„Mom?", rufe ich laut, während ich mit verheulten Augen versuche das Türschloss mit dem Schlüssel zu treffen, welcher sich in meinen, von der stundenlangen Fahrt, kaltsteifen Fingern anfühlt, wie ein Eiszapfen.
Die letzten paar Stunden im Auto waren hart und obwohl ich die ganze Zeit versucht habe mich zusammenzureißen, damit ich keinen Unfall baue, liefen mir durchgängig die Tränen herunter, während ich mich im Stop-and-go auf der Autobahn befand. Ohne meine Handtasche, welche ich, genau wie alles andere, einfach zurückgelassen hatte, als ich aufgesprungen und losgerannt war.
Aber ich dachte nicht über die Arbeit nach, das war jetzt Nebensache.
Endlich rutscht der Schlüssel ins Schlüsselloch und ich stoße mit beiden Händen die schwere rosa Tür auf. „Hallo? Ist jemand da?", schreie ich nun, da mich beim ersten Mal anscheinend niemand gehört hat. „Mom?! Tante Gab?"
„Würdest du bitte nicht so laut schreien? Deine Tante versucht ihren verlorenen Schlaf der letzten Nacht aufzuholen."
Mit aufgerissenen Augen starre ich auf meine Mutter, welche, wie immer gekleidet in eine weiße Bluse und dunkle Hose, auf der blassgelben Treppe steht.
„Mom?" Kurz wische ich mir mit meinem kalten Handrücken über meine laufende Nase. „Müsstest du nicht eigentlich im Bett liegen?"
Schnaubend legt sie ihre Hand auf das Treppengeländer und kommt die Treppe heruntergeschritten. „Mir geht es hervorragend mein Schatz. Willst du mich nicht erst einmal zur Begrüßung in den Arm nehmen?"
Vollkommen verwirrt mache ich einen Schritt auf sie zu und nehme sie kurz in den Arm. „Mom?", nuschele ich in ihre Schulter, „du hast gesagt, dass du krank bist."
Meine Mutter legt ihre Hände auf meine Schultern, schiebt mich ein Stück von sich weg und sieht mich an. „Ich hab gelogen."
„Bitte was? Warum?"
„Naja, ich wollte, dass du über Weihnachten Zuhause bist. Du warst schon so lange nicht mehr hier. Eigentlich fast genau seit dem-"
„Das ist nicht dein Ernst. Ich bin gerade stundenlang bis nach hier gefahren und es geht dir gut? Mom? Ich habe ein Leben." Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Von dem ganzen Geweine und der Trauer, welche plötzlich in Wut umspringt, kann ich kaum sprechen. Ich kneife meine Augen zusammen und verschränke meine Arme vor der Brust.
Ihre Mundwinkel ziehen sich leicht spöttisch nach oben und ihre rechte Augenbraue springt nach oben. „Callie. Du arbeitest als Cocktail girl in einer Bar namens „Reizbar". Das kann kein wirklich erfüllender Job sein angesichts der Tatsache, dass du früher -"
Drohend halte ich meinen Zeigefinger vor ihr Gesicht und will gerade zu einer Predigt meiner Mutter gegenüber ansetzen, als Tante Gab am Treppenabsatz erscheint und mit einem strahlenden Lächeln auf mich herunter sieht. „Callie, mein Engel. Oh nein, da freue ich mich aber, dass du da bist." Ihr rosa Bademantel schleift hinter ihr die Treppenstufen hinunter und noch bevor ich irgendetwas von mir geben kann, zieht sie mich in eine warme Umarmung.
Kurz schließe ich meine Augen und atme den schweren Duft ihres Parfums ein, den sie schon benutzt, seit ich denken kann. „Hey Tante Gab. Wie geht es dir?"
„Mir geht es wie immer grandios, aber warum siehst du so verweint aus? Und warum genau trägst du dein Kellnerinnenkostüm? Nicht, dass es dir nicht stehen würde." Ein Grinsen stiehlt sich in ihr Gesicht und leichte Fältchen kräuseln sich um ihre Mundwinkel herum.
Mein Blick folgt ihrem an mir herunter und auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Mom hat meiner Kollegin eine Nachricht hinterlassen, dass sie einen Herzinfarkt gehabt hätte und ich ganz schnell nach Hause kommen müsse."
Schmunzelnd sieht Tante Gab zu ihrer jüngeren Schwester, welche entschuldigend die Hände hebt. „Wie sonst hätte ich dich wieder nach hier bekommen sollen? Und jetzt ist es schon viel zu spät, um wieder zurück zu fahren, deshalb schlage ich vor, dass wir uns erst einmal in die Küche begeben und einen warmen Tee trinken, damit du dich aufwärmen kannst. Klingt das nach einem guten Plan?"
Auch wenn ich noch etwas wütend auf sie bin, nicke ich versöhnlich und folge ihr, mit Tante Gab am Arm, über die knarzenden Dielen in die gemütliche Küche.
Während Tante Gab und ich auf der langen Sitzbank mit den bunten Kissen Platz nehmen, nehme ich die Umgebung in mich auf. Alles sieht aus wie ich es kenne. Die Bilder, welche ich im Laufe meiner Schulzeit gemalt habe, hängen noch immer am Kühlschrank und die Bleistiftstriche, mit welchen wir jährlich an meinem Geburtstag meine Größe markierten, sind auch noch am Türrahmen der ,noch immer nur zur Hälfte in hellblau, gestrichenen Küche. Leise seufzend lehne ich mich gegen die Lehne. „Schön zu sehen, dass noch alles aussieht wie vorher."
„Was hast du denn erwartet? Dass wir beiden alten Frauen alles renovieren, während du weg bist? Dein Zimmer haben wir auch nicht verändert. Es sieht noch ganz genau so aus wie vor zwei Jahren, also kannst du auch in deinem Bett schlafen, was ich eben schon frisch bezogen habe."
„Naja, als ich ausgezogen bin hast du behauptet, dass du dir einen begehbaren Kleiderschrank aus meinem Zimmer machen wirst." Ich nehme einen Schluck meines Tees und werfe meiner Mutter einen vielsagenden Blick zu.
Tante Gab schnappt nach Luft. „Das hast du nicht wirklich zu ihr gesagt Alice. Wie kannst du nur?"
„Wir haben doch gar nichts verändert. Ich wusste ja, dass du wieder nach Hause kommst."
„Wow." Meine Augen verengen sich. „Ich werde nur bis morgen bleiben, das weißt du aber, oder? Ich habe einen Job."
Tante Gab legt ihre Hand auf meinen Arm. „Warte doch erst einmal bis morgen und dann kannst du ja wenigstens entscheiden, ob du nicht doch auch noch an Weihnachten vorbeikommst. Wir haben dich die letzten Jahre so sehr vermisst und es wäre wirklich schön, wenn du noch ein paar Tage bleiben würdest."
„Äh, es ist nicht ganz so einfach." Kurz zittert mein ganzer Körper und ich umklammere die Tasse fester. „Ich kann nicht einfach nicht zur Arbeit gehen, wie ich Lust habe. Da sind Menschen, die sich auf mich verlassen. Und nein", ich werfe meiner Mutter einen Blick zu, „ich meine nicht die Stammkunden, welche vorbeikommen."
Grinsend beißt sie sich auf die Lippe. „Ich hatte gar nicht vor etwas in die Richtung zu sagen."
-
Vorsichtig öffne ich die hellgrüne Tür zu meinem alten Kinderzimmer, welches ich schon seit so langer Zeit nicht mehr betreten habe. Meine Hände tasten nach den Lichtschalter für den Schneeflockenkronleuchter, welcher das Zimmer sofort in ein gemütliches Licht taucht. Alles sieht noch genauso aus, als hätte ich den Raum nur kurz für das Training verlassen und sogar die Bilderrahmen stehen noch am exakt gleichen Platz auf der Kommode vor dem Spiegel.
Langsam gehe ich auf das Bett zu und lasse mich darauf sinken. Wie konnte ich mein Bett und diese superweiche Matratze nur hier zurücklassen? Die Betonplatte, welche meine jetzige Matratze ist, ist ein Nichts dagegen. Ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, mich noch einmal ins Bad zu begeben, falle ich nach hinten, die Kissen umarmen mich sanft und es fühlt sich an, als würde ich von meinem Bett willkommen geheißen werden. Meine Augenlider werden immer schwerer und das letzte, an was ich mich erinnern kann, bevor ich vollkommen in die Traumwelt abdrifte, sind die kleinen Leuchtsternchen an der Zimmerdecke.
Noch 23 Tage bis Weihnachten.
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Crystal Christmas - Adventskalender 2020
RomanceWeihnachten zu Hause. Eigentlich könnte es nichts Schöneres geben, wenn die eigene Mutter einen nicht eiskalt für eine Spendengala wieder zurück auf das Eis schicken würde. Genau jenes, auf welchem man vor zwei Jahren einen Unfall hatte und seitdem...