Kapitel 21

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Dean

Schwer atmend kniete ich neben dem blassen, leblosen Körper und versuchte mit aller Kraft, die Blutung an ihrem Hals zu stillen. Ich hatte einen Ärmel ihrer Jacke abgerissen und ihn zu einem notdürftigen Druckverband umgewandelt. Wie konnte ein so kleiner Mensch nur so viel Blut verlieren? Rund um ihren Köper hatte sich bereits eine Blutlache gebildet, in der auch das Dämonenmesser lag. Mit zitternder Hand wischte ich mir über die Stirn und ich fühlte, wie etwas Warmes und Nasses über mein Gesicht floss. Zuerst war ich etwas verwundert, doch ich merkte schnell, dass es sich um Tränen, vermischt mit Schweiß und dem Blut von Nicky, handeln musste.

Nachdem sie sich die Kehle mit dem Messer durchgeschnitten hatte, war sie bereits Sekunden später keuchend zusammengebrochen und das Blut war nur so aus dem Schnitt an ihrem Hals herausgesprudelt. Der Dämon, Drew, schien bereits zu dieser Zeit vernichtet zu sein, denn er gab keinen Laut mehr von sich. Auch Nicky lag nur noch regungslos da und ihre leeren Augen starrten an mir vorbei.

„Sam! Hilf mir doch mal, verdammte Scheiße!", schrie ich verzweifelt und drückte den blutdurchtränkten Stofffetzen fester auf die Wunde. Hatte es aufgehört zu bluten? Mir kam es fast so vor, als würde die Blutung schwächer werden. Das war doch ein gutes Zeichen, oder?

„Dean", hauchte mein Bruder mitleidig und trat langsam an mich heran. Warum zur Hölle versuchte er nicht, mir zu helfen? „Dean", wisperte Sam erneut, legte seine Hand auf meine Schulter und drückte mich leicht von ihr weg.

„Hör auf, Dean. Sie ist tot", stellte er flüsternd fest und strich mir über den Rücken. Entgeistert riss ich meinen Kopf hoch und starrte ihn an. Nein, sie war nicht tot. Sie durfte nicht tot sein!

„Crowley! Tu irgendwas!", schrie ich nun den Dämon flehend an, der seelenruhig auf dem Stuhl saß und genüsslich an seinem, bereits mehrmals geleerten, Whiskyglas nippte. Er erhob sich schwerfällig und schien gar nicht daran zu denken, das Glas aus seiner Hand zu geben. War er etwa betrunken? Konnten Dämonen überhaupt betrunken werden? Er kam auf uns zu und beugte sich über das Mädchen vor mir. Er fuhr sich über das stoppelige Gesicht und sah mich ausdruckslos an.

„Samantha hat recht. Ich kann nichts mehr für deine Kleine tun", presste er zwischen den Zähnen hervor und nahm einen letzten Schluck aus seinem Glas.

James war mittlerweile wieder zu sich gekommen und stand seitdem nur teilnahmslos daneben, ohne eine Miene zu verziehen. Seine Tochter hatte sich gerade die Kehle durchgeschnitten und ihn interessierte das kein Stück! Also den Preis für den Vater des Jahres bekam er jedenfalls nicht.

„Du musst aber etwas tun!", verlangte ich von ihm und drückte völlig automatisch den Stofffetzten zusammen, der immer noch auf dem Hals von Nicky lag. Das Blut quoll durch meine Finger und tropfte auf den rotgefärbten Boden.

„Was ist mit dem Deal? Du hast deinen Teil nicht eingehalten und nun müsste der Vertrag eigentlich ungültig sein, oder?", fragte Sam und starrte weiterhin unablässig auf den leblosen Körper vor ihm.

Obwohl mein Bruder bei weitem nicht so neben der Spur stand wie ich, merkte ich, dass ihm der Tod von unserer Jägerfreundin nahe ging. Eine einzelne Träne floss über seine Wange, doch er machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Warum denn auch? Es war sowieso alles egal.

Schweren Herzens ließ ich den nassen Stoff, den ich krampfhaft umklammert hielt, los und fuhr mir schwer atmend übers Gesicht. Es kümmerte mich nicht, dass ich mir damit das ganze Blut, das an meinen Händen klebte, auf die Haut schmierte. Crowley nickte beiläufig und schnaubte dann verächtlich aus.

„Diese kleine Schlampe", fluchte er und leckte sich über die Lippen. „Dieses Miststück hat es doch noch geschafft", fügte er hinzu und musste sogar kurz anerkennend lächeln, bevor er seinen Arm zurückstreckte und das Glas wütend gegen die Wand warf. Es zersprang in unzählige Einzelteile und ich spürte sogar, wie ein paar Splitter in meine Richtung flogen. Ich drehte mein Gesicht schützend zur Seite und kniff die Augen zusammen.

„Ach, dieser Mistkerl!", fluchte Sam laut und verzog das Gesicht.

Ich öffnete die Augen und sah mich um. Es war mir sofort klar, warum mein Bruder so vor sich hin schimpfte. Crowley und auch James waren verschwunden. Sie hatten sich einfach verzogen! Crowley hatte sich verdrückt! Dieser verfluchte Scheißkerl! Na ja, wenigstens hatte er den Whisky dagelassen. Ich stand zögernd auf und schwankte zum Tisch, wo auch die Flasche stand.

„Was hast du vor?", fragte Sam und beobachtete mich misstrauisch.

Gekonnt ignorierte ich meinen Bruder und schnappte mir die Whiskyflasche. Ich drehte sie auf und schmiss den Verschluss achtlos über meine Schulter, ehe ich die Glasflasche an meine Lippen führte und einige kräftige Schlucke nahm. Die Flüssigkeit brannte angenehm in meiner Kehle. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut, denn ich trank sehr gern und manchmal auch sehr viel, aber dieses Mal war es anders. Ich trank, um zu vergessen. Ich wollte einfach nur vergessen, was passiert war.

Die letzten Worte von Crowley spukten mir im Kopf herum. Er hatte recht, denn sie hatte erreicht, was sie wollte. Ihre Jagd nach Rache war nun beendet, nur leider war sie tot und ihr Vater? Keine Ahnung, was mit ihm passiert war, aber es interessierte mich auch nicht sonderlich. Ich wusste zwar, dass er zu Lebzeiten ein guter Vater gewesen war und sein Leben für das seiner Tochter geopfert hatte, was wirklich eine ehrenvolle Aktion war, aber die dämonische Version von ihm lud nicht gerade zum Liebhaben ein.

Plötzlich war ein Flattern zu hören und ich drehte automatisch den Kopf. „Cas" flüsterte ich kraftlos und schenkte ihm ein gequältes Lächeln, während ich einen weiteren Schluck aus der Flasche nahm.

„Dean! Was ist hier passiert?", fragte er entsetzt, als er sich im Raum umsah und das ganze Chaos entdeckte.

„Danke, dass du gekommen bist", murmelte Sam, ohne auf seine Frage einzugehen, und trat an den Engel heran. Es schien so, als hätte Sam in seinen Gedanken die Hilfe von Cas angefordert, oder ihn mittels eines Gebetes zu uns gerufen. Und et voilà da war er.

„Spät, aber doch", dachte ich mir und schüttelte beiläufig den Kopf. Sam drückte den Engel kurz, aber bestimmend an sich und strich ihm über den Trenchcoat. Castiel erwiderte die Umarmung nach einem kurzen Zögern.

„Natürlich komme ich, wenn ihr mich ruft", gab er ruhig zurück und löste sich von meinem Bruder. „Was ist hier passiert?", wiederholte er seine Frage und sah uns nacheinander eindringlich an.

„Ist das dein Blut?", fragte er und deutete auf mein Gesicht. Ich schluckte den Rest vom Whisky herunter und schüttelte den Kopf.

„Es ist ihrs", nuschelte ich und nickte mit dem Kopf in Richtung Nicky, die immer noch regungslos, und der Blutlache nach zu urteilen, mittlerweile blutleer am Boden lag. Ich setzte die Flasche wiederholt an meine Lippen an, doch Sam funkte mir dazwischen.

„Hör auf, dich volllaufen zu lassen!", zischte Sam wütend und verschüttete einige Tropfen des Getränks, als er die Flasche an sich riss. Erbost funkelte ich ihn an und verpasste ihm im nächsten Moment einen Schlag ins Gesicht.

„Dean! Was ist denn in dich gefahren?", rief Cas empört und hielt mich zurück, bevor ich nochmal zuschlagen konnte.

„Gib mir den Whisky zurück, Sammy!", presste ich zähneknirschend hervor und hob den Finger drohend nach oben. Sam rieb sich über das Kinn und verzog schmerzend das Gesicht.

„Das kannst du dir abschminken", murmelte er und trank nun ebenfalls einen Schluck. Er verzog das Gesicht und schüttelte sich leicht, als das Getränk seine Kehle hinunterfloss.

„Anfänger", spottete ich und stellte mir die Frage, ob wir beide wirklich miteinander verwandt waren. Cas trat zwischen uns und streckte seine Arme streitschlichtend aus.

„Vielleicht solltet ihr euch beide beruhigen und..."

„Wir sind ganz ruhig!", schrien Sam und ich gleichzeitig und schenkten uns anschließend ein kurzes, aber lieb gemeintes Lächeln. Was das anging, waren wir uns wenigstens einig.

Castiel stieß einen niedergeschlagenen Seufzer aus und wandte sich an die Leiche. Er kniete sich neben sie und berührte sachte ihre Stirn. Hoffnungsvoll beobachtete ich jeden Schritt seiner Handlung, doch es geschah nichts. Der Anblick von Nicky verpasste mir abermals einen Stich ins Herz. Sie war doch noch so jung gewesen. Und sie war unseretwegen tot. Sie war meinetwegen tot! Hätten wir Crowley nicht zu ihr geführt, dann wäre sie nicht von diesem Drew besessen worden und dann... dann wäre sie noch am Leben.

„Verdammte Scheiße!", fluchte ich und wischte mir niedergeschlagen über die Augen. Sam beobachtete mich bedauernd und kam auf mich zu. Er wollte mich tröstend in den Arm nehmen, doch ich wehrte ihn ab. Ich entriss ihm stattdessen in einem unachtsamen Moment den Whisky und ließ mich neben Nicky, an der Wand entlang, zu Boden gleiten.

Cas war bereits wieder aufgestanden und ging nachdenklich im Raum umher. Er überlegte. Ich hoffte, dass er einen Plan schmieden würde, der Nicky ins Leben zurückbringen konnte, doch gar so viel Hoffnung hatte ich nicht. Starr fixierte ich Nicky, die immer noch in ihrem Blut lag und sich nicht rührte. Sie sah mich an. Naja, sie sah mich nicht wirklich an, sondern ihre toten, leeren Augen schauten direkt in meine. Ich schluckte hart und versuchte, meinen Blick abzuwenden, doch ich schaffte es nicht.

„Es tut mir so leid, Kleines", murmelte ich traurig und strich über ihre Wange. Sie war noch warm. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich hatte Mühe, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Ich wollte auf keinen Fall weinen und dadurch schwach wirken. Ich musste doch stark bleiben. Wenn ich es schon nicht für mich selbst konnte, dann musste ich es wenigstens für sie tun. Ich wusste nicht, wie lange ich einfach nur an der Wand lehnte und den toten Körper meiner Freundin anstarrte, während ich immer wieder am Whisky nippte. Es war mir auch egal, wie viel Zeit verging, denn mir war mittlerweile alles egal. Ich hatte zu viele Freunde, nein, meine Familie verloren und ich war es leid, immer wieder diesen Schmerz von neuem zu erleben.

Zuerst war unsere Mom von dem gelbäugigen Dämon im Kinderzimmer von Sam verbrannt worden. Dann, Jahrzehnte später, hatte Jessica, die Freundin von Sam, auf die gleiche Art und Weise sterben müssen. Nach dem Tod unserer Mutter war Dad zu einem besessenen Jäger geworden und hatte uns dadurch auch in dieses Leben gerissen. Und was hatte es uns gebracht? Richtig, den Tod! Der Tod war einfach überall! Durch einen Deal mit dem Gelbäugigen, der mein Leben gerettet hatte, war Dad von diesem Scheißkerl in die Hölle gezerrt worden und hatte erst viel später, als wir zusammen mit Ellen und Bobby das Tor zur Hölle geöffnet hatten, entkommen können. Ach, Ellen. Zusammen mit Ash und ihrer Tochter Jo stand auch sie auf meiner Liste. Meine schier endlos lange Liste von toten Freunden, für deren Tod ich auf irgendeine Art und Weise verantwortlich war. Und nun stand noch ein Name darauf: Nicky Jones.

„Dean, es tut mir wirklich sehr leid um deine Freundin", flüsterte Cas und riss mich somit aus den Gedanken. Ich nickte abwesend und nahm zum wiederholten Mal einen kräftigen Schluck aus der mittlerweile fast leeren Flasche.

„Mir auch", nuschelte ich und strich ihr über die immer kälter werdende Wange. „Kannst du gar nichts tun?", fragte ich verzweifelt und sah den Engel mit tränennassen Augen an.

„Dean, wenn ich...", er stoppte und seufzte leicht. „Es tut mir sehr leid", wiederholte er mit ruhiger Stimme und sah mich entschuldigend an.

„Nur, weil du es öfter sagst, Cas, wird es nicht besser", zischte ich ihn leise an und zupfte am Etikett der Flasche herum.

„Wir sollten uns langsam überlegen, wie es weiter gehen soll", hauchte Sam und sah starr auf Nicky.

Ich wusste zwar, dass er recht hatte und wir wirklich über die nächsten Schritte nachdenken sollten, doch ich konnte nicht. Ich konnte sie einfach nicht aufgeben. Wie oft waren wir schon tot und waren dann doch wieder auferstanden? Wir hatten mehr Comebacks gefeiert als Jesus und das sollte schon was heißen.

„Du musst sie zurückholen, Cas", sagte ich bestimmend und strich ihr eine blutige Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Meine Macht reicht dafür nicht aus, Dean. Dieser Kampf, den ich mit der Hexe vor ein paar Tagen hatte, hat mich geschwächt. Ich bin nicht unendlich stark, auch wenn du das vielleicht denkst", klärte er mich auf und zupfte seinen Mantel zurecht.

„Dann müssen wir eben jemanden finden, der stark genug ist!", schrie ich aufgebracht und fuhr mir wütend durch die Haare.

„Dean, wen willst du denn um Hilfe bitten? Einen Erzengel? Falls du dich erinnerst, sind die nicht gerade zugänglich und gehören ganz sicher nicht zu unserem Fanclub", warf Sam sachlich ein und ich musste mir leider eingestehen, dass er recht hatte. Aber irgendeinen Weg musste es doch geben. Es gab immer einen Weg!

„Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Nichts? Willst du sie einfach sterben lassen und...", ich stoppte und unterdrückte ein Schluchzen. Verdammt! Ich wollte doch nicht heulen! Sam kam auf mich zu, hockte sich vor mich hin und fasste mir an die Schulter.

„Dean! Sie ist tot. Sie ist tot und sie kommt nicht wieder zurück. Sie ist tot... verstehst du das?", sagte er ruhig und sah mich wieder mit diesem mitleidigen Blick an. Zu gerne würde ich ihm diesen Blick aus dem Gesicht prügeln.

„Wie oft sind wir gestorben, hm?", fragte ich ihn und legte den Kopf zur Seite. Ich zog die Augenbrauen hoch und schaute ihn kopfschüttelnd an. „Wir sind so oft gestorben und sind trotzdem noch hier, oder? Warum willst du nicht, dass sie... Nicky... sie hat das nicht verdient! Ihr Tod geht auf unsere Kappe, Sam! Es ist unsere Schuld und das weißt du", schrie ich ihn an.

Sam zuckte zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Nicky hatte sich zwar selbst getötet, aber er wusste trotzdem genauso gut wie ich, dass es wenigstens zum Teil unsere Schuld war.

„Möglicherweise habe ich einen Plan", meinte Castiel und räusperte sich kurz.

„Raus mit der Sprache, Cas", forderte ich und sah den Engel ungeduldig an. Die Augen von Sam ruhten ebenfalls auf ihm .

„Vielleicht kann uns Gabriel helfen. Er schuldet uns... euch noch etwas und diese Schuld könnt ihr nun einfordern."

„Und wie finden wir diesen geflügelten Kindskopf?", fragte mein Bruder und sah uns nachdenklich an.

Das war wirklich eine gute Frage. Wie sollte man jemanden finden, der nicht gefunden werden wollte und noch dazu ein als skandinavische Gottheit getarnter Erzengel war?

Nicky Jones und die Jagd nach Rache ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt