Kapitel 23

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Dean

„Klopf, klopf! Bobby, bist du hier?", schrie ich grinsend, während ich die Eingangstür aufstieß und mich flüchtig umsah. Der Geruch von altem, modrigem Holz und Whisky stieg mir in die Nase. So musste sich Nachhause kommen anfühlen. Ich war hundemüde. Die Autofahrt von Minatare nach Sioux Falls hatte über neun Stunden gedauert. Dieser verfluchte Stau! Mit einer elenganten Beinbewegung kickte ich die Tür hinter mit zu und stellte mich anschließend wie ein Karatekämpfer hin.

„Wuhaaa... ich bin Bruce Lee!" brüllte ich und überkreuzte die Arme in der Luft.

„Wohl eher Karatekid", brummte eine kratzige Stimme hinter mir und ließ mich den Kopf drehen. Bobby stand im Türrahmen und musterte mich belustigt.

„Gehst du jagen, oder kommst du von einer Jagd?" fragte ich und deutete auf sein Gewehr, welches er auf mich gerichtet hatte.

„Hätte dich fast erschossen, du Idiot", brummte er wieder und lehnte das Gewehr gegen die Wand. „Schön dich zu sehen, Junge. Komm her", sagte der ältere Jäger mit einem Lächeln auf den Lippen und zog mich in eine herzliche Umarmung. Ich drückte ihn an mich und atmete den Geruch ein, den das alte Holzfällerhemd verströmte. Es roch ein bisschen nach Schweiß und Whisky.

„Es ist auch schön, dich zu sehen, Bobby. Leider sind die Umstände nicht so... na ja... prickelnd", seufzte ich und drückte ihn leicht von mir weg. Ich fuhr mir durch die Haare und atmete tief durch.

„Hab mir schon fast gedacht, dass du mich nicht einfach so besuchst. Was ist los? Geht's um Sam? Was ist passiert?", erkundigte sich Bobby leicht besorgt und zupfte seine Kappe zurecht. Kopfschüttelnd sah ich ihn an.

„Nein, Sam geht's gut. Es ist... ach, vergiss es...", murmelte ich und winkte ab. Es war eine blöde Idee gewesen, zu Bobby zu fahren. Warum sollte ich auch noch ihn da mit reinziehen?

„Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Junge! Was ist los?", fuhr er mich ungeduldig an.

Während ich immer noch unschlüssig war, ob oder wie ich ihm die ganze Situation erklären sollte, zog er mich mit sich zum Tisch und drückte mich bestimmend auf den unbequemen Holzstuhl. Bevor ich protestieren konnte, stellte er mir ein Glas vor die Nase und füllte es mit Whisky.

„Du siehst aus, als ob du ein Glas vertragen könntest", murmelte Bobby und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Wenn er wüsste. „Versuchen wir es nochmal... was ist los?"

„Ich hab's vergeigt Bobby", gestand ich mit traurigem Blick und drehte das Whiskyglas in meiner Hand.

„Was hast du vergeigt, Dean?", bohrte er nach.

„Sie ist meinetwegen tot. Ich konnte sie nicht retten", hauchte ich und nahm den ersten Schluck aus dem Glas. Verwirrt schüttelte er den Kopf und sah mich an.

„Wer? Wer ist tot? Wen konntest du nicht retten?", fragte er mit ruhiger Stimme, während seine Augen auf mir ruhten.

„Nikita Elisabeth Jones alias Nicky Jones, Jägerin", klärte ich ihn laut auf und schlug dabei meine Faust auf den Tisch. Bobby zuckte nicht mal zusammen, sondern starrte mich weiterhin eisern an.

„Und diese Nikita war eine Freundin?", fragte er, wobei es eher wie eine Feststellung klang.

„Nenn sie einfach nur Nicky. Sie würde sich im Grab umdrehen, wenn sie hören würde, dass du sie Nikita nennst", stellte ich trocken fest und spürte einen Stich im Herz, als ich über meinen Satz genauer nachdachte. Nicky konnte sich gar nicht im Grab umdrehen, da sie nicht in einem Grab war, sondern auf dem Rücksitz meines Autos lag.

„Was soll das Gesicht?", blaffte mein Gegenüber mich an. Verdutzt hob ich die Augenbrauen.

„Welches Gesicht? Das hier?", fragte ich skeptisch und deutete auf mein eigenes. Er nickte eifrig und meinte dann, dass ich wohl immer so ein Gesicht machte, wenn mir etwas über die Leber gelaufen war. In diesem Moment war aber das einzige, das mir über, nein, eher durch die Leber lief, der Whisky. Ich führte das Glas an meine Lippen und trank einige kräftige Schlucke, ehe es leer war. Geräuschvoll stellte ich es auf der Tischplatte ab und seufzte leise.

„Bobby, ich habe eventuell etwas Dummes gemacht", gestand ich kleinlaut und kratze mich am Hinterkopf.

„Was meinst du mit eventuell? Der Dean, den ich kenne, hat noch nie eventuell etwas Dummes getan", witzelte er und sah mich dann wieder ernst an.

„Ich zeig's dir", sagte ich tonlos und erhob mich zögernd. Bobby folgte mir zum Wagen und schaute mich dabei griesgrämig an. Ich stand vor der hinteren Tür und bemerkte, wie er ins Innere des Autos schielte.

„Sag bloß... du hast irgendeine Leiche im Wagen", brummte er und sah mich kopfschüttelnd an. Ich legte den Kopf schief und kniff die Augen leicht zusammen.

„Nicht irgendeine Leiche", gab ich zurück. Es dauerte einige Momente, bis er verstand, was ich wohl sagen wollte. Er riss die Augen auf und blickte mich missmutig an.

„Dean... du hast doch nicht..." Ohne auf die Beendung seines Satzes zu warten, nickte ich langsam und öffnete die Autotür. „Junge! Hast du den Verstand verloren?", schrie er mich an und ich konnte sehen, wie eine Ader an seinem Hals pochte.

„Ich kann dir das erklären, Bobby! Aber zuerst muss ich sie ins Haus bringen und dann müssen wir planen, wie wir das ganze Dilemma in Ordnung bringen", zischte ich. Ich beugte mich nach vorne und zog den leblosen Körper ins Freie, ehe ich sie auf den Arm nahm.

„Wir? Wir planen das also? Ach, Junge...", flüsterte Bobby und schlug die Autotür wieder zu, als ich einige Schritte aufs Haus zu gemacht hatte. Ich stieß die Eingangstür wieder auf und schritt ins Wohnzimmer. Ich wollte Nicky auf die Couch legen, doch Bobby hielt mich zurück.

„Nein, nicht auf das Sofa", jammerte er und verzog das Gesicht.

„Warum nicht?", fragte ich verwirrt und wich wieder zurück.

„Da will ich mich später noch hinsetzen", brummte er. Augenrollend drehte ich mich im Raum herum.

„Und wo soll ich sie deiner Meinung nach hinlegen?", fragte ich gereizt nach.

„Am besten wäre ein Friedhof", murmelte er und schüttelte den Kopf.

„Du wohnst auf einem Autofriedhof, also denke ich, dass es hier auch ganz passend ist", gab ich genervt zurück und drückte Nicky etwas fester an mich.

„Meinetwegen... dann leg sie eben auf die Couch", gab er widerwillig zurück und fuhr sich über sein bärtiges Gesicht. „Aber lass mich wenigstens noch eine Decke drunter legen!"

Ich bedankte mich mit einem kurzen Lächeln und legte Nicky sachte auf die Decke, welche Bobby auf dem Sofa ausgebreitet hatte. Obwohl sie tot war, versuchte ich, ihren Körper mit größter Vorsicht zu behandeln, denn ich wollte ihr nicht wehtun. Natürlich war mir klar, dass sie keine Schmerzen spüren konnte, doch es war mir ein Bedürfnis, es zu tun. Bobby trat näher heran und begutachtete die Leiche nun von nahem.

„Was ist ihr passiert?", fragte er zögernd und starrte entsetzt auf den tiefen Schnitt an ihrem Hals.

„Sie hat sich die Kehle durchgeschnitten", antwortete ich flüsternd und schluckte hart, als ich an diese schreckliche Szenerie zurückdachte.

„Sie hat sich das selbst angetan?" Ungläubig zog er seine Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Ein Dämon hat sie besessen und wir haben gekämpft... Sam und ich haben sie überwältigt und ich hab sie mit dem Messer von Ruby geschnitten... ich wollte den Dämon zwingen, sie frei zu lassen... doch dann...", ich stoppte und fuhr mir übers Gesicht. „...dann hat Nicky die Kontrolle irgendwie wiederbekommen, oder der Dämon hat sie gelassen... keine Ahnung... sie hat mich angefleht...", hauchte ich traurig.

„Sie hat dich angefleht, aufzuhören?", fragte der ältere Jäger mitleidig nach. Ich schüttelte den Kopf und schluckte wieder hart.

„Sie hat mich angefleht sie zu töten, aber... ich konnte nicht. Bobby... ich konnte sie nicht töten", gab ich zu und fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen. „Ich konnte sie nicht töten und dann hat sie sich von uns losgerissen. Das Messer ist mir dabei aus der Hand gefallen und sie hat sich dann...", ich ließ den Satz unvollendet und machte stattdessen eine aussagekräftige Handbewegung am Hals. Bobby nickte betroffen und sah mich bedauernd an.

„Es ist nicht deine Schuld, Junge", stellte er ernst fest.

„Doch! Es ist meine Schuld. Ich hätte Crowley nicht zu ihr führen dürfen", murmelte ich schuldbewusst und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

„Warte... was? Crowley steckt da auch mit drin?", fragte er verwirrt und legte seine Stirn in Falten.

„Das ist alles eine lange Geschichte", seufzte ich und schob ihn in die Küche. „Mach's dir bequem, Bobby. Ich hol den Whisky."


Bobby und ich saßen uns gegenüber und schwiegen uns gegenseitig an. Ich hatte ihm die ganze Geschichte rund um Nicky erzählt und nun hatte es ihm scheinbar die Sprache verschlagen. Das Klingeln meines Handys unterbrach die unangenehme Stille. Gerade noch rechtzeitig. Hätte ich den eisernen Blick von Bobby noch länger standhalten müssen, dann hätte ich einen von uns beiden eine Kugel verpasst. Ich zog das Telefon etwas umständlich aus meiner Hosentasche und hielt es an mein Ohr.

„Sam, was gibt's?", meldete ich mich mit müder Stimme und teilte Bobby überflüssigerweise mit, wer dran war.

„Ja, das dachte ich mir schon, du Idiot", brummte er und schenkte uns nochmals den Whisky nach. Ich beachtete den Griesgram nicht weiter, sondern richtete meine Aufmerksamkeit auf meinen Bruder, der offensichtlich Neuigkeiten hatte.

„Hey Dean! Also, wir haben Balthazar gefunden, aber er hat keine Ahnung, wo sich Gabriel aufhält."

„Aber er muss doch irgendwas wissen! Habt ihr ihn höflich gefragt, oder habt ihr ihn... na ja... nicht mehr so höflich gefragt?", gab ich leicht stockend von mir und zog die Augenbrauen etwas nach oben. Dieser geflügelte Mistkerl musste doch irgendetwas wissen!

„Bist du etwa betrunken?", fragte er etwas ungläubig und schnaubte ins Telefon. Ich konnte sein entsetztes Gesicht förmlich vor mir sehen.

„Was? Nein...natürlich nicht", murmelte ich und räusperte mich anschließend kurz, bevor ich fortfuhr. „Also, was war mit Balthazar noch gleich?"

„Wir haben ihm nicht jede einzelne Feder rausgerissen, falls du das fragen willst. Er hat uns aber deutlich gesagt, dass er nichts weiß und ich glaube ihm", teilte er mit ruhiger Stimme mit.

„Ist Balthazar noch bei euch?", wollte ich wissen und fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

„Ja, er ist noch hier. Wieso?"

„Hol ihn ans Telefon", forderte ich ihn auf und wartete darauf, dass sich der Engel zu Wort meldete. Wenige Augenblicke und viel Geraschel später, erklang die fröhliche und gleichzeitig etwas arrogante Stimme von Balthazar.

„Dean, mein alter Freund. Was kann ich für dich tun?"

„Balthazar, ich brauch deine Hilfe", teile ich ihm mit und hoffte, dass meine Stimme nicht so armselig klang wie ich mich fühlte.

„Und warum sollte ich dir helfen? Du wollest mich mit heiligem Öl frittieren", erinnerte er mich und ich verdrehte die Augen. Ja, gut... ich wollte ihn frittieren, aber er hatte die Seele eines kleinen Jungen beschlagnahmt, also war es gerechtfertigt!

„Soll ich mich dafür etwa entschuldigen? Du hast diesen kleinen Jungen..."

„Weißt du was? Das ist doch alles Schnee von gestern, Dean!", unterbrach er mich lachend und stoppte somit meinen aufkommenden, wütenden Redeschwall. „Also, was kann ich für dich tun", wiederholte er seine Frage und klang nun deutlich kooperativer als zuvor. Verwundert verzog ich die Mundwinkel zu einem Lächeln und räusperte mich.

„Sam hat dir bestimmt schon erzählt, für was wir dich brauchen, oder?"

„Ihr wollt Gabriel, um eure kleine Freundin wiederzubeleben", gab er gleichgültig zurück.

„So ungefähr, ja", seufzte ich und fuhr mir durch die Haare. „Kannst du uns helfen?"

„Ich sag dir das gleiche, das ich auch deinem Bruder gesagt habe, also hör gut zu... ich weiß nicht, wo er ist und auch, wenn ich es wüsste, hat alles seinen Preis."

„Und wie hoch ist der Preis?", zischte ich und ballte meine Hand zu einer Faust. Konnte denn keiner einfach mal seine Hilfe anbieten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? War das denn zu viel verlangt?

„Nein, Dean... es geht nicht um die Höhe des Preises", lachte er trocken auf und ich sah vor meinem inneren Auge sein arrogantes Gesicht.

„Was willst du?"

„Quid pro quo, Dean. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich eure Hilfe brauche und dann werdet ihr mir, ohne blöde Fragen zu stellen, helfen, verstanden?", forderte er.

Im Hintergrund hörte ich Sam und Cas reden, doch ich verstand nicht, was sie sagten. Vermutlich diskutierten sie darüber, ob es wirklich eine gute Idee war, einen Handel mit ihm einzugehen. Aber was hatte ich für Alternativen? Ich hatte nun eine Chance erhalten, um Nicky zu retten und ich hatte mich dazu entschieden, sie zu ergreifen.

„Einverstanden", murmelte ich und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

„Gut. Ich werde mich mit meinem Bruder in Verbindung setzten und mich bei dir melden, sobald ich etwas habe." Ehe ich noch etwas sagen konnte, legte er auf.

„Was zum...", zischte ich und schielte auf das Display. Dieser Mistkerl!

„Und? Was ist dein Plan?", fragte Bobby und füllte noch etwas Whisky in mein, noch immer fast volles, Glas. Ich nickte ihm dankend zu und nahm einen ordentlichen Schluck. Gute Frage. Was war mein Plan?

„Wie sagt man so schön... abwarten und Whisky trinken", murmelte ich und hob demonstrativ mein Glas. Bobby legte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn leicht.

„Ich bin mir zwar sicher, dass das Sprichwort anders geht, aber soll mir recht sein", brummte er und erhob sein Glas ebenfalls.

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt