutel in meiner Jackentasche. Ich konnte es nicht fassen.
„Ihre elendigen Arschlöcher! Ihr habt mich reingelegt!", schrie ich aufgebracht.
„Nicky...", stammelte Dean. Ich verpasste ihm eine Ohrfeige und zog meine Waffe aus meinem Hosenbund. Zitternd richtete ich sie auf Dean und versuchte, die Fassung zu wahren. Ich wollte auf keinen Fall weinen. Nicht jetzt!
„Hör ihm einfach nur zu", forderte Sam und deutete auf den Dämon.
„Nenn mir einen guten Grund, warum ich das tun sollte!", zischte ich und drehte mich kurz zu ihm. Crowley verdrehte die Augen, hob die Hand und schleuderte mich gegen die Wand. Ich prallte ab und landete unsanft auf dem Boden.
„Was soll die Scheiße, Crowley! Du wolltest nur mit ihr reden!", brüllte Dean und kniete sich neben mich. Er musterte mich besorgt und als er feststellte, dass ich nicht verletzt war, half er mir auf die Beine. Widerwillig ließ ich es geschehen.
„Ihr zwei habt jetzt Sendepause", fauchte Crowley und schnipste mit den Fingern. Sam öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es gelang ihm nicht. Hatte Crowley ihn etwa auf stumm geschaltet? Dean schien das gleiche Problem wie sein Bruder zu haben, denn auch er brachte keinen Ton heraus.
„Was willst du von mir, Crowley?", flüsterte ich und versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
„Wie Samantha schon sagte, will ich, dass du mir einfach zuhörst", erklärte er und deutete auf den Stuhl, welcher sich neben mir befand.
Da ich nicht scharf darauf war, wieder durch die Luft geschleudert zu werden, setzte ich mich hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Auffordernd sah ich ihn an.
„Und jetzt? Machen wir ein Kaffeekränzchen?", blaffte ich ihn an. Eine meiner nervigen Angewohnheiten war, dass ich in Stresssituationen versuchte, meine Unsicherheit mit frechem Verhalten zu überspielen. Ich hoffte, dadurch taffer zu wirken und meinem Gegenüber das Gefühl zu geben, dass ich nicht völlig machtlos war.
Dean gefiel das wohl gar nicht. Er warf mir einen Blick zu, der so viel heißen sollte wie: Halt die Klappe! Auch Sam schien von meinem Verhalten alles andere als begeistert zu sein. Immer wieder schüttelte er den Kopf und sah mich augenrollend an. Wieder klopfte es an der Tür.
„Na endlich", zischte der Dämon und schritt zur Tür.
Er zog sie auf und ein Mann kam durch die Tür geschritten. Er hatte einen langen, schwarzen Mantel an und trug einen Hut. Ich verkniff mir ein Lachen und schüttelte stattdessen den Kopf. Der Typ sah aus wie ein Mitglied der Mafia aus den fünfziger Jahren. Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und blieb bei mir hängen. Mit einer eleganten Handbewegung zog er sich den Hut vom Kopf und fixierte mich mit schwarzen Augen. Ich musste einige Male blinzeln, um sicher zu sein, dass ich mir das alles nicht gerade einbildete.
„Dad?", flüsterte ich ungläubig. Nein, das konnte nicht sein. Das war doch unmöglich!

DU LIEST GERADE
Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️
FanfictionBei einem Fall treffen die Brüder Sam und Dean durch Zufall auf die Jägerin Nicky. Trotz der nicht ganz reibungslosen ersten Begegnung, freunden sich die Winchesters mit ihr an, doch Nicky birgt ein Geheimnis, von dem zu diesem Zeitpunkt keiner etwa...