Ein Spiegel aus dunklem Glas

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Mein Aufprall wurde durch einen Dornenstrauch ein wenig abgebremst. So machte ich mich hastig daran mich aus den dürren Ästen zu befreien. Dabei zerissen sie mir Kleid, Haut und Haar. Ich spürrte meine Glieder schmerzen und das rief mir in Erinnerung wie lange ich meine Zeit regungslos verbracht hatte. Ich achtete nicht mehr darauf was ich hinter mir ließ, denn ich war frei. Ich atmete die frische Nachtluft und ich hatte noch eine Chance meinem Schicksal zu entkommen.
Eilig trugen mich meine müden Füße zu dem hohen Eisentor.
Ich hielt inne und strich mit der Hand an dem Gitter entlang, das kleine Vorhängeschloss war so kalt das meine Finger fast taub wurden, als ich es anfasste. Einen Versuch war es wert...
Es war tatsächlich offen, ich konnte das Tor öffnen.
Das konnte nur Elijah's Handschrift sein, ein flüchtiges Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und ich öffnete das Tor einen Spalt breit, so das ich gerade so hindurch schlüpfen konnte.
Dann lief ich los, da mir die leere Straße mehr Angst einjagte als der stille Wald, wendete ich mich eilig ab und tauchte in das Dickicht hinein. Ohne sie kannte ich den Weg nicht, ohne sie fiel mir vieles schwerer und manches fiel mir leichter.
Es schmerzte mich an Katerina zu denken, wo mochte sie wohl sein...
Meine Augen begannen ein wenig zu tränen, da der kalte Wind gegen mein Gesicht peitschte und die Nacht mir die Sicht erschwerte. Ich hielt abprubt an, meine klammen Finger umklammerten noch immer den Lederbeutel den mir Elijah gegeben hatte. Es war so dunkel das ich seine glatte Hülle nur ertasten konnte. Ich hob den Kopf und entdeckte gerade so wie in der Ferne die Bäume nicht mehr so dicht beieinander standen. Eine Lichtung im Wald?
Ich nahm meine schwachen Kräfte zusammen und rannte darauf zu. Je näher ich kam desto heller schien es um mich herum zu werden. Der Mond war in dieser Nacht zum Glück nicht von Wolken verdeckt, nein, sein Schein war traumhaft schön und klar. Es schien als würde er sich auf dem Waldboden spiegeln in einem Meer aus glitzernden, weißen Sternen. Jedoch als ich dort ankam sah ich, das dort keineswegs eine Lichtung war.
Es war ein See.
Mitten im Wald.
Ich ließ mich an seinem Ufer nieder.
Es war ein schöner Ort, still und einsam.
Ob ihn jemals jemand entdeckt hatte?
Oder ob ich die erste Person war die ihn bewunderte.
Wenn nicht gerade ein Wind auf kam, konnte man den See für einen großen Spiegel aus dunklem Glas halten.
Nachdem ich mich von dem Anblick ein wenig erholt hatte, öffnete ich mit zittrigen Fingern den Beutel.
Einen anderer Anhaltspunkt kam mir nicht in den Sinn, als ich an dem lehmigen Ufer des Sees kniete.
Etwas metallendes und kaltes bekam ich zu fassen und zog es vorsichtig heraus. Es war ein Dolch, ein spitzes, kühles Mordwerkzeug mit scharfer Klinge.
Eine Nachicht, ein Stück Pergament, war nicht zu finden.
Es befand sich nur der Dolch darin.
Ich schluckte und betrachtete mit geweiteten Augen das Messer in dessen Klingenblatt sich meine Silhouette spiegelte.
Mein Ausweg schien nun so klar, wie die Oberfläche des Sees. Wenn man nicht für sein Leben lang verfolgt werden wollte, musste man wohl früh genug einen Schlussstrich ziehen.
War das Elijahs Plan für mich gewesen?
Oh, wie sehr ich jetzt mit ihm sprechen wollte oder mit ihr.
Ich hätte ihn gefragt ob es schnell gehen würde?
Ob der Schmerz sich endlos anfühlen würde?
Ob man sein ganzes Leben sah, wie es an einem vorbei zieht?
Nie hatte ich bedacht das alles was wir auf dieser Erde haben, dieses eine Leben ist, mehr ist uns nicht vorbestimmt.
Der Tod, sagten alle in unserer Heimat, ist der Weg ins Paradies. Kein Leiden und keine Qualen, nur die ewige Ruhe herrscht dort. Ein Schlaf aus dem man nicht mehr erwacht.
Es klingt friedlich und erlösend.
Nie mehr weglaufen, sich nie mehr fürchten und keinen Menschen nach dem man sich sehnt, keine unerfüllten Hoffnungen, keine Trauer und kein Gefühl.
Ohne es zu merken erhob ich mich vom dem kühlen Gestein und watete ins Wasser. Den Dolch in meiner zittrigen Hand.
Es umfing mich jetzt wie die Umarmung Mutters, sanft und vollendet. Zwar war die Quelle kühl zu meinen Füßen, jedoch war mein Blut noch warm. Es floß noch tapfer durch die Adern und das Herz trug sorge dafür. Ich ging soweit in den See hinein bis es meine Knie erreichte. Dann blieb ich stehen und sah zum Himmel. Sein Anblick beruhigte mich auf eine Weise, die ich mir zuerst nicht erklären konnte.
"Manchen Tag und manche Nacht
Hab ich in Schmerzen zugebracht.
Ach, schritttest du durch den Garten
Noch einmal im raschen Gang.
Wie gerne würde ich warten,
Warten stundenlang."
Es war ein altes Sprüchlein das uns Großmutter gelehrt hatte.
Sie sagte es bevor sie das zeitliche segnete und jeden Tag ihres Leben hatte sie einmal gesagt. Immer bevor sie zu Bett ging. Manche Leute beteten und Großmutter sagte immer dieses Sprüchlein auf. Wenn wir sie sahen sagten wir es immer ihr zu Freude einmal auf und dann legte sie ihren Kopf ein wenig schief und sagte das wir gute Mädchen seien und dann lächelte sie, das war früher. Diese Zeit war nun schon längst vergangen.
Es kam mir wie ein Jahrhundert vor.
Jetzt fragte ich mich ob sie wohl je Angst vor dem Tod gehabt hatte, ob es ihr schwer gefallen war diese Welt hinter sich zulassen und ins Paradies zu gehen.
Ich wünschte ich hätte mehr von ihr gewusst, von ihrem Leben, ihrer Kindheit und ihren Träumen. Aber ich hatte nichts, nichts, nur dieses Sprüchlein. Also sagte ich es auf und dachte dabei an sie. Dann dachte ich an Mutter und ich dachte an Vater und dann dachte ich sehr lange an meine Schwester.
"Ich wünschte ich könnte euch sehen...nur noch ein letztes Mal." Ich hörte ihre Stimmen in meinem Kopf und ich sah ihre Gesichter. Sie zogen vorrüber wie der leichte Nebel der jetzt über dem Wasser lag. Ich sah wie sie lächelten sie alle, jeder auf seine eigene Weise. Großmutter mit dem Kopf zur Seite geneigt, Mutter mit den Händen vor der Brust und Katerina mit ihrer kecken Art und ihren leuchtenden braunen Augen.
Ich wollte so gerne zu ihnen, kein Wunsch von mir war je größer gewesen. Doch ihre Mienen wurden kalt und traurig.
Und sie schüttelten den Kopf.
Da weinte ich.
Und ich fragte Großmutter:
"Bin ich noch ein gutes Mädchen in deinen Augen? Ich habe sie doch verlassen..."
Großmutter schüttelte den Kopf.
"Du warst immer ein gutes Mädchen."
Ich wendete mich an Mutter.
"Es wird bald kalt werden und ich muss die Öfen heizen. Ich mache mir Sorgen, wann kommst du nach Hause?"
Da schmerzte mein Herz wie nie zuvor.
"Ich komme nicht... Mutter."
Sie verstummte und nickte langsam.
Meine Augen waren vom Weinen noch lang nicht müde.
Ich sah verzweifelt zu meiner Schwester.
Sie war die letzte.
Katerina war die einzige dessen Miene nicht allzu traurig wirkte. Ja, ihre Augen glühten wie nie zuvor und sie breitete die Arme nach mir aus. Ich konnte mich nicht bewegen.
Da ließ sie sie sinken, doch ein gütiges Lächeln lag auf ihren Lippen. Ich wollte ihr so vieles sagen, ich wollte sie so vieles fragen. Doch es gab nur eine bestimmte Zeit die du mit deinen Liebsten auf dieser Erde verbringen kannst.
Und so fragte und sagte ich nur eines.
"Wo bist du?"
Ihr Lächeln wurde breiter.
"Ich bin dir weit voraus...Und ich werde dort auf dich warten."
Sie ging ein paar Schritte zurück in den dichten Nebel.
"Wo? Wo wirst du auf mich warten?"
Rief ich ihr hinter her.
"Auf der anderen Seite."
Das war das letzte was ich von ihr hörte.
Sie war fort. Der Nebel hatte sie mit sich genommen.
Mama ging als nächtes.
"Komm nach Hause, Elisabeth."
Ich wollte etwas sagen, doch ich konnte es nicht.
Es hätte mir das Herz gebrochen.
Großmutter war noch da, sie lächelte.
Ich sah sie an und wollte zu ihr.
Ich konnte mich wieder nicht von der Stelle bewegen.
"Sie sind nicht mehr hier... ihr seid nicht hier...warum seid ihr jetzt nicht mehr bei mir?"
"Elisabeth. Elisabeth, wir sind nie hier gewesen."
Ihre Worte wurden zum Echo und das Echo wurde vom Wind verweht. Ich konnte mich nicht mehr halten.
Ich lag auf dem Rücken mitten im kalten Wasser.
Mein Herz schmerzte und etwas dunkles, dunkler als das Wasser um mich herum benetzte meine Hände und mein Gesicht.
Ich hatte gar nicht gemerkt das ich mir so eben den Dolch in die Brust gerammt hatte. Ich hatte den Schmerz nicht gespürt, da ein anderer Schmerz viel stärker gewesen war.
Der Schmerz der Sehnsucht, der Trauer und der Verzweiflung.
Ich sah in den Himmel es war ein schöner Ausblick.
Und jetzt fiel mir ein an was er mich erinnerte.
An Heimat.
An Liebe, Geborgenheit, an meine Kindheit und daran wie wunderschön es doch einmal gewesen war auf der Welt zu sein.

{Petrova}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt