Kapitel 26

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Dean

„Hör dir das an", sagte Sam aufgeregt und richtete den Laptop, den er auf seinem Schoß hatte, etwas auf. „Crowley hat ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt. James Jones ist nicht vor vier Jahren gestorben, sondern lebt immer noch in diesem kleinen Kuhdorf in Nebraska, zusammen mit seinem, wie es scheint, gesunden und einzigen Kind..."

„Nicky", murmelte ich ergänzend und krallte mich fester in das Lenkrad. Sam nickte nur bestätigend und las sich noch weiter durch die Weiten des Internets.

„Warum hat er das getan? Kaufst du ihm das mit dem Eigennutzen ab?", fragte ich nachdenklich und warf meinem Bruder einen ernsten Blick zu, ehe ich wieder auf die Straße vor mir starrte.

„Keine Ahnung. Warum sollte er es sonst machen? Nächstenliebe? Freundlichkeit? Nein, Crowley tut nichts ohne Hintergedanken und ich vermute mal, dass die Vorstellung dich sein Leben lang wütend an der Backe zu haben, als Grund ausreicht", mutmaßte er und tippte weiter auf der Tastatur herum.

„Hast wahrscheinlich recht", flüsterte ich und nickte beiläufig. Ich wurde nur leider das Gefühl nicht los, dass mehr dahinterstecken könnte, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

„Was hast du eigentlich vor, wenn wir ankommen? Willst du einfach klingeln und ihr heiles Weltbild zerstören?", fragte Sam, ohne von seinem Laptop aufzusehen.

„Das sehen wir alles, wenn es soweit ist." Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich tun oder sagen sollte, wenn ich dann wirklich vor ihr stand. Konnte sie die Wahrheit überhaupt verkraften? Die Antwort auf diese Frage würde ich in weniger als drei Stunden erfahren, denn dann würden wir bei ihr angekommen.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich hatte das Gefühl, als würde mir etwas die Kehle zuschnüren und somit jeden meiner Atemzüge schwer machte. Einerseits konnte ich es kaum erwarten, Nicky zu sehen und sie in die Arme zuschließen, doch andererseits hatte sie keine Ahnung, wer ich war und somit konnte diese Situation nur mehr als seltsam werden, denn für sie war ich ein Fremder. Crowley hatte uns, und somit auch mich, aus ihrem Leben gelöscht. Er hatte quasi das Drehbuch umgeschrieben und mich dabei ausradiert. So ein Mistkerl! Aber ich musste auch zugeben, dass dieser besagte Mistkerl sie wieder ins Leben zurückgebracht hatte und zumindest war das etwas Positives. Auch wenn das das einzige Positive an der ganzen Situation war.

„Ist das das Haus?", fragte Sam und deutete auf ein kleines, aber recht schönes Familienhäuschen mit weißem Bretterzaun und gepflegtem Garten. In der gepflasterten Einfahrt stand ein roter Geländewagen, es sollte also jemand zu Hause sein.

„Ich denke schon", murmelte ich und kratzte mich am Haaransatz.

Zögernd öffnete ich die Autotür und stieg aus. Sam tat es mir gleich. Mit langsamen Schritten näherten wir uns der Haustür. Wir sahen uns immer wieder um, doch es war niemand zu sehen.

„Also, laut Türschild sind wir wohl richtig", meinte Sam und deutete auf ein kitschiges Schildchen neben der Klingel mit einer Karikatur von James und Nicky und der Inschrift Familie Jones. Wir mussten wirklich in einer anderen Realität sein, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass unserer Nicky das gefallen würde.

Ich räusperte mich kurz, um mich zu sammeln, und drückte dann auf die Klingel. Ein Surren ertönte und wenige Momente später erklangen Schritte. Mein Herz schlug so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir aus der Brust springen. Mit einem Ruck wurde die Tür geöffnet und James stand vor uns.

„Guten Tag, meine Herren, kann ich Ihnen helfen?", fragte er lächelnd und rührte entspannt in seinem Kaffeebecher herum, den er in seiner rechten Hand hielt.

Er sah ganz und gar nicht dämonisch aus, nein, er war freundlich und einfach nur ein Mensch. Zumindest machte es den Anschein, dass er ein Mensch war. Ich hatte mir zwar gedanklich zusammengelegt, was ich sagen wollte, doch ich bekam keinen Ton heraus. Sam bemerkte wohl meine Lage und räusperte sich kurz, ehe er in seine Jackentasche griff und den gefälschten FBI Ausweis zog.

„Mister Jones? Wir sind vom FBI. Ich bin Agent Tony Bosco und das hier ist mein Partner, Agent Ben Walker."

„Wie kann ich Ihnen helfen, Agent?", fragte er unsicher und stellte die Tasse auf einen Tisch neben der Tür.

„Es geht um Ihre Tochter, Sir", fügte ich zögernd hinzu und beobachtete ihn genau. Sein Blick wurde ernst und er ging einen Schritt zur Seite, um uns hineinzulassen. Ich nickte ihm dankend zu und wir folgten ihm ins Haus.

„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?", fragte er freundlich und versuchte somit, seine Unsicherheit zu verbergen. Wir lehnten dankend ab. Mir war nach Antworten und nicht nach Kaffee zumute. Vielleicht sollte ich mich hier etwas umsehen. Die Antworten konnten schließlich auch hier irgendwo versteckt sein.

„Kann ich Ihre Toilette benutzen?", bat ich James. Er nickte und deutete auf die Treppe nach oben.

„Was ist denn mit meiner Tochter? Hat sie etwas angestellt? Steckt sie in Schwierigkeiten?", wollte er wissen und sah Sam besorgt an.

„Wo ist Ihre Tochter gerade?", fragte mein Bruder, ohne auf seine Frage einzugehen.

„Sie ist unterwegs, aber sie müsste jeden Moment wieder hier sein. Sagen Sie mir jetzt bitte endlich, was Sie von meiner Tochter wollen!" Ich hörte die Antwort von Sam nicht mehr, denn ich war bereits die Treppe nach oben gestolpert. Ich öffnete eine Tür und stand dann wohl im Zimmer von Nicky. Es war unaufgeräumt und am Boden lagen Klamotten und Bücher herum.

„Typisch", murmelte ich und betrat den Raum. Ich schloss die Tür leise hinter mir und ging zum Schreibtisch, der am Fenster stand, und hob einen Zeichenblock hoch.

Ich blätterte durch die Seiten und fand Skizzen von Tieren, Landschaften und auch einige Porträts von Personen. Ich wusste gar nicht, dass sie so gut zeichnen konnte. Ich nickte beeindruckt und blätterte weiter. Als ich an den letzteren Seiten ankam, stoppte ich. Sie hatte eine Person, einen Mann, gezeichnet, die eine verdammt unheimliche Ähnlichkeit mit mir hatte. Wie konnte das sein? Laut Crowley konnte sie sich doch nicht an mich erinnern, denn er hatte uns aus ihrem Leben gelöscht. Wie war das also möglich?

Als ich Schritte hörte, steckte ich den Block in meine Jackeninnentasche und drehte mich um. Die Tür wurde geöffnet und eine junge Frau stolperte herein. Sie musste sich bei Sam vorbeigeschlichen haben, denn anders wäre sie nicht nach oben gekommen, ohne von ihm aufgehalten zu werden. Ich musste einige Male blinzeln, um zu erkennen, dass es sich um Nicky handelte.

Sie sah ganz anderes aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Haare waren zu einem strengen Zopf zusammengebunden und sie trug schwarzen Lippenstift und auch ihre Augen waren dunkel geschminkt. Ihre sonst immer recht lässige Kleidung hatte sie gegen ein kurzes, schwarzes Röckchen und ein bauchfreies Top getauscht. Diese Nicky hatte nichts mit der gemeinsam, die ich kennengelernt hatte. Normalerweise stand ich darauf, wenn sich Frauen freizügig anzogen und viel Haut zeigten, aber bei ihr gefiel mir das ganz und gar nicht. Am liebsten hätte ich meine Jacke ausgezogen und sie damit eingewickelt.

Vor der ganzen Sache mit ihrem Tod hatte ich gedacht, dass ich ein klein wenig in sie verschossen gewesen war, doch ich glaubte nun, dass ich mich geirrt hatte. Natürlich hatte ich Gefühle für sie und diese waren auch sehr stark ausgeprägt, aber es handelten sich nicht um romantische Gefühle. Zumindest waren es nicht nur solche Gefühle.
Als sie mich damals in diesem Motelzimmer geküsst hatte, hatte es sich einfach nur falsch angefühlt. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass sie von einem Dämon besessen gewesen war und es somit wahrscheinlich nicht aus freien Stücken heraus getan hatte, aber vielleicht war es auch einfach nur falsch. Sie war mir wirklich ans Herz gewachsen und ich fühlte mich verantwortlich für sie. Ich könnte es nicht ertragen, sie noch einmal zu verlieren, wenn es mit uns nicht klappen würde.

„Was tun Sie in meinem Zimmer?", fragte sie ruhig und schien von der Situation gar nicht überrascht zu sein.

„Ich... ähm...", stammelte ich und fuhr mir ertappt durch die Haare.

„Moment mal... ich kenne Sie", stellte sie überrascht fest und hastete zum Schreibtisch. Sie sah sich suchend um.

„Du suchst bestimmt das hier", meinte ich und holte den Block aus meiner Jackentasche. Sie sah mich unsicher an, aber nahm ihn mir dann schnell aus der Hand. Sie blätterte unruhig in den Seiten herum und stoppte, als sie das Portrait von mir fand. Nachdenklich blickte sie zwischen mir und der Zeichnung umher.

„Oh mein Gott! Ich bin eine Hexe", flüsterte sie und starrte auf das Papier.

„Was? Wie kommst du denn darauf?", fragte ich kopfschüttelnd. Wieso sollte sie eine Hexe sein? Auch wenn sie es vielleicht gerade nicht wusste, war sie eine Jägerin!

„Wie sollte es sonst möglich sein, dass ich von einem mir unbekannten Kerl träume und dann taucht er plötzlich in meinem Zimmer auf? Das klingt alles sehr nach Hexerei", erklärte sie und sah mich dabei ernst an.

„Du scheinst sehr auf das Übernatürliche abzufahren, hm?", meinte ich und deutete auf ihre Halskette. Sie hatte einen Anhänger in der Form eines Pentagramms.

„Das ist kein Teufelszeug oder so, falls Sie das denken! Das ist ein Pentagramm und es ist..."

„Es ist ein Schutzsymbol, ich weiß", vollendete ich ihren Satz und zog mein Hemd etwas zur Seite, um das Anti-Besessenheits-Tattoo freizulegen.

„Sie sind doch nicht so ein Freak, wie ich dachte", sagte sie anerkennend und nickte mir zu. „Sie sind wohl auch nicht so ein Fan von Dämonen, hm? Das Tattoo ist echt abgefahren."

„Kann man so sagen, ja", sagte ich mit einem kleinen, schiefen Lächeln auf den Lippen. „Es ist wahrscheinlich sehr schwer zu glauben und ich verstehe, wenn du mir kein Wort davon abkaufst, aber du musst mir zuhören, denn es ist die Wahrheit, okay?", bat ich sie und deutete ihr, sich auf das Bett zu setzten. Sie nickte zögernd und folgte meiner Anweisung. Ihr Rock rutschte etwas nach oben und ich wandte den Blick schnell ab. Was stimmte denn nicht mit mir?

„Mein Name ist..."

„Dean Winchester", unterbrach sie mich und vollendete so meinen Satz. Überrascht sah ich sie an. Woher wusste sie das?
„Ich sagte doch, dass ich eine Hexe sein muss", seufzte sie und schien scheinbar meine Gedanken lesen zu können.

„Du bist keine Hexe, Nicky, sondern eine Jägerin", erklärte ich ihr ruhig.

„Eine Jägerin?", wiederholte sie ungläubig und zog ihre aufgemalte Augenbraue nach oben.

Ich nickte und sah sie weiterhin ernst an. Wenn sie wusste, wer ich war, dann musste sie sich doch auch an sich selbst erinnern, oder etwa nicht?

„Ich würde doch nie Bambi töten!", schrie sie ernst und blickte mich verständnislos an.

Vielleicht würde meine Nicky nie Bambis töten, aber sie hatte kein Problem damit, Vampire, Werwölfe, Hexen und was weiß ich was für Monster fertig zu machen. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und blätterte in der Galerie herum.

„Kennst du diesen Typen?" Ich hielt ihr ein etwas unscharfes Bild von Crowley vor die Nase und wartete ihre Reaktion ab. Sie blätterte erneut in den Zeichenblock herum und schien eine bestimmte Seite zu suchen. Sie stoppte, als sie eine Zeichnung von Crowley fand und mir hindrehte.

„Der Kerl war auch in meinem Traum."

„Was genau hast du denn geträumt?", wollte ich wissen und sah sie interessiert an.

„Naja... es ist alles sehr verschwommen", gab sie zu und schluckte leicht.

„Hat es was mit Dämonen zu tun?", fragte ich vorsichtig. Sie sah mich überrascht an und nickte dann zögernd.

„Woher... ja, ich war besessen und wir, also Sie und so ein anderer, großer Kerl, haben gekämpft und dieser Typ von der Zeichnung hat einfach dagesessen und zugeguckt. Das war alles total schräg und dann hab ich mich selbst umgebracht und verdammt... das hat sich alles so echt angefühlt! Und dann bin ich wieder in meinem Zimmer aufgewacht und alles war wie immer", erklärte sie. Alles war wie immer? Nichts war wie immer!

„Ich will dir dein Weltbild nicht zerstören, Kleines, aber das war kein Traum."

„Mein Verstand sagt mir zwar, dass ich Sie für verrückt halten müsste, aber...", sie seufze und sah mich ernst an. „Irgendetwas stimmt hier nicht... ich fühle es. Das hier, mein Leben, es ist nicht echt. Es fühlt sich nicht real an. Ich dachte, dass ich den Verstand verliere, aber Dad hat alles als reine Spinnerei abgetan und ich dachte, dass ich verrückt bin! Irgendetwas läuft hier total schief und ich denke, dass Sie damit zu tun haben!"

„Du bist nicht verrückt", versicherte ich ihr ruhig.

„Und was ist dann hier los, verdammt nochmal?"

„Komm, wir gehen runter zu deinem Dad und meinem Bruder und dann werden wir dir alles erklären." Und dann würde alles wieder in Ordnung sein. Hoffte ich zumindest.

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt