Die letzte Ehre

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ROSA

„Ich bin kein schlechter Mensch, Rosa. Aber ich bin auch keiner von den Guten."

***

Die Glocken schlagen, der Wind weht den Geruch nach verdorrten Blättern durch den Friedhof und trägt das Schluchzen der Familie von Gustavo in meine Ohren. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, pumpt mit schnellen, kraftvollen Bewegungen das Blut durch meine Venen, das ich in meinen Ohren rauschen höre. 

Ich stehe abseits im Schatten, während die Estrellas, angeführt von meinem Vater, neben den Trauernden stehen. Der schwarzen Spitzenschleier der Mutter verdeckt ihr Gesicht, doch als Loretta sich zu mir umdreht und sich unsere Blicke kreuzen, weiß ich genau, dass sie mich dafür verantwortlich macht. Wie gerne würde ich jetzt gehen, mich irgendwohin verkriechen, wo mich niemand findet.

 Aber das geht nicht, ich muss hierbleiben, muss das alles über mich ergehen lassen. Und vielleicht ist das die gerechtfertigte Strafe für mein naives Verhalten. Immer noch schaut sie mich an, bis ihr Mann – Antonio – seinen Arm um sie legt und sie dazu bringt, ihren Blick wieder nach vorne zurichten. Als wäre das alles so einfach. Aber Trauer ist ein kompliziertes Thema in der Geschichte eines jeden Menschen. 

Die leisen Worte des Padres sind im Hintergrund zu hören, als ich sehe, wie Santiago zu mir kommt. Er trägt wie alle anderen schwarz, doch bei ihm wirkt die Farbe zu hart. Seine Frohnatur verlangt nach bunten, auffallenden Farben. 

Der Zug um seine Mundpartie, die sonst immer zu einem Lachen verzogen ist, wirkt heute um einiges härter als noch vor ein paar Tagen, bei der Beerdigung meines Abuelos. Er hebt den Kopf und sieht mich an. Zuerst schüttle ich den Kopf, will allein sein, doch er lehnt sich neben mir an einen Baum und schweigt. 

Die Blätter über uns rascheln im Wind und als ich nach oben schaue, das Licht der Sonne auf meinem Gesicht spüre, kann ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Ich schluchze, halte mir die Hände vor den Mund, presse sie so fest ich nur kann darauf, damit niemand etwas mitbekommt. Santiago nimmt mich, ohne etwas zu sagen in den Arm, hält mich fest, während ich meinen Gefühlen freien Lauf lasse. 

Ich vergrabe mein Gesicht an seine Brust, klammere mich an ihn, als wäre ich mitten auf dem rauen Meer, dessen meterhohe Wellen über mir zusammenbrechen wollen. In den letzten Tagen ist so vieles passiert, dass ich niemandem mitteilen kann. Der Druck und die Angst aufzufliegen erhöhen die Bürde, die ich seitdem trage. Sekunde für Sekunde. 

„Du kannst nichts dafür", flüstert er. Ich schüttle den Kopf, will ihn von mir stossen, nur damit ich mir seine Worte nicht anhören muss. Doch sein Griff ist so fest, dass ich keine Chance habe mich daraus zu befreien. 

„Schh. Es war ein schrecklicher Unfall", meint er leise und streichelt mir über den Rücken. Ich spüre, dass es ihm genauso geht, dass ihn Gustavos Tod zu einem anderen Menschen gemacht hat. 

„Wenn sich einer Vorwürfe machen sollte, dann bin ich das. Denn er sah zu mir auf ... Ich habe ihn dafür ausgesucht, weil ich ihm zeigen wollte, wie so etwas abläuft", wispert er weiter, haucht mir einen Kuss auf den Scheitel, während er mich mit dem Oberkörper leicht hin und her wiegt. Sein herbes After-Shave steigt mir in die Nase, umhüllt mich tröstend, während sein beständiger Herzschlag mich einlullt. Schlag um Schlag. 

„Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr essen. Ich bin ein Wrack, Rosa. Genau wie du. Aber das muss aufhören, wenn wir nicht erwischt werden wollen", sagt er mit festerer Stimme. Ich horche auf, hebe den Kopf und schaue ihn aus verweinten Augen heraus an. 

Sanft streicht er mir den Pony aus den Augen und lächelt mich auf eine Art an, die mich an unsere Umarmung bei der Beerdigung meines Großvaters erinnert. Damals hatte ich dieses Gefühl schon und dieses Mal ist es stärker.

Gangs of Sinaloa - Killing LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt